Angelina Roth: Szenen einer Sucht

Ich gehe zum Bahnhof
und kaufe eine Zeitung am Kiosk,
als wäre nie etwas gewesen.
Ich fühle mich wie ein Junkie,
der jetzt clean ist
und an der Heroin-Abgabe vorbeifährt
schön frisiert, mit neuem Leben,
der Tochter über den Kopf streicht.

Durchsagen dröhnen durch den Lautsprecher
und vermitteln dieses unbeschreibliche Gefühl:
Einfach einsteigen und wegfahren.
Hinter dem Abteil liegt der Flughafen
und dahinter das Meer.
Check-in, check-out,
so schlug mein Puls,
Berlin, New York, Kapstadt.
Bis ich eines Tages aufwachte,
und nur noch schrie.
Ich wollte bleiben,
stornierte meine Reisen,
legte mich auf den Boden,
und wartete bis der Teufel meinen Körper verlassen hatte.

Seitdem ist der Bahnhof für mich kein Tor zum Glück mehr.
Er ist ein Gebäude wie jedes andere auch.
Ich hole mir ein Stück Kuchen
und schwelge in dem guten Gefühl, frei zu sein.

Ich brauche dich nicht mehr,
schreie ich leise gegen das Gemäuer,
spaziere zwischen den Shops hindurch
Hand in Hand mit meiner Sehnsucht
Heute sind wir Freunde – vorbei die Zeiten,
in denen wir uns zerstörerisch geliebt haben.
Unsere Finger ineinander verhakt,
gehen wir Richtung Gleise.

“Schau”, sage ich, “hier musste ich früher hin,
um mich lebendig zu fühlen.”
Heute sehe ich den anderen zu,
wie sie zu den Zügen hasten
und lächle über ihren Zwang.

Die Sehnsucht bleibt stehen
und schaut mir tief in die Augen
Sie zieht mich näher an sich heran.
“Du weißt doch, dass wir das lassen wollten”,
sage ich gestresst.

Sie hebt ihre Finger an meine Wange
und streicht sanft darüber.
“Aufhören”, fauche ich und versuche, sie wegzustoßen.
Sie kommt noch näher und ihre Lippen
berühren fast mein Gesicht.
Ich spüre ihren Atem und erinnere mich
an unsere verhängnisvollen Nächte.

Eine Sekunde und ihre Lippen berühren meine,
weich, fordernd, erobern sie sie mühelos.
Ich werfe alles über Bord und drücke mich gegen sie.
Die Sehnsucht umarmt mich noch heftiger
und flüstert mir atemlos ins Ohr:
“Lass uns abhauen von hier,
ein Wochenende, nur du und ich”,
und zieht mich zu den Gleisen.

Michael Schmidt: Workaholic

Die von der Sucht droben werden mit der Corona viel zu tun kriegen. Haben ja alle jetzt viel genug Zeit gehabt, um daheim zu hocken und eine Flasche nach der anderen runterzulassen. Im Neudeutschen: Home Office. Und da läuft’s halt umso geschmierter, wenn die Promille stimmt. Und der Chef wundert sich, warum auf einmal sämtliche Mitarbeiter, die vorher kein Wort herausgebracht haben, mit Schnapsideen kommen, als ob sie der Daniel Düsentrieb selber wären. So manch einer hat in der Zeit sogar ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Unser Nachbar ja auch. Letzt‘s Mal im Supermarkt hab ich ihn drauf angesprochen. Sagt er, er sagt’s mir ganz ehrlich: Er tät gar nicht mehr wissen, worum’s in seinem Buch eigentlich geht. Aber signiert hat er mir’s trotzdem noch spontan. Dafür hab ich ihm auch die Flasche Korn übernommen. Sag ich: Legen Sie die einfach bei mir auf’s Kassenband. Das war ja das Mindeste, wie ich mich bei dem Mann hab bedanken können. Und dann ist er wieder zu sich heim. Hat ja wieder ins Home Office müssen. Aber ich denk, irgendwann muss auch der hinauf in die Sucht. Und dann ist’s nicht mehr lustig. Aber schämen muss man sich deswegen heutzutags nicht mehr. Gibt ja lauter prominente Beispiele, wer schon alles in der Sucht war. Sogar der Professor Wuiser hat mal eine Therapie gemacht. Bei den anonymen Workaholikern. Und da hat der Therapeut gesagt, dass es gut wär, wenn sich der Herr Wuiser mal Zeit nimmt und hinsetzt und in sich geht und zusammenschreibt, wie es ihm als Workaholic so geht. Am Anfang ist ihm gar nichts dazu eingefallen, weil ja ein Workaholic gar nicht groß darüber nachdenkt, was er so den ganzen tag tut. Und dann ist es doch geflossen. Das bringt er jetzt auch als Buch heraus: „Die Kulturgeschichte des Workaholismus.“
In acht Bänden und im Schuber.

Hanne Mausfeld: gehen gehen atmen atmen

Gestern waren sie noch nicht da bestimmt zehn riesig und knallrot und frischweiß immer das Gleiche mit mir einen kleinen Brocken verspeisen was würde es mit mir machen aber welche Dosis? wissen möcht ich’s gern wenn die Pilze so schießen dann sind gewiss auch die essbaren Pilze in Fülle vorhanden und Irene ist in Urlaub und kann nicht ernten immer nehme ich mir vor mit ihr zu gehen aber ich schreibe lieber noch lieber mach ich Musik oder spiele mit Sprache herum schon wieder so ein Scheißbremsenviech dass es immer weniger Insekten werden merk ich auch nicht heute muss ich unbedingt anfangen weiß nur nicht was ich zu Heimat sagen soll und bis nächste Woche muss ich was Brauchbares geschrieben haben muss? will! überall Pilze und ich kenne keinen aber die Urgroßmutter ich sollte schneller gehen und auf meine Füße achten von der hinteren Fersenmitte den Fuß leicht nach außen positionieren und abrollen das stärkt die Innenmuskeln und ist gut gegen X-Beine Mutter hatte X-Beine und musste operiert werden jetzt bin ich schon am Kreuzweiher und weiß nicht wie ich hier hingekommen bin Urgroßmutter haben wir oft in Ronsdorf besucht unterm Dach ein Stübchen da lebte sie ganz normal damals was war damals normal? ihr Haus und die Bandwirkstube verbrannten ausgebombt sie hat bei uns gestopft und beim Einschlafen mit mir gespielt wer zuerst eingeschlafen ist ruft PIP vielleicht war das meine Heimat? und dann haben wir uns beide kaputtgelacht atmen tief atmen und große Schritte mal wieder so ein Tag da lässt mich die Familie nicht los alles wegen der Schreiberei über Heimat – Heimat ist eigentlich die ganze Welt gleich bin ich bei den Fliegenpilzen ich werde sie genau zählen – neunzehn Pilze wie man sich doch vertun kann vorher dachte ich zehn wären schon viele man muss eben immer genau sein auch mit den Worten und den Wörtern vor allem wenn man sie schreibt und drucken will wahrscheinlich täuscht man sich öfter als man denkt neulich hab ich gelesen dass man von Fliegenpilzen nicht sterben kann. 

Arabella Block: Sucht

Sucht oder lasst es bleiben.
Sucht mich,
aber nicht
auf dem Grund des Glases,
das erst halb leer ist.

Sucht
hinter bunten Vorhängen aus Bildern und Rauch.
Sucht das Paradies
oder nur ein Nest
mit Süßem in Goldfolie.
Klingt das nicht unwahrscheinlich?
Sucht, was es nicht gibt.
Sucht, weil es nie so ist.
Wer sucht
sich nicht?
Sucht!

