Manche Bewohner Leipzigs schütteln sicher den Kopf, wenn während der Buchmesse wieder so ein Trupp seltsam bunt gekleideter, teilweise recht aufwändig frisierter und geschminkter Gestalten aus dem Hauptbahnhof herauskommt , um in Bahn in Richtung Messegelände zu steigen.
Cosplayer sagt erklärend der eine, ach das ist doch alles Schrott meint der andere. Aber ist die ganze Sache wirklich nur Trash oder steckt nicht diese alte unauslöschliche Sehnsucht dahinter, jemand anders zu sein als man im Leben ist. Tut ein im Verein organisierter Modelleisenbahner, der natürlich nicht damit spielt( !), sondern Fahrbetrieb macht nicht irgendwo das Gleiche? Nur eben ohne Bahner-Uniform ?
Die Dienstbekleidung hat bei der Bahn übrigens die interne Abkürzung UBK und es gibt sogar eine vorgeschriebene Trageordnung.
Bei Victor Schuster befand sie sich seit kurzem im Kleiderschrank , denn er war neuerdings bei der DB angestellt, doch daneben hing auch etwas, das kaum jemand in seiner Garderobe vermuten würde. Der Kimono von Suguro Geto, einer Figur aus Victors Lieblings- Serie Jujutsu Kaisen, einer japanischen Manga- Trickfilm- Reihe. Schon als Kind war Victor einer von den Stillen gewesen, der viel las, um sich dann mit seinen Lego- Steinen eigene Welten zu erschaffen. Schließlich trat eines Tages ein Zauberlehrling auf den Buchmarkt, der den vom alten Goethe um unendliche Längen schlug. Ein Typ mit Nickelbrille und einer seltsamen Narbe auf der Stirn, erdacht von einer Frau die einmal Klassische Altertumswissenschaft an der Universität von Exeter studiert hatte. Er hieß Harry Potter. Und dessen Schulfreund Ron Weasley wurde zu Victor Schusters alter Ego. Er erinnerte sich nicht mehr, wann und zu welchem Anlass er das erste Kostüm bekam . Wohl aber an das Gefühl, als er es anzog. Er fühlte sich frei. Frei der zu sein, der man sein wollte, losgelöst von jeder Fessel, die die Regel der Normalität einem anlegten. Und die Freude daran blieb bis zum heutigen Tag. Ereignisse die andere begeisterten wie zum Beispiel die Bundesliga interessierten ihn nicht die Bohne. Heute Morgen rief allerdings wieder mal die Pflicht. Sein Wecker klingelte kurz vor 5 Uhr früh und er zog die Bahner Uniform an. Dann stieg er ins Auto, fuhr zum Bahnhof und meldete sich im Fahrmeister-Büro zum Schichtantritt für den Frühzug nach Brüssel. „ Morgen Victor “ sagte Karl, der dort hinter einem der beiden Computerbildschirme Dienst tat. „ Dein Restaurantleiter steigt übrigens erst in Köln zu, bis dahin bleibt das Bordbistro geschlossen, hast also erst mal Gastfahrt.“ „ O.K. sagte Victor und hörte wie Karl ihm noch „Gute Schicht“ zurief, als er die Tür schloss. Schnell noch einen Fünferpack Bonrollen mitnehmen, bevor die wieder alle sind, dachte Victor. Gesagt, Getan und kaum das sie im Rucksack verstaut waren machte er sich auf den Weg zum Gleis um in den ICE nach Brüssel zu steigen. Eine Stunde später, in Köln kamen seine zwei Kolleginnen und eine von beiden öffnete die Tür zur Bordküche. Victor sagte Hallo und eine der beiden fragte: „ Bist Du unser Stewart 3 ? Kannst Du den „ Am Platz Service“ für die erste Klasse übernehmen? „Ja, klar“ antwortete Victor, bereitete drinnen die Kaffeemaschine vor und bekam den üblichen Zettel mit dem Code zum Starten des Kassensystems. Währenddessen hatten zwei etwas eigentümlich aussehende Gäste im Restaurant Platz genommen. Der Erste war ein älterer Mann mit spitzem Vollbart in einer Art Kostüm das wohl aus dem Spätmittelalter stammte zu dem er eine weiße Halskrause trug. Einen Tisch weiter, saß ein schwarz gekleideter junger Japaner der eine runde sehr dunkle Sonnenbrille trug. Perfektes Outfit für die Figur von Saturo Gojo aus Juijutsu Kaisen dachte Victor als er zu dem Gast hinüber sah. Kurz darauf, der Zug hatte gerade Aachen verlassen und Victor kam mit ein paar Bestellungen aus der 1. Klasse zurück, als etwas völlig Unerwartetes passierte. Zuerst hörte er den entsetzen Aufschrei von einer seiner Kolleginnen aus der Bordküche, gefolgt vom Geräusch zu Boden fallenden Geschirrs. Während beide wie von Sinnen mit der Zugbegleiterin in Richtung Dienstabteil rannten um sich drinnen zu verbarrikadieren, sah Victor was sich gerade ereignet hatte. Der Kopf des spitzbärtigen Mannes lag, wie mit einem unsichtbaren Scharnier zur Seite geklappt, quer auf seiner Schulter. Und aus der völlig frei liegenden Halsöffnung heraus, ragte ein halbes Stück Schinken- Käse- Baguette, welches der unheimliche Gast mit Hilfe einer Gabel tiefer hinein zu schieben versuchte.
Erstaunt sah Victor zu und ihm dämmerte, wen er da möglicherweise vor sich hatte. Nachdem der seltsame Restaurantbesucher mit einer einzigen Handbewegung seinen Kopf wieder in die alte Position gebracht hatte, fragte Victor: „ Vielleicht noch etwas Tee, Sir Nicolas? Dann rutscht es besser.“ Sie kennen mich?“ fragte der Fremde.“ „ Ja, Sie sind Sir Nicolas de Mimsy Porpington, Hausgeist von Gryffindor aus der Zauberschule in Hogwarts.“ antwortete Victor. „ Es ist sehr freundlich von ihnen mich nicht mit diