Theobald O.J. Fuchs: Frühstück

Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Zeitung ist ein wichtiger Bestandteil des Frühstücks. Nicht der wichtigste, aber schon sehr wichtig. Aber die Zeitung kommt heute sehr spät. Durchs Küchenfenster sehe ich die Zeitungsfrau auf ihr Rad steigen und weiter fahren. Ich gehe hinaus, ziehe die Zeitung aus der grünen Plastikröhre, die außen an unserem Jägerzaun befestigt ist. Ich will schnell zurück ins Haus, weil das Frühstück wartet. Im Gehen werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen und bleibe überrascht stehen. Da steht: »Verdacht bestätigt – erster Todesfall seit 143 Jahren!«

Drinnen stehen für mich auf dem Küchentisch dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst bereit. Ich habe noch nicht einmal angefangen und will doch von allem essen. Von jeder Marmelade einen Löffel. Himbeere, Schlehe, Erdbeere, Zwetschge, Kirsche, Orange, Apfel, Rhabarber, Pfirsich, Johannisbeere, Quitte, Mandarine und Radieschen. Von jeder Wurst eine Scheibe: Bierschinken, Stadtwurst, Gelbwurst, Mettwurst, grobe Leberwurst, feine Leberwurst, kalte Bratwurst, Pfefferbeißer, Bauernseufzer, Räucherschinken und kalte Frikadelle. Immer nur diese Sorten, keine anderen. Und das jeden Tag.

Die Meldung in der Zeitung bringt mich aus dem Tritt, meine Routine ist unterbrochen, ich bin verwirrt. Seit einhundertdreiundvierzig Jahren ist das Rezept für die Unsterblichkeit bekannt. Sofort, nachdem die Formel für ein ewiges Leben bekannt wurde, begannen alle Menschen so zu leben wie die Wissenschaftler es rieten. Im Grunde war es ganz einfach, die Zutaten waren alle längst bekannt, jeder konnte sich einfach und billig mit dem notwendigen Zeug eindecken: Dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst. Jeden Morgen von jeder Sorte Marmelade einen Löffel, von jeder Wurst eine Scheibe. Dazu Kaffee oder Tee, was man eben bevorzugt, und ein Brötchen, kein Problem. Auch ein Ei oder ein Stückchen Käse – da gibt es keine Vorgaben. Hauptsache Marmelade und Wurst, in der richtigen Menge, die richtigen Sorten. Das Resultat: Unsterblichkeit.

Und nun das: Ein Todesfall, irgendwo in Kanada, in einem kleinen Dorf. Dort ist zum ersten Mal seit einhundertdreiundvierzig Jahren wieder ein Mensch gestorben. Schnell gehe ich ins Haus, setze mich an den Frühstückstisch, beginne Wurst und Marmelade zu essen. Immer abwechselnd, ein Löffel hiervon, eine Scheibe davon, dazu Kaffee und ein Bissen von der Semmel. Wie immer, wie jeden Tag. Wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Wie seit einhundertdreiundvierzig Jahren, jeden Tag. Immer dieselben dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst.

In der Zeitung steht, der Mann in Kanada ist gestorben, weil er keine Wurst mehr sehen konnte. Weil ihm die Marmelade zum Halse hinaushing. Weil er es nicht mehr ertragen hatte, jeden Tag dasselbe zu frühstücken. Seine letzten Worte hätten gelautet: »Ehe ich noch ein einziges Mal Gelbwurst und Rhabarbermarmelade auch nur anschaue, will ich lieber sterben.«

Das hat er nun davon, denke ich. Hätte sich halt nicht so anstellen brauchen. Selber schuld. Mir schmeckt’s jedenfalls. Mir schmeckt’s sehr gut, jeden Tag, immer dasselbe.
Weil: Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.

Untot in Gostenhof: (4) Serban zockt

Ida saß auf dem Sattel ihres schwarzen Damenrades und stützte sich mit einem Fuß an der wuchtigen Türschwelle des Gründerzeit-Wohnhauses ab. Es war Herbst, der Himmel hing graugelb wie Haferschleim über der Stadt, ein eisiger Wind blies durch die Straße und schleuderte eine Handvoll Regentropfen nach der anderen waagrecht gegen Passanten und Fensterscheiben. Auf dem Gepäckständer des Fahrrades war eine Banane festgeklemmt. Ida machte keine Anstalten, abzusteigen oder loszufahren. Stattdessen rauchte sie eine lange, dünne Zigarette in einer silbernen Zigarettenspitze. Ein kleiner Junge mit einem bunten Schulranzen auf dem Rücken bog um die Ecke und hüpfte auf die Türschwelle. 

»Hey, Alfons!« begrüßte Ida den Buben, der mit seiner Mutter und seiner Schwester im zweiten Stock wohnte. 

»Hey, Ida! Was machst du denn mit der Banane auf dem Fahrrad?« fragte der Junge. 

»Spezialdienstleistung: Lebensmittel ausliefern. Neuer Job. Ich halte gerade die Ruhezeit ein.« 

Sie blies einen Rauchring in die Luft. »Magst du schon mal hoch? Onkel Serban ist zu Hause. Er spielt bestimmt was mit dir, bis deine Mama nach Hause kommt.« 

In diesem Moment ertönte ein gedämpfter Klingelton. Ida begann, ihren rechten Arm zu schütteln. Rasch tauchte ein schwarzer Gegenstand im Bündchen ihrer schwarzen Lederjacke auf, und es dauerte nicht lange, da baumelte ein klobiger Telefonhörer an einem Spiralkabel aus dem Ärmel. 

»Lieferdienst Hotz & Partner … ja? … o.k., ich komme sofort!« 

»Muss du schon fort?« fragte Alfons. 

»Ich bin gleich bei euch! Ich muss nur schnell in die Südstadt, da braucht jemand in der Humboldtstraße dringend ein frisches Ei.« 

Ida streckte erneut ihren Arm aus und wackelte kurz mit dem Ellenbogen, woraufhin ein schneeweißes Hühnerei aus dem Ärmel in ihre Hand rutschte. 

»Ui!« sagte Alfons und machte große Augen. »Wie machst du das?«

»Übung, reine Übung!« grinste Ida und entblößte ein Paar nadelspitzer langer und schneeweißer Eckzähne. 

Sie klemmte das Ei vorsichtig neben die Banane unter den Metallbügel des altmodischen Gepäckträgers. Dann drückte sie die große schwarze Sonnenbrille fest auf ihre Nase und radelte los, während Alfons im Haus verschwand. 
Keine fünf Minuten später tauchte Ida wieder im Wohnzimmer ihrer Tante Mathilda und ihres Onkels Serban auf. Serban und die Nachbarkinder saßen auf dem Sofa und  starrten angestrengt nach oben zur Decke. Alle drei hatten eine messingfarbene Pfeife  im Mund stecken, in die sie mit aller Kraft hineinbliesen, aber kein Ton war zu hören. Oben, dicht unter der Stuckverzierung kreisten mit einem Affentempo drei Fledermäuse, die um die Wette flogen. 

»Na, ihr beiden! Spielt ihr wieder Fledermaus-Olympiade?« 

Onkel Serban spuckte die Ultraschall-Pfeife aus und schnappte geräuschvoll nach Luft. Sein großer runder Kopf glühte rot, wodurch seine weiße, in alle Richtungen abstehende Mähne besonders gut zur Geltung kam. 

»Genau! Diese kleinen Räuber hier haben mich zuvor schon beim Kirschkern-Spucken, bei ›Knochenmühle‹, Grabstein-Memory und beim ›Zombie, ärgere dich nicht!‹ besiegt!« 

»Und zwar zu Null!« jubelte Alfons‘ Schwester Emilie. 

In diesem Moment klingelte erneut das Telefon. Ida holte den Hörer aus dem Ärmel und nahm das Gespräch an: »Zwei Scheiben Salami? Scharf? Pferd – kein Problem! Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.« 

Sie sprang auf die Beine und schlang ein weites Tuch mit aufgedruckten Totenköpfen um ihren Kopf. 

»Lass mal Kind, ich mach das«, bestimmte Onkel Serban. »Leg du mal die Beine hoch!« 

»Aber Onkelchen! Ich bin noch gar nicht erschöpft! Den Lieferdienst habe ich doch erst heute morgen erfunden – « 

»Nichts da!« widersprach Serban energisch. »Ich bin quasi schon unterwegs!«

Er griff sich mit links und rechts hinter beide Ohren und zog jeweils eine Scheibe Salami hervor. Dann rief er »Tschü-üüs!« und machte einen Salto aus dem Fenster. 

»Na gut«, sagte Ida, »dann zock eben ich mit euch weiter. Der liebe Serban hofft doch nur darauf, dass ihm der Kunde einen Schnaps ausgibt. Was haltet ihr von einer Runde Phantom-Poker mit den Spinnen auf dem Dachboden?«


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Alfons: Benedikt
Emilie: Emma

Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber

Theobald O.J. Fuchs: Haarflugzeug

Es war einer jener Träume, die sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis einprägten. Der Traum war so eindrücklich und gefühlsdurchsaftet, dass ich heute noch, zwanzig Jahre später, das Bild verlustfrei vor meinem inneren Auge dekomprimieren kann. Das Bild vom Haarflugzeug. Die beiden Flügel dieser Maschine sind komplett von Haaren bedeckt. Dickes, weiches, ungefähr schulterlanges Haar, das als Antrieb dient. Der Pilot kann das Fell in eine wellig-windende Bewegung versetzen, ähnlich wie das Wogen eines Kornfeldes oder einer jener Wiesen, wie es sie früher gab, als seltener gemäht wurde und das Gras höher wachsen durfte als erlaubt war, wenn der Wind mit dicken Backen darüber pustete. Nur dass in meinem Traum die wiegende Bewegung aus dem Inneren der Haare kommt und den Wind erzeugt, der das Flugzeug vorwärts treibt.

Der Rest des Flugzeugs ist unwahrscheinlich filigran gebaut, aus unsäglich dünnen Röhrchen, wie Getreidehalme aus Molybdänstahl, Niob oder einem vergleichbaren Zaubermetall. Der Pilot kauert in einer Glaskugel, die zwischen den Flügeln hängt, er trägt eine altmodische Ledermontur mit Lederhelm und monströser Fliegerbrille, aus deren Gläsern man Suppe löffeln könnte.

Irgendwo müsste ich noch eine Zeichnung von dem Flugzeug haben, die ich damals anfertigte, unmittelbar nachdem ich erwacht war. Erst wollte ich danach suchen, doch dann änderte ich meine Meinung. Bis ich mich durch die Stapel von losen Papieren, Notizbüchern und Kladden gewühlt und die Zeichnung mit viel Glück gefunden hätte, würden Wochen vergehen. Es ist eine der schönsten Seiten des Schreibens, dass man sich nicht an die Regeln der Wirklichkeit halten muss. Ich muss die Zeichnung nicht finden, um behaupten zu können, dass es sie gibt. Vielleicht lüge ich auch und habe sogar nach dem Fetzen Papier gesucht und ihn gefunden, aber nichts zwingt mich, das hier hinzuschreiben.

Ich frage mich natürlich, warum das Flugzeug so filigran war, und warum ich dachte, ein Büschel Haare auf dem Flügel genügte, um sich leichtenst in die Luft zu erheben. Dabei war es kein Kindertraum, keine Kindheitsidee. Als ich noch klein war, sah die Welt ganz anders aus, voller riesiger Dinge. Riesige Möbel, riesige Menschen, riesige Häuser, riesige Flugzeuge. Und alle Menschen hatten schrecklich lange Haare, so lange, dass man sich aus einem einzelnen Haar und den vier Beinen des Küchentisches eine Flechthütte basteln konnte.

Doch dann wuchs ich und wurde selbst größer, während die Dinge kleiner wurden. Irgendwann musste ich nicht mehr aufs Sofa klettern, sondern ließ mich einfach darauf nieder. Irgendwann schwebte die Türklinke nicht mehr hoch über meinem Kopf, sondern ließ sich mit der lässig ausgestreckten Hand hinunterdrücken. Sogar das Auto war irgendwann ein Ding, das auch ich steuern durfte, weil ich übers Lenkrad schauen konnte.

Nicht lange danach jedoch wurden die Dinge wieder größer, und zwar in Wirklichkeit. Die Häuser, die Flugzeuge, die Möbel – alles wurde immer größer und wird auch heute noch jeden Tag größer. Die Teller und Tassen im Gasthaus sind jetzt größer, die Jacken und Hosen sind größer, die Menschen selbst werden immer dicker und größer. So wie die Autos, die Fernsehapparate, die Katzen, die Turnschuhe, die Brillengestelle. Das ist der Kapitalismus, der muss ständig wachsen, sonst geht es ihm schlecht.

Für mich ist der Kapitalismus wie ein kleiner Hund, den du in dein Haus aufnimmst. Du fütterst den keinen süßen Kerl sorgfältig und liebevoll und er wächst und gedeiht, aber dann will er nicht mehr aufhören zu wachsen. Er wird größer und größer bis er das ganze Haus vom Keller bis unters Dach ausfüllt. So fest ist er da hinein gequetscht, dass da in keiner Spalte mehr Luft ist, kein leerer Winkel, kein heimlicher Hohlraum mehr übrig bleibt. Die Augen des Hundes drückt es aus den beiden Fenstern im ersten Stock, sie quellen aus den Fenstern und aus dem Kopf hinaus, dann explodiert der Hund. So ist der Kapitalismus. Er kann nicht aufhören zu wachsen, bis er explodiert. Das Haus ist danach natürlich kaputt.

Nur Haare, die müssten irgendwann aufhören zu wachsen. Weil sie nicht explodieren können. Sie sterben einfach und schweben ganz sanft auf die Erde.

Theobald O.J. Fuchs: Magie

Wir fahren alle Schritt, Kinder winken freundlichen Fahrern zu, freundliche Fahrer lächeln, die Sonne scheint, alle haben Lust auf ein Eis.
Zauberhafte Raststättenwelt. Vier Euro für einen Espresso sind nicht zu viel verlangt, in der Kapelle kann man so herrlich zur Ruhe kommen. Gymnastik ist wichtig, keine Minute davon ist vergeudete Zeit.
Die schöne Plastikrutsche, voll bunt, toll für die Kinder. Schade dass sie nicht ins Auto passt.
Niemand ist zu laut, niemand zu schnell, wir stehen gerne an, hier ist auch kein Bargeld notwendig. Hier macht das Leben eine Pause, legt sogar die Hektik die Füße hoch. Wir alle machen jetzt eine schöne Pause.
Ein schwarzer Opa macht die Klos sauber, er hat das große Los gezogen, global gesehen. Ich krieg einen exklusiven Sanifair-Bon, mit dem ich tolle Angebote kaufen kann. Die gibt’s nur hier, exklusiv für uns, die Pisser, die beim Pissen Werbung auf einem kleinen Monitor über der Pissmuschel schauen dürfen, alles wohlverdient. Nur 70 Cent fürs Pissen, davon bekomme ich sogar 50 wieder zurück, geil!
Ein Teller Nudeln, ein kleines Bier für die Großen, für das Kind ein Deutschlandtier aus Stoff.
Alle sind glücklich, auch die Menschen, die hier arbeiten dürfen, weil strukturschwache Gegend. Nur Windräder außen ringsherum, und als extra Plus dürfen die Angestellten auf einem Waldweg zur Raststätte fahren. Einfach rein, Unbefugte verboten. Was für ein Privileg!
Deswegen lächeln sie alle und sind hellwach beim Bedienen, beim Mich-bedienen, früh um halb vier neben der Autobahn. Davon haben sie früher alle geträumt und jetzt ist es wahr geworden.
So wie wenn die Fee wem einen Wunsch erfüllt. Irgendwie magisch und so.

Theobald O.J. Fuchs: Ekstase

Wir standen unter dem großen Thermometer, das einer Siegessäule gleichend wie in jeder anderen Stadt auf der Erde mitten auf dem Marktplatz errichtet war.
Ein Raunen ging durch die Menge, als der Bürgermeister endlich anfing, rückwärts zu
zählen. Die Menschen hatten stundenlang, tagelang geduldig in der schattenlosen Hitze ausgeharrt, splitternackt, schweißüberströmt, Tücher und Schirme über die Köpfe haltend.
»Zehn, neun, acht«, klirrte die Stimme aus dem blechernen Trichter.
Die Spannung wurde unerträglich, der Menschengestank gerann zu Flocken wie Milch wenn du Zitronensaft hinein tropfst. Sogar die Mücken, die wie eine graue Wolke über dem Platz schwebten, schienen den Atem anzuhalten.
»Drei, zwei, eins…«
Dann war es soweit. Die rote Flüssigkeit, die in dem gläsernen Zylinder mehrere
Stockwerke hoch stand, fing an zu flimmern.
Die obere Kante, die auf der Skala bis zur 55-Gradmarke reichte, wackelte. Dann sank zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Temperatur.
Der Trick, den sich die Wissenschaftler in letzter Sekunde ausgedacht hatten, funktionierte: die Welt war gerettet.
Wir brüllen und tanzten, schrien, lachten, sprangen und weinten.
Freude grenzenlos, Ekstase total.
Nach einer Viertelstunde sagte dann der erste: »Mir wird’s langsam zu kalt.«