Elmar Tannert: Innerer Monolog eines Kaffeetrinkers

… jeden Abend dasselbe … ich bin so müde … aber ich kann nicht schlafen … nicht einschlafen … das kommt vom Kaffee … nein, das kommt nicht vom Kaffee … Kaffee trink ich nur in der Früh … den brauch ich … sonst komm ich nicht in die Gänge … heute früh war ich so müde … viel zu wenig geschlafen … und dann um sieben aufstehen … das geht nicht ohne Kaffee … zwei Tassen … schwarz … aber das reicht dann auch … erstmal … dann komm ich ins Büro … und im Büro läuft immer die Kaffeemaschine … irgendjemand schaltet die immer ein … Frau Kramer schaltet die immer ein … dabei trinkt die daheim auch schon Kaffee … genau wie die anderen … aber trotzdem macht sie immer Kaffee für alle … und dann bietet sie ihren Káffe* an … Káffe sagt die immer … dieses Káffemonster … dabei heißt das Kaffée … und ich sag jedes Mal „ja“ … warum sag ich jedes Mal „ja“? … mir reichen meine zwei Tassen Kaffee am Morgen … aber ich kann den anderen einfach nicht beim Káffetrinken zusehen … jetzt sag ich selber schon Káffe statt Kaffée … Kaffée heißt das … morgen werd ich sagen, ich nehm koffeinfreien … nein, das mach ich nicht … sonst denken alle, ich bin herzkrank … und außerdem, ohne Koffein hat der Kaffee gar keinen Sinn … dann braucht man überhaupt keinen Kaffee trinken … ohne Koffein hat der Kaffee keinen Sinn … da gibt’s doch ein Lied … “was hat der Kaffee für an Sinn ohne Koffein“ … das singt irgendein Österreicher … Peter Alexander … Quatsch, der war‘s nicht … aber ein Österreicher war‘s … nein, der Franz Morak auch nicht … aber natürlich ein Österreicher … die trinken dauernd Kaffee … aber das merken die gar nicht … weil die immer Melange bestellen … und Einspänner … Franziskaner … kleine Braune … große Braune … a Schalerl Gold … aber Kaffee bestellen die nicht … deswegen können die Österreicher ruhig schlafen … aber ich kann nicht schlafen, weil ich kein Österreicher bin … dabei trink ich Kaffee nur am Vormittag … ab Mittag trink ich keinen Kaffee mehr … bloß einen Cappuccino nach dem Essen … mit viel Milch … sonst kann ich nicht schlafen … ich schlaf eh immer so schlecht in letzter Zeit … immer Termine … Termine jeden Tag … alle sind so hektisch den ganzen Tag … das kommt vom Kaffee … nein … das kommt nicht vom Káffe … heißt das jetzt Káffe oder Kaffee? … egal … ich kann nicht schlafen … der Kaffee am frühen Abend … der ist gefährlich … egal, ob er Káffe oder Kaffee heißt … aber ich hab am Abend gar keinen Kaffee getrunken … bloß einen Latte Macchiato … das ist gar kein richtiger Kaffee … aber einen Kaffee trinken und dann gleich ins Bett … das geht … da merkt man nichts … hab ich schon öfter gehört … ja … das probier ich jetzt aus … ich steh nochmal auf … und mach mir einen Kaffee …

Şafak Sarıçiçek: kabum ! dank den verseuchten fledertieren

meiner stadt bist du ach so fern
tentakelfinger deiner krakensonne

zerschuppend sterben pangoline dort schaufeln wege neue wochen
vögel pfeifen den morgen auf meine keloidnarbe
endlose würfel aus altaigesang und keiner weiß wohin o! affenmonat
grinsender jurtengott zwei kinder zürnen deiner gunst
nicht codes schlürfen aber bots transzendieren.

mensch, stacheln der lüfte, bleibt aus
es grüßt ein spaziergang herrenlose hünde.
diese hasen schlagen haken nicht
der mond schlägt nun haken für sie
aber milch leuchtet auf zum roten stern

alle brocken pulverisiert, ein weites vergeben
und ein geisterbaum schraubt lunten aus licht
alte meister behängt mit satin neu, o quantenflirren !
ich bau haus um haus aus meiner ahnensprache.

eine mulde gibt es wo wir liegen können nackt wie sand
dein aug und mein aug ein steter überfall bis schmelze die farben
nähen eine taiga aus parabeln, streamen all unsre folgen mit einem nicken
gebet ewiger stromzufuhr, werden eingehen in suppen aus kristall
ruf permanente revolte! alle himmelskörper infiltrieren den feind
die nacht trinkt pyromanisch und der morgen ist ein mutiger kossak
orte wirds geben, wo affen und tiger ringen
es wird orte geben ja es wird

Theobald Fuchs: Sucht

Die Leute, bei denen ich meine Kindheit verbrachte, waren süchtig. Hochgradig süchtig. Nach Wegwerfen. Sie warfen ständig weg, was sie schon besaßen, um sich neue Dinge anzuschaffen. 

