»Niemand dringt hier durch
und gar mit der Botschaft eines Toten.
Du aber sitzt an deinem Fenster
und erträumst sie dir,
wenn der Abend kommt.«
(Eine kaiserliche Botschaft. Franz Kafka.)
In dem verstecktesten Winkel ihrer Zweizimmerwohnung, dort,
wo sich die durchgesessene Couchgarnitur in eine Ecke drückt,
sitzt Sunja und blättert durch einen Stapel alter Fotos, Briefe und
Postkarten, die ihre Familie ihr schickte und hinterließ,
Erinnerungen, die Sunja begraben hatte, weil sie ihr damals
fremd waren, und die nun wieder, exhumiert, auf ihrem Schoß
liegen, als der Wolf mit ihr spricht.
Sunja hält inne. Außer ihrem Atem hört sie nur den leichten
Regen, der gegen ihr Fenster klopft.
Sie schaut auf und sucht im Wohnzimmer nach der Stimme.
Doch da ist nichts, außer den alten Möbeln mit ihrem Geruch
nach Staub und Essig.
Stille.
Einbildung, denkt sie, Einbildung, wie so oft in diesen Räumen.
Sie will den Stapel weiter durchsehen, von dem obersten Foto
blickt ihre Mutter als junge Frau sie an, diese dürre Gestalt, der
sie nie ähnelte, nicht damals, nicht heute, daneben ein Baum, der
in dem Schwarzweiß des Bildes unscharf ist, aber vielleicht sieht
sie dort nur die Zeit auf dem Fotopapier wirken, denkt Sunja, auf
jeden Fall scheint es für sie so, als ob der Baum Federn statt
Früchte trüge. Mit dem Daumen strich sie bereits mehrmals über
die Stellen, nicht sicher, was sie damit bewirkt. (Nichts.)
Sie legt das Foto auf den Stapel neben sich, dreht es um, ihr sind
die Blicke der Toten unangenehm, und, über diesen Haufen an
Erinnerungen hinwegschreitend, steigt sie in das Revier des
Wolfs.
Sunja hält eine Postkarte in der Hand, eine billige Reproduktion
eines Gemäldes vom Anfang des 20. Jahrhunderts, so viel ist ihr
vom Studium der Kunstgeschichte geblieben, dass sie das
erkennt. Noch so eine Erinnerung, die Sunja vor langer Zeit
begrub. Auf der Karte das Rotkäppchen mit leuchtenden Wangen
und knubbeligen Fingern. Gehüllt in seinen Mantel, einen
verschlossenen Korb vor sich, füllt es fast die ganze Karte, hinter
sich nur der Wald, angedeutete Bäume, die Sunja kaum erkennt,
weil sie auch gar nicht hinschaut, nur Flecken im Hintergrund,
weil sie nur Augen für den Kopf hat, der da zu Füßen des
Rotkäppchens liegt.
Der Schädel, im Dunkel der Karte, in der letzten unteren Ecke,
halbverwest, die Ohren gespitzt, umrandet vom klumpigen Fell,
die Lefzen gebleckt, obwohl ja bereits tot, offensichtlich, denn der
Rest des Wolfs fehlt. Unter dem Kopf sammelt sich Blut, in der
Lache Flecken, die Sunja nicht genauer anschauen will. Maden
ziehen durch das Fell des Wolfkopfs, so viel sieht sie auf der Karte
noch, seine Augen bettelnd auf sie gerichtet. Und während Sunja
auf ihn starrt, nach Pinselstrichen sucht, blinzelt der Wolf mit
schweren Lidern.
Der Wolf erzählt Sunja, wie er einst nicht nur Kinder, sondern
ganze Dörfer verschlang, sein Maul weitaufgerissen, ein Hunger,
der kein Ende kannte, der vor der Sonne und dem Mond keinen
Halt machte, ein Vieh, das sich durch den Himmel und die Hölle
fraß, bevor es sich mit seinem fetten Bauch unter einen der
letzten Bäume legte, wo es im Schlaf ein Mädchen überraschte.
Ein Kind, das mit einem Stein den Bauch aufschlitzte, mit seinen
kalten Händen im Inneren wühlte und den Himmel und die
Hölle, Nieren und Leber, Dörfer und Menschen, Gedärme und
Milz herausriss und auf die mitternachtsschwarze Erde unter
dem Baum legte. All das erzählt der Wolf, während aus dem
Regen vor Sunjas Wohnung ein kaum hörbares Nieseln wird.
Und dann äußert der Wolf seine Bitte.
Sunja hört genau zu. Jedes Wort. Jede Silbe. Alles, was aus dem
verrottenden Maul kommt. Zuerst versteht sie nicht. Der Wolf
würgt kurz und Sunja fragt sich, ob ihm eine Made über die
Zunge in die Kehle kroch, aber was will so ein Kopf schon allein
gegen eine Made machen? Dann erinnert sich Sunja.