Theobald O.J. Fuchs: Waldlagebericht

Während die Lage bei den Räubern seit Jahren stabil ist, stellen die Jäger für Anlieger wie Forstwirte unvermindert ein ernstes Problem dar. Insbesondere zur Balzzeit im Frühjahr durchbrechen immer wieder einzelne Exemplare den Jägerschutzzaun und durchwühlen Schuppen, Garagen und Altglascontainer nach Schnapsresten und Baumaterialien für den rituellen Hochstand. Eine vertrauliche Studie des Ministeriums für Bildungsbürger, Illusionisten und Märchen prognostiziert, dass alleine in Süddeutschland jährlich ein Schaden von neun Festmillimetern entsteht. Eine beachtliche Menge Unterholz also.
Die Dunkelziffern sind hoch wie nie, weil sich viele Geschädigte aus Scham oder auf Grund von tödlichen Verletzungen weigern, bei der Polizei Meldung zu erstatten. Die Waldforschung steckt tiefer denn je in der demoskopischen Krise, so dass allen Anstrengungen zum Trotz bis heute nicht zuverlässig ermittelt wurde, wie viele Jäger genau sich in deutschen Forsten versteckt halten. Mehr als ein Drittel aller bayerischen Wälder sind schlechter erforscht als die Rückseite des Mondes, wie der Städte- und Gebrüder-Grimm-Tag alljährlich anprangert.
Die Population der Frauenmörder scheint sich hingegen auf einem niedrigen Niveau eingependelt zu haben. Stand vor 20 Jahren noch hinter jedem zweiten Baum ein Sexualstraftäter, der nach Einbruch der Dunkelheit auf alleine im Wald spazierende Frauen wartete, so dürfte es heute schätzungsweise nur hinter einem von zehn sein. Experten sind sich weitestgehend darin einig, dass sich die meisten  Sittlichkeitsverbrecher schlicht gegenseitig umbrachten. Irrtümlich freilich, wie das in überbevölkerten Habitaten des Öfteren vorkommt.
Als angespannt, wenn nicht kritisch gilt nach wie vor die Situation bei den Werwölfen. Zahlreiche Berichte über Schwarzschlachtungen wurden zwar bisher in keinem einzigen Fall offiziell bestätigt. Andererseits liegen die Zeugenaussagen verschiedener Rehe und Wildschweine vor, die nur knapp dem Angriff eines verwilderten Werwolfs entkommen konnten. Hierbei kann die Beurteilung der Lage nicht unabhängig vom Hexen-Vorkommen geschehen. Als natürliche Kulturfolger sind Untote, Wiedergänger und andere Teufelsbündprinzipiell im Umfeld von Hexen-Populationen zu finden, die wiederum schon vor Jahren von der UNESCO auf die rote Liste des aussterbenden Schauermärchenpersonals gesetzt wurden.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: unabhängig voneinander ist es den Schutzverbänden im Sächsischen Ostzaubererzgebirge als auch im tiefen, tiefen Bayerischen Wald gelungen, Zigeuner-Sippen erfolgreich auszuwildern. Gerade bei den Sommertouristen ist die Beobachtung eines Lagers des »fahrenden Volkes« tief im Wald während der frühen Abendstunden, das sogenannte »gypsy watching« zur beliebten Attraktion avanciert. So gibt es mittlerweile diverse Anbieter, die mit Dämmertouren und garantierter Sichtung eines Stammeshäuptlings werben. Prospekte zeigen unscharfe, mit Restlichtverstärker geschossene Aufnahmen, auf denen jüngere Männchen und Weibchen in scheinbar grünlichen, vermutlich aber farbenfrohen Kostümen um ein Lagerfeuer tanzen. Vereinzelt werde selbst Wahrsagerei wieder in der freien Wildbahn beobachtet. Der sächsische Landesverband für Mittelalterpflege erklärte, dieser Erfolg sei ein ermutigendes Zeichen für die in nächster Zeit geplante Wiederansiedlung des gemeinen Gauklers, des trügerischen Quacksalbers, des Landsknechts sowie des nostalgischen Zonengrenzsoldaten.