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich Abends aus dem Haus schlich, um im nahen Wald ein Loch zu graben. Darin, unter einer dicken Schicht aus Nadeln, Laub und Moos versteckte ich meinen Lieblingsteddy. 

Als ich aufblickte, standen sie bereits da und beobachteten mein Tun.  

»Was machst du?« fragten sie. 

»Ich habe Angst, dass jemand meinen Teddy wegwirft.« 

»Ach so«, sagten sie, »den alten Teddy…«, und brachten mich nach Hause. Am nächsten Tag war der Teddy… Sie hatten halt nicht anders gekonnt, die Sucht war eben stärker gewesen als sie, und es musste zwangsläufig dahin kommen, dass ich, wenn man so will, eine Ko-Abhängigkeit entwickelte. Ich entwickelte einen Zwang, Dinge für immer aufzuheben. 

Seltsam war, dass die Frau niemals den Mann fortschickte und der Mann niemals die Frau. Sie waren das einzige in ihrem Leben, das sie nie gegen etwas Neues austauschten. Das mag untypisch erscheinen, gar nicht zum sonstigen Gebaren passen, aber es wird wohl ein Versehen gewesen sein, ein gewöhnlicher Fehler. Denn auch beim Wegwerfen passieren Fehler. Auch beim Wegwerfen gibt es eine Art blinder Fleck. Zum Beispiel in Gestalt eines Ehegesponses. 

Doch darauf wollte ich mich nicht mehr verlassen. Ich beschloss mit sehr jungen Jahren, absolute Kontrolle über die Gegenstände in meinem Besitz zu gewinnen. Ich lernte, das, was mir wichtig war, so gut zu verstecken, dass es niemand anderes mehr finden konnte. Die Eichhörnchen wurden meine Vorbilder, wie besessen studierte ich ihre Tricks.

Das ging soweit, dass ich genauso wie diese dämlichen Nager manchmal meine eigenen Verstecke nicht mehr wiederfand. Keine Ahnung, wie viele meiner Spielsachen noch heute dort draußen im Wald gut verpackt und sorgfältig geschützt in der Erde darauf warten, dass ich sie abhole. 

Die Kleidung, die ich mochte, lagerte ich bei einem Freund. Morgens auf dem Weg zur Schule machte ich kurz Station bei ihm, zog meine alten Lieblingsklamotten an und ließ die neuen Sachen, die ich in beim Aufstehen neben meinem Bett vorgefunden hatte, tagsüber dort. 

Ein einziges Mal noch gelang es der Frau, die wir spaßeshalber »Mutter« nannten, eines meiner liebsten T-shirts zu entsorgen. Ich hatte es nur kurz ausgezogen, um im Keller die Kohlen zu wenden, was reihum jeden Monat einer von uns zur Aufgabe hatte. 

»Wo ist mein T-shirt«, fragte ich sie, als ich mir den schwarzen Staub vom Körper gewaschen hatte. 

»Ach, dieses hässliche alte T-shirt? Was ist das schon im Angesicht der Ewigkeit! Sei froh, du kannst dir jetzt ein neues kaufen.« 

»Ich fasse es nicht!« schrie ich. »Es war mein Lieblingsshirt! Von meiner Lieblingsband! Es hat mir meine Lieblingsfreundin zu meinem Lieblingsgeburtstag geschenkt! Noch keine fünf Lieblingsjahre alt… das kann man doch nicht wegwerfen!« 

»Ach komm, vergiss den alten Kram. Niemand will den alten Kram. Der alte Kram belastet einen doch nur. Den alten Kram muss man wegwerfen. Ich freu‘ mich für dich.« 