Sie erinnert sich an Thomasz, den Austauschstudenten, den
Mann, mit dem sie zum ersten Mal schlief, bei dem sie zum ersten
Mal an die Liebe glaubte. Die langen Nächte, in denen sie bei
einer Flasche Bordeaux in ihrer Studentenwohnung
zusammensaßen, die Gespräche über Gott und die Welt und wie
sie beide so darüber sprachen, als ginge sie nichts etwas an. Wie
Thomasz erzählte und sich dabei mit dem Daumennagel
zwischen den Zähnen kratzte.
Sie erinnert sich an einen Sommernachmittag mit ihren Eltern in
einer großen Stadt, in der ihr die Möglichkeiten endlos schienen,
obwohl sie erst elf Jahre alt war. Sunja sah in diesen Straßen die
Menschen, die lebten wie in den Serien im Fernsehen, Freunde,
Liebhaber, lange Abende in Bars und Restaurants, während an
einer Ecke jemand in seinem Erbrochenen saß.
Sie erinnert sich an ein Weihnachtsgedicht, das sie als Kind an
Heiligabend aufsagte, an ihr Stottern, obwohl nur ihre Eltern im
Wohnzimmer hockten, ihre Gesichter direkt vor ihr, und wie sie
nach der Bescherung am Tisch saßen und ihre Mutter die Haut
von der gebratenen Gans aß, weil dies der beste Teil des Vogels
sei.
Sie erinnert sich an einen Popsong, in dem es um verpasste
Entschuldigungen und zu Staub zerfallende Knochen geht, den sie so oft auf der Rückbank im Honda ihrer Eltern hörte,
während sie in den Sommerhimmel schaute und glaubte, dass sie
der Unendlichkeit nie näherkäme.
Sie erinnert sich an den Ohrfeige ihres Vaters, als er sie mit einer
Zigarette in ihrem Zimmer erwischte, danach rauchte sie nie
wieder.
Sie erinnert sich an die Hände ihres Vaters.
Sie erinnert sich an die leeren Augen ihrer Mutter, als sie im
Pflegeheim neben deren Bett stand, darin der Körper, der sie als
Kind so oft hielt.
Sie erinnert sich an die Tränen, während sie in ihrem Bett mit der
weißen Bettwäsche in dem weißen Raum lag, ihre Arme
bandagiert.
Sie erinnert sich an die brüchige Stimme ihres Bruders auf dem
Anrufbeantworter, der ihr erzählte, dass mit ihrem Vater etwas
passiert sei und sie unbedingt zurückrufen solle.
»Und?«, fragt der Wolf, der nach dem Würgen wieder zu Luft
kommt, obwohl ihm ja die Lunge fehlt. Sunja taucht auf. Sie
blickt dem Wolf in die Augen. Ihr Atem geht schnell, sie spürt
ihren Herzschlag im ganzen Körper. Sie nickt.
»So soll es sein.«
Sunja sitzt in der Küche. Ihre rechte Hand hat sie auf das
Holzbrett gelegt, in der linken Hand hält sie das Küchenmesser,
das, mit dem sie sonst das Geflügel für ihr Essen schneidet, aber
jetzt holt sie Luft und setzt das Messer an ihrem Handgelenk an.
Sie spürt die Kälte an ihrem Handgelenk. Das Messer liegt auf
ihrer Haut, zwischen Muttermalen und ersten Altersflecken.
Dann drückt sie zu.
Eine Klinge gleitet leicht.
Eine Klinge bewegt sich vor und zurück.
Eine Klinge trifft Hartes.
Eine Klinge schneidet durch das Harte. Mehrere Versuche.
Eine Klinge trifft wieder Hartes.
Eine Klinge gleitet, schneidet, sägt
Umständlich, schwer, aber sie sägt.
Mehr Kraft.
Mehr Rot. (So viel Rot, denkt Sunja.)
Dann gleitet die Klinge noch einmal kurz.
Durch.
Sunja laufen der Fleischsaft und das Blut über Kinn und die
verbliebene Hand, die ihr abgetrenntes Gegenstück hält, das
kaum noch zu erkennen ist, weil Sunja hungrig ist.
Den rechten Stumpf hat Sunja in ein Küchenhandtuch gewickelt
und notdürftig mit einem Gürtel abgebunden. Ihr läuft kalter
Schweiß über die Stirn, sie kann sich kaum auf dem Küchenstuhl
halten. Neben ihr der Stapel mit Postkarten und Briefen.
Ihr Blick verschwimmt.
Sunja rutscht vom Tisch ab, fegt den Stapel mit Briefen, Fotos
und Postkarten um, sie kann den Erinnerungen nicht mehr
folgen, sie kann nicht tiefer gehen, auf dem Boden alles ein
Haufen, der sie nicht mehr kümmert, alles Dinge, die ihr so egal,
so nichtig erscheinen, wenn sie an das schwarze Loch denkt, das
in ihr tobt, sich ausbreitet und alles mit sich nimmt, alle
Erinnerungen, alle Weihnachtsbäume, alle Liebe, alles Stottern,
alle Knochen, all den Tod, alles ins Dunkel mit sich reißt.
Vor dem Küchenfenster schiebt sich die Sonne durch die Wolken
und legt einen rostfarbenen Schleier auf die Welt. Zwischen
ihrem Stöhnen und den Schmerzen ist Sunja, als würde etwas
nahe ihres linken Ohres schmatzen.