Doch abgesehen von diesen sicherlich beachtlichen Fortschritten, herrscht insgesamt die Besorgnis vor, dass spätestens unsere Enkel keine Chance mehr haben werden, im Deutschen Wald ordentlich ausgeraubt, verhext oder erschossen zu werden. Es fehle, so der Sprecher des Landesverbandes, nach wie vor der politische Wille, ausreichend Kinder im finsteren Wald auszusetzen. Dies würde, wie auch in ähnlich gearteten Fällen, stets mit begrenzten personellen Ressourcen begründet. Alleine im Landesbezirk Oberpfalz, der für den bayerischen Wald diesseits der tschechischen Grenze verantwortlich ist, sind seit Jahren gut ein Dutzend Planstellen für böse Schwiegermütter unbesetzt, lediglich ein buckliger Eremit, ein Däumling und zwei Gnome sind für das gesamte Gebiet zuständig. Der Dämon »Nachwuchsmangel« schlägt auch hier gnadenlos zu. Die alte Weisheit, dass, was das Teufelchen nicht lernt, auch der Satan nimmermehr lernt, ist unverändert gültig. Als weitere Ursache nennen die Experten einstimmig den besorgniserregenden Rückgang verarmter Holzfällerfamilien mit Stiefmutterhintergrund.
Eine Stellungnahme des Bundesverbandes der Gehenkten zum Thema nachhaltiger Ansiedlung von Gespenstern lag bis Redaktionsschluss leider nicht vor. Die Geschäftsstelle des BdG ist derzeit wegen eines Trauerfalls vorübergehend nicht besetzt. Eventuell aber auch bis in alle Ewigkeit.

Theobald O.J. Fuchs: Noisette

Noisette mochte ich ehrlich gesagt noch nie. Wozu man Schokolade mit Nüssen streckt leuchtet mir überhaupt nicht ein. Das muss so ein Nachkriegseffekt sein, als man Sägespäne ins Brot und Eicheln in den Kaffee mischte. Als ob es heute noch bei der Hofpfisterei ein Brot namens »Dreispan-Gesundheits-Holzbrot« gäbe. Oder beim ebl »Kaffichel – die Köstlichkeit aus dem Thüringer Wald nach Großmutters Original-Rezept«. Nutella geht ja schon gar nicht, wegen Anbaugebieten und Regenwaldabholzung. Dann maximal Nusspli, aber echt nur in höchster Not, wenn man kurz vorm Koma im Unter-Kakao steckt. Aber auch das nicht wirklich. Ausnahme: Nougat-Schokolade. Die mag ich manchmal sogar. Besser freilich in Form von Pralinés, da würde ich die nicht von der Tischkante schubsen. Aber Noisette – ne, das ist einfach nur doof. Das ist wie Bier ohne Alkohol, das ist Früchtetee und Ersatzkäse, das ist eklig. In echter Schokolade, in einer mit Brusthaaren, da sind keine Nüsse drin, da ist Kakao drin, so viel Kakao wie möglich, am besten 100% Kakao und sonst nix, und die Tafel ist schwarz wie die Nacht. Sonst würden die Cieneasten ja auch von »Film-Noisette« sprechen und nicht von … o, scheiße. Noir. Noir war das Thema gewesen und nicht Noisette. Mist. Verwechsel ich ständig: Noisette, Noir. Zu spät jetzt, oder …?