Damit endete unser letzter Streit. Ich konnte sie mit Argumenten nicht mehr erreichen, sie hatte sich in ihren Wahn eingesperrt, in dem alles, was nicht neu war, sofort weggeworfen werden musste. Den Schlüssel zu ihrer Welt hatte sie wohl ebenfalls nach dem ersten Gebrauch zum Altmetallhändler gebracht. Von nun an machte ich keine Fehler mehr. Ich besorgte mir alle Gegenstände, die ich zum Leben brauchte und trug sie ständig in einem Tresor bei mir, den ich mit einer Kette an meinem Bein befestigte. Sogar einen Teller und ein Glas führte ich mit mir, sorgfältig in einen alten Teppich eingewickelt. Ich wurde sehr stark, der Stärkste in meiner Klasse wurde ich, da es keine Sekunde gab, in der ich nicht allen meinen Besitz mit mir schleppte. 

Dahingegen sie, die Frau, sie kochte und warf nach dem Essen alles Geschirr einfach auf den Boden. 

»Hoppla«, rief sie, »alles kaputt! Wie schön, dann können wir endlich etwas Neues kaufen!« 

Dann zogen sie los, sie und ihr Mann und kauften ein. Glücklich kamen sie nach Hause zurück, schwer beladen mit neuem Zeug. 

Die Sucht war es, die sie dazu zwang, sie konnten eigentlich nichts dafür, und niemand half ihnen. Solange sie funktionierten, solange sie damit durchkamen, solange war es für die Gesellschaft in Ordnung. Und die Behörden sahen bewusst in eine andere Richtung. 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre! Später, als ich schon ausgezogen war, traten sie einer Partei bei und wurden erfolgreiche und angesehene Politiker. 

Als ich sechzehn wurde, verkündete ich im Kreis der zahlreichen Leute, die in jenem Haus versammelt waren, dass ich ausziehen würde und dass ich eine Lehre als Restaurator beginnen würde. Der Lehrherr hätte eine Gesellenwohnung voller alter Möbel für mich, erklärte ich und verabschiedete mich – nicht überschwenglich, aber auch nicht unhöflich knapp. 

»Wie schön!«, rief die Frau, die mich jeden Morgen geweckt hatte, damit ich rechtzeitig in der Schule saß, »Ein Esser weniger, dann können wir uns ja noch einen neuen Hund anschaffen, sobald wir den alten ins Tierheim gebracht haben! Jetzt gleich!« 

Der Hund kapierte sofort, was los war, verkroch sich unter dem Sofa. Natürlich half ihm das. Nicht. Im geringsten. 

Einmal noch kehrte ich zurück, da ich für eine Bewerbung ein altes Schulzeugnis brauchte. Ich hatte zwar wenig Hoffnung, vielleicht, so dachte ich, machen sie bei offiziellen Dokumenten eine Ausnahme… Nun, was soll’s. Hatte ich doch schon vor einiger Zeit einen sehr geschickten und dabei überaus preisgünstigen Fälscher kennengelernt, der mir dann weiterhalf. Immerhin erfuhr ich angelegentlich des Besuches, dass die Leute, die mir im Rahmen ihrer Sucht Obdach und Nahrung gegeben hatten, bei den letzten Wahlen einen großen Sieg errungen hatten. Sie waren Bundeskanzlerehepaar geworden.

Ihr Erfolg gründete darauf, dass sie Verwaltung und Parlamente gründlich ausmisteten. Sie warfen alte Gesetze genauso weg wie alte Beamte. Ganze Ministerien flogen auf den Kehricht, jahrhundertealte Strukturen in Verwaltung, Parlament, Justiz – alles wurde hinaus geschmissen und nagelneu angeschafft. Das brachte ihnen anfangs große Sympathien ein, in den ersten Monaten war die Bevölkerung hellauf begeistert von ihrer Arbeit. Eine regelrechte Welle des Ausmistens schwappte durchs Land, vor den Städten wuchsen Müllberge, höher als das Ulmer Münster und an etlichen Orten halb so groß wie das Saarland. 