Theobald O.J. Fuchs: Das Diätdiktat

Mir war das vorher so klar nicht gewesen. Dass ich als Amtsträger so viel verdienen würde. Als berufsmäßiges Mitglied des Vorstandsunterausschusses einer nachgeordneten Behörde. Drei Sitzungen im Monat hatte ich abzuleisten, gut: ich hatte einige Papiere zu lesen, was aber letztlich niemand überprüfte, und es gab diese Koordinationstreffen mit anderen Stellvertretern im benachbarten Unterausschuss – bloß hatte ich da noch nie teilgenommen, hatte mich bisher irgendwie nicht überwinden können, hatte mir lieber ein Attest besorgt, das ging ganz einfach. Dass es so abartig viel Geld für diese Arbeit geben würde, haute mich anfangs echt von den Socken. Inzwischen wird mir nicht mehr schwarz vor Augen, wenn ich die Summe auf meinem Kontoauszug sehe, aber einfachen Leuten, die das nicht gewohnt sind, empfehle ich immer, nur eine Ziffer einzeln eine nach der anderen mit einer ausreichenden Pause dazwischen zu lesen. Es verringert das Risiko, dass mir einer umkippt. Dann kam es natürlich wie es kommen musste. Ich hatte zu viel Penunzen und kaufte völlig unkontrolliert den totalen Schrott ein. Weil ich es konnte. Ein Videorekorder musste her – obwohl die gar nicht mehr hergestellt werden –, ein Roboter-Hund, der selbstständig Gassi geht und autonom nach kleinen Kindern schnappt, eine Glitzertapete im Badezimmer – echter Glitzer natürlich, nicht das Zeug, das sie in China in Tütensuppen mischen –, ein neuer Schuh für meine Frau. Den zweiten gab’s dann Weihnachten. Bis dahin ging’s barfuß, sie hat ja zwei gesunde Füße, sagte ich ihr immer! So weit, so alles gut, dachte ich. Doch: Ba-dong! Irgendwann ertappte ich mich dabei, als ich gerade den Aludeckel vom elften Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt riss, dass ich dachte: Kann ich mir eigentlich noch ein Leben ohne dieses Pfirsich-MaracujaSardelle-Mango-Joghurt vorstellen? Da wurde mir schlagartig klar: Ich bin süchtig nach dem Zeug. Denn das weiß jedes Kind: sobald man darüber nachdenkt, ob man süchtig ist, ist man süchtig. Je, nun? überlegte ich, was ein schönes Schlamassel, mit allem drum und dran: Co-Sucht der Frau; Beschaffungskriminalität, da ich verboten hohe Trinkgelder an der Kasse im Supermarkt verteilte – die Angestellten dort hatten schon gar keine Lust mehr, die anderen, armen Kunden zu bedienen, weil ich knallhart alle Sympathien abräumte wie eine Eichkatze, dicker Geldbeutel schlägt Herzsticht, da sind sich alle einig! –; und freilich enge bis engste Hosen im Leoparden- und Tiger-Style, in denen sich mein eingezwängter Wurstkessel wund rieb. Oft lagen im Foyer unserer XXL-Villa im Coq-au-vin-Style Berge leer gefressener Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurtbecher, zwischen denen wilde Esel, Turm-Kraniche und Mittelgebirgs-Feuermolche wühlten, auch sie Opfer einer unbeherrschbaren Lust auf Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango. Ökologischer Fußabdruck: riesenscheiße. Der Tiefpunkt kam, als ich die Kontrolle über mich selbst verlor. Mein Diener stellte mir eines Morgens das goldene Tablett mit dem Becher ans Bett, machte zwei Schritte zurück, um in der Ecke demütig zu warten, wie wohl mein nächster Befehl lauten mochte. Obschon der natürlich alle Tage und immer wieder gleich lautete und nichts anderes anordnete als »noch eines!«. Schluck, schluck, würg! Kaum hatte ich den Löffel aus Rohseide und Mondsilber zum Munde geführt, überfiel mich ausgedehnter Ekel und kerzengerader Abscheu: Das war kein Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt, was da widerlich klebrig im billigen Kunstplastik-Becher schwappte! Es war minderwertiges Pfirsich-Banane-Sardelle-MangoJoghurt! Das kotzt die Maus! Ich spie aus. Warf dem Diener harte Worte an den Kopf, das Tablett hinaus zum Fenster, wo es die gläserne Voliere für die fliegenden Nacktschnecken traf und verkratzte! Absolut nicht nice! Ich begriff: Entweder ich änderte mein Leben – jetzt, sofort, auf der Stelle, bei Neumond – oder ich würde an Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango zu Grunde gehen. Nur noch eine laser-gründliche Diät konnte mich retten. Ich trat sofort an, und eingedenk der bekannten Weisheit, dass man am meisten schafft, wenn man sich total überlastet, beschloss ich komplett auf alles zu fasten. Fristlos begann ich zu verzichten auf Fleisch und Butter, auf Käse und Wurst, auf Kaffee und Alkohol, auf Brot und Milch, auf Eier, Tee, Heroin, Crack, Napalm, Zigaretten, Speisehund und LeckElfenbein. Sowie selbstverständlich auf Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt. Ich wurde der krasseste Njet-Mann ever! Die Wirkung setzte umgehend ein, keine elf Sekunden musste ich warten, schon packten mich die schlimmsten Entzugserscheinungen. Mein Verstand ritt auf einem Röntgenstrahl hinüber in dieses Land, wo Spiralnebel an den Bäumen wachsen. Ich fühlte mich wie ein Teller Kartoffelbrei in der Waschmaschine. Die Zeit dehnte sich ganz unwahrscheinlich in die Länge, draußen in der Welt, die direkt vor meiner Nase begann, treiben Menschen, Gegenstände und Blätter in Zeitlupe durch mein Bio-Objektiv, beim Anblick von einem Stuhl überlegte ich, ob sich nicht vielleicht alle Menschen auf der ganzen Welt bisher getäuscht haben und Möbel doch essbar seien. Ich hoffte auf Regen, das Nachzählen der Tropfen würde mich ablenken. In fast den gleichen Worten: beinahe wurde ich verrückt. Doch dank meines immensen Einkommens als hoffnungslos überbezahltem Entscheidungsverhinderer gelang es mir, durchzuhalten. Ich kaufte mir einfach ein halbes Dutzend Diätassistentinnen im nächsten Diätzubehörladen. Bullige Typen waren das, die Diätassistentinnen, trapezförmige Oberkörper, quadratische Sonnensegel vor der Fresse, am Boden derselben getönte dreifache Zahnreihen. Prachtvolle Kerle, die mein sowieso schon fiebriges Gemüt weiter erhitzten, so dass ich schlussendlich hinein geriet in ihn – den finalen Fastenkoller! Aber meine Diätassistentinnen hauten mir, natürlich nur gegen extra Bezahlung, jedes Mal eine aufs Maul, wenn ich an Pfirsich, Maracuja, Sardelle oder auch nur Mango dachte. Ich bekämpfte und überwand solcherweise sämtliche meine Bedürfnisse so erfolgreich und glorios, dass mir am Ende nur noch eine einzige lästerliche Gewohnheit blieb, die mir in den Orkus zu komplementieren der rumpelnde Bestieg des höchsten Storchennests im Bistum bedeutete; nämlich zu notieren, wie alles…

Theobald O.J. Fuchs: Walezählen

Wie jede gute Tiergeschichte handelt auch die folgende von Menschen. Doch keine Sorge. Kein Tier wird vernachlässigt oder verschwiegen werden. Jedenfalls, solange es sich um Wale handelt. Denn worum geht es? Es geht um den gefährlichsten Beruf der Welt, den Walzähler.
Pausenlos sind sie unterwegs, die Walzähler, auf hoher See, durch Sturm und Eis, zick und zack über Atlantik, Pazifik und Bodensee – und zählen Wale. Von Montag bis Freitag zwischen 9 und 18 Uhr (außer an Feiertagen) durchpflügen die Schiffe der Walzählerflotte die Weltmeere, unbeirrbar einem großen Ziele folgend: der vollständigen Erfassung und Befragung aller lebenden Wale.
Der Walzähler steht am Bug des Zählschiffes. Klar erkennbar im gelben Ölzeug und stets bereit, dem Wal den Stempel an den Kopf zu schleudern, den Hebel des Walzählapparates herum zu reißen und abschließend dem Wal noch ein paar Fragen zu Herkunft und Werdegang zu stellen.
Die Stempelharpune unter den Arm geklemmt, in der linken Hand das Klemmbrett, in der rechten den Kugelschreiber mit original Oktopus-Tinte, mit einem Sturmband um den Hals gesichert, so stellen leider bis heute viele populäre Darstellungen den Walzähler bei der Ausübung seines Berufes dar. Und entsprechen dabei auch noch absolut der Wahrheit.
»Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« lautet die finale und wichtigste Frage eines Walzählers an den Wal. Doch nur wenige kommen je soweit. Eine falsche Bewegung, eine dumme Frage, und sowohl das Leben des Walzählers mitsamt Formblatt ist keinen Walpups mehr wert. Obwohl dieser immerhin den gleichen Brennwert wie zwei Kubikdezimeter Stadtgas hat.
Sagen und Legenden ranken sich seit unvordenklichen Zeiten um diesen Beruf. So wird mit Sicherheit jeden Abend irgendwo auf der Welt in einer Hafenkneipe die Geschichte vom schwarzen Wal zum Besten gegeben.
Der schwarze Wal, so munkelt und runkelt man nämlich, war einer der hartnäckigsten Antwortenverweigerer, die je einen Ozean mit der Schwanzflosse aufpeitschten. Er schlich sich jeden Frühling ins Mittelmeer ein, ohne sich zählen zu lassen. Dabei lauerte an der Straße von Gibraltar ein Großteil der mächtigen europäischen Walzählerflotte, die kühnsten Walzähler an Bord, ausgerüstet mit dem modernsten technischen Klingeling – und dennoch: der schwarze Wal wurde erst nach über fünfzehn Jahren gnadenlosen Stalkings in der Nähe von Alexandria von einem philippinischen Zähler gestempelt und entkam dann nach der dritten Frage …
Oder die inzwischen zum Kult avancierten Anekdoten über den Schlau-Wal – wer kennt sie nicht? Er antwortete stets mit einer Gegenfrage, niemandem gelang es, ihm eine persönliche Auskunft zu entlocken. Zeit seines Lebens brachte keiner seinen Namen in Erfahrung, weder seine Reisepläne für den nächsten Sommer, noch seine monatlichen Ausgaben für Krill und Musik-Kassetten (Die besten Walgesänge der siebziger, achtziger und neunziger Jahre).
Natürlich darf auch der Einfaltspinsel von Walzähler nicht unerwähnt bleiben, der Ende der 1970er Jahre über eine Stunde lang ein sowjetisches Atom-U-Boot befragte. Schließlich entstieg der Kapitän dem Turmluk und drohte dem unglücklichen Zähler mit einer Dachterrasse wegen Spionage. Und das, obwohl der Fragebogen noch komplett leer war …
Anfänger der Walzählerei schaffen es selten, mehr als vier oder fünf Antworten zu bekommen. Alter, Geburtsort und Familienstand, das Reiseziel, konfessionelle Vorlieben und die bevorzugte Marke der Bartenputzpaste – das war’s in den meisten Fällen dann auch. Dann haben die Wale die Schnauze voll und tauchen ab.
Unvergessen bleiben deswegen die wahnsinnig komischen Verwicklungen, welche die berühmt-berüchtigten Zwillingswale Marianne und Michael im Nordpazifik anrichteten. Ewigen Ruhm verdienten sich schließlich die Bezwinger dieses japanischen Walduos, das lange Jahre scheinbar nach Belieben die Walzählerzunft nach Finne und Flosse foppte. Solange, bis die Zunft den Spieß umdrehte und ein Drillingspack Walzähler anheuerte. Zu dritt legten diese die Walzwillinge aufs Kreuz, fragten sie erbarmungslos bis zur letzten Antwort aus und verpassten beiden die volle Salve von drei Stempeln, mitten auf den Rüssel.
Es mag heute kaum noch vorstellbar sein, aber vor dreißig Jahren stand der Beruf des Walzählers kurz vor dem Aussterben. Das lag vor allem daran, dass das Interesse des Publikums stark gelassen hatte. Ende der 1970er Jahre waren nur noch zwei Männchen und ein Weibchen übrig geblieben. Von diesen stammt die gesamte heutige Walzähler-Population ab, die sich mittlerweile wieder auf eine stabile Stärke von weltweit etwa 5.000 Exemplaren eingependelt hat.
Das Zuchtprogramm des World Whale Count Fonds WWCF war beispiellos erfolgreich. Der einzige Kritikpunkt mag bei genauerer Betrachtung überhaupt nicht als problematisch gesehen werden: rund die Hälfte der Wahlzähler, die heute den Planeten bevölkern, stößt beim Sprechen mit der Zunge an. Insbesondere tragisch, da im Fragebogen besonders viele »s« -Laute enthalten sind. Diese ganz besondere – und ein Stück weit irgendwie auch niedliche Eigenschaft – hat ihren Ursprung im Genom des einen Stammvaters der modernen Walzähler.
Wissenschaftler hatten zwar von Anfang an darauf hingewiesen, dass das betroffene Männchen während seiner gesamten Walzählerlaufbahn lispelte, daher von den Walen nicht ernst genommen, sondern gehänselt, gemobbt und ausgelacht wurde, ehe die Riesensäuger das Interesse verloren und den vertikalen Abgang machten, ohne sich zu entschuldigen. Dennoch gab es keine Alternative als auch dieses Walzähler-Männchen ins Zuchtprogramm aufzunehmen.
Die Gattung der Verkehrsunfallmaler ist bekanntlich vor einigen Jahren endgültig ausgestorben – allen Bemühungen des internationalen Programms zum Schutz bedrohter Berufsarten zum Trotz. Der Bestand der Walzählerei jedoch scheint heute gesichert. Ein großer Erfolg des Berufsartenzuchtprogramms, der den – viel zu vielen – anderen bedrohten Lohnerwerben wie Tunnelblickmechaniker oder Schwalbennestvergolder Mut und Hoffnung schenken kann und wird!