Doch wie das mit Süchtigen eben so ist: sie konnten nicht mehr aufhören. Sie machten sich daran Bahnstrecken und Flughäfen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Sozialwohnungen und die Polizei. Das hatte nichts mehr mit freiem Willen zu tun, sie verloren vielmehr die Kontrolle, so wie ein Autofahrer, der bei 200 Stundenkilometern das Lenkrad abbeißt und zum Fenster hinausschleudert. Sie waren kurz davor, wirklich alles wegzuwerfen, den Himmel, die Erde, die Menschen, Tiere und Pflanzen und so wäre die ganze Welt beim galaktischen Schrotthändler gelandet, wenn sie nicht im letzten Moment, wirklich nur wenige Augenblicke, ehe sie die Existenz alles Seienden sowie die Nicht-Existenz alles Nicht-Seienden ausgelöscht hätten, innehielten und erkannten, dass ihr Werk nur dann vollendet und zum Abschluss gebracht werden konnte, wenn sie sich selbst zum Schrott bringen würden. 

Da gingen ihnen die Augen auf, wie einem das Land verschlingenden Drachen, der alles gefressen hat außer dem eigenen Schwanz, und, während er daran schnüffelt und ein oder zwei Mal abschleckt, begreift, dass es jetzt vielleicht genug ist. (und er dringend eine Dusche bräuchte, was sich bei Drachen allerdings häufig als schwieriger als gedacht darstellt.)

»Gut ist’s, oder?«, fragte sie, und der Mann, den wir spaßeshalber »Vater« gerufen hatten, antwortete mit denselben Worten. »Ja, gut ist’s«, sagte er und nickte mit dem Kopf und nahm ihre Hand und ging zusammen mit ihr los Richtung Sonnenuntergang, der aber auch ein Sonnenaufgang gewesen sein könnte, so genau kann man’s auf dem Foto nicht erkennen, und von da an waren sie geheilt und befreit von ihrem Zwang und lebten wie wir alle als ganz gewöhnliche Messis noch ein paar Jahre vor sich hin, auf zwei Zimmern, Küche, Bad im vierten Stock zwischen Kisten und Möbeln, zwischen Kleidern und Elektroschrott, bis sich auch für sie das Schicksal erfüllte und sie den Ruf an der Tür hörten: »Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal, ich bin doch die Person von der Entsorgungsfirma…« 

Sarah Grodd: Lüge

Es ist geschafft. Nervös starren Dirk und Jan auf den Bildschirm des Computers. Heute ist ihr großer Tag. Nur noch ein Klick trennt sie von ihrem digitalen Business. Dirk und Jan blicken sich mit einem leichten Lächeln an und beide wissen: all der fehlende Schlaf, das nächtliche Flimmern des Computermonitors, der überdosierte Kaffee in rauen Mengen und die unzählbaren Brainstorming-Kippen der letzten Wochen haben deutliche Spuren hinterlassen. Sie wissen aber auch: es hat sich gelohnt. Dirk ergreift schließlich die Initiative und gleitet den Cursor mit der Computermaus ganz sachte auf den Button „Veröffentlichen“. Ein Klick ertönt, dann ist es vollbracht. Ihre erste App. Tiefes Ausatmen raunt durch den Raum.

Dirk ist der Geschäftsmann der beiden, ein richtiger Machertyp. Vor zehn Monaten kam ihm die visionäre Idee für jene App, die sie just in dem Moment der Welt zugänglich machen. Sie trägt den Namen „Applass“. Vor zehn Monaten, da verfolgte er den sonntäglichen Radio-Gottesdienst – sein kleines Ritual am Frühstückstisch. Als er seine Kaffeetasse ansetzte, witterte er plötzlich eine Nische: wenn man schon vom Frühstückstisch aus einem Gottesdienst beiwohnen kann, warum sollte es nicht auch möglich sein, online Buße zu tun? Eine Art digitaler Ablass. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Dirk der außerordentlich spritzige Name „Applass“ für seine Idee einfiel. Die moderne Pocketbeichte für den Sünder von heute. Kein lästiger Bußgang zum nächsten Beichtstuhl nötig – stattdessen jederzeit und überall verfügbar, bezahlbar über verschiedene Online-Bezahldienste. Und das Beste daran: für jede Buße bekommen Dirk und Jan einen Cent und schon bald werden sie Millionäre sein – oder zumindest etwas wohlhabender als jetzt.

Dieses „Jetzt“, das hat Dirk schon immer abgelehnt. Er verschwendet keine Zeit mit Gedanken an seine aktuelle Lage, vielmehr war er schon immer ein Zukunftsträumer. Träume hin zu einer Zukunft, in der er sich nicht mehr eine dunkle Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan teilen muss: ein Relikt aus Studi-Zeiten. Hin zu einer Zukunft, in der er seinen Eltern, seinen alten Schulfreunden und Verflossenen, ja all seinen Neidern, die ihn früher oder später für einen seltsamen Spinner gehalten haben, endlich zeigen kann, dass er es geschafft hat. Dass er ein Visionär ist, ein Vorreiter in die digitalisierte Moderne.

„Seine“ App, wie Dirk „Applass“ gegenüber anderen Personen immer vorstellt, denn Jan ist für ihn nur der programmierende Hilfsarbeiter, seine App also kann nicht nur die Buße des Bußeablegenden aufnehmen. Sie erkennt auch automatisch, ob der Büßende lügt oder die Wahrheit spricht. Wie genau das funktioniert, weiß Dirk auch nicht so recht. Jan hat versucht, es ihm zu erklären, aber vielmehr als irgendwas mit Algorithmus und Spracherkennung konnte er sich nicht merken.

Die Rollen zwischen Dirk und Jan sind klar verteilt: Jan ist der Programmierer, Dirk der Vermarkter. In Gesprächen mit potenziellen Kooperationspartnern spricht Dirk eh viel lieber über die vielversprechenden Vorteile, statt über langweilige technische Detailfragen. Noch haben sie mit „Applass“ keine konkreten Kooperationen an Land ziehen können, wie Dirk einräumt. Aber er bekräftigt, dass sie an Großem dran sind.

So könnten z.B. schon bald Menschen, die besonders häufig, offen und ehrlich Buße tun, Vorteile bei der Kirchensteuer genießen. Oder per App direkt in den Klingelbeutel einzahlen. Oder vergünstige Jahresabos für Grabkerzen abschließen. Oder Rabatte auf Pauschalreisen in den Vatikan bekommen.
Oder…

Dirk schreckt auf. Er scheint wieder einen kurzen Tagtraum gehabt zu haben.
Aber nun ist er wieder zurück im Jetzt, zurück in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan. Er schaut auf den Computermonitor und ihm wird klar: es ist wahr.

„AppLass“ ist soeben im AppStore erschienen, verfügbar für jeden modernen Sünder. Dirk und Jan haben ein Lächeln im Gesicht. „Damit werden wir reich.“, sagt Dirk.

Sie wissen noch nicht, dass sich das schon bald als Lüge herausstellen wird.

Juliane Kling: Struktur

Wilma ist ein ordnungsliebender Mensch. Sie schätzt es, wenn die Dinge ihren geregelten Gang nehmen. Aufgaben erledigt sie planvoll und mit ausgesuchter Sorgfalt. Sie mag es, wenn Handlungen und Abläufe ein durchdachtes System haben. Das verschafft einem Überblick. 

Wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewohnten Platz oder in der von Wilma als sinnvoll erachteten Reihenfolge befinden, gerät sie leicht aus der Fassung. Chaos hat in Wilmas Leben keinen Platz. Deshalb sind To-Do-Listen ihr heiliger Gral. Nur wenig verschafft Wilma so viel Befriedigung, wie einen Tagesordnungspunkt in ihrem Taschenkalender abzustreichen, außer vielleicht ein doppelt gereifter Single Malt mit ihrer Nachbarin Dorea. Dorea ist Griechin und eine echte Whiskyliebhaberin. 

Dorea meint, der verfluchte Ouzo solle bleiben, wo der Pfeffer wächst und zwar in der Unterwelt. Ungeachtet der Tatsache, dass Wilma einen kräftigen Ouzo sicherlich nicht ablehnen würde, könnte sie bei dieser Aussage regelmäßig an die Decke gehen. In der Unterwelt kann ihrer Ansicht nach nicht einmal der Pfeffer wachsen. Da wächst überhaupt nichts, abgesehen von Doreas haarsträubenden Schnapstheorien. Wilma hasst Ungenauigkeiten und man könnte sie in dieser Hinsicht durchaus als pedantisch bezeichnen. 

Früher haben sich Dorea und Wilma jeden Sonntagabend zusammen den Tatort angeguckt. Mittlerweile will Dorea das allerdings nicht mehr, weil Wilma sich stundenlang über die strukturlosen Ermittlungsversuche der Hauptfiguren aufregen konnte, von den fatalen Logikfehlern im Drehbuch noch gar nicht angefangen. Statt dem Tatort schaut Wilma jetzt lieber anspruchsvolle Dokumentationen auf Phoenix und genehmigt sich dabei ein Glas Brandy. 

Neben ihrem Interesse an gut recherchierten Dokumentarfilmen hegt Wilma eine große Leidenschaft für Unterhaltungsliteratur. Sie liebt es, in die Geschichten Anderer einzutauchen und dabei zu wissen, dass sie jederzeit in ihre eigene Ordnung zurückkehren kann. Bei den Büchern in ihren Regalen achtet Wilma stets darauf, dass die Rücken Kante auf Kante stehen. Dass sie eine farblich abgestimmte und ebenmäßige Gerade bilden, die streng nach Autor, Verlag und Thema organisiert ist. Jedes Mal, wenn Wilma auf die tadellosen Regalreihen in ihrem Schlafzimmer blickt, fühlt sie sich von einer tiefen inneren Zufriedenheit erfüllt. 

Allgemein ist Wilmas Wohnung geradezu penibel sauber und aufgeräumt, was von unangekündigtem Besuch für gewöhnlich mit hellem Erstaunen und unverhohlener Bewunderung quittiert wird. Ob das etwa immer so aussehen würde? Ja, sagt Wilma dann schlicht und öffnet eine Flasche französischen Weißwein, den sie für solche Fälle vorsorglich im Haus hat. Niemals würden Wilma unerwartet das Klopapier oder die Dinkelnudeln ausgehen. Hygieneprodukte und Vorräte werden aufgefüllt, bevor sie sich dem Ende neigen. 

Wilma hasst plötzliche Überraschungen, weshalb ihr unangekündigter Besuch auch gehörig gegen den Strich geht. Die Flasche Weißwein dient daher in erster Linie ihrem eigenen Wohlbefinden. 

Manchmal wäre Wilma gerne flexibler, aber flexibel zu sein erfordert Spontaneität und Spontaneität bereitet ihr enormen Stress. Wenn Wilma gestresst ist, wird sie unausstehlich. Ihre Hände werden schwitzig und ihr Mund trocken, sie bekommt Herzrasen und Ohrensausen. Sie braucht dann ganz schnell einen Schluck Likör von ihrer Oma Hilde und falls der nicht zur Hand ist, tut es auch etwas anderes, Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck und fegt Wilmas Gedanken wieder frei. Ein klarer Kopf bedeutet Ruhe und Konzentration und die hat Wilma dringend nötig. 

Ihr Erinnerungsvermögen lässt sie in letzter Zeit häufig im Stich. Sie vergisst, wo sie ihren Taschenkalender hingelegt und ob sie die Wohnungstür abgesperrt hat, nachdem sie das Haus verlassen hat. Deswegen hat sie sich nun Ginkgo-Tabletten gegen Gedächtnisstörungen gekauft und nimmt jeden Tag eine, ganz genau nach Packungsanleitung. 

Wilma hat früh gelernt, dass man mit Umsicht und Sorgfalt viel erreichen kann. Wenn sie sich abends mit Freundinnen in einer Bar verabredet, kann sie ohne schlechtes Gewissen den teuersten Gin Tonic auf der Karte bestellen. Sie kann vier Stück davon trinken, bevor sie nicht mehr deutlich sprechen kann.
Daran hält sie sich akribisch.

Wilma verabscheut Improvisation und ihr Rausch hat immer System.

„Man darf nicht den Überblick verlieren“, sagt sie. „Struktur ist wichtig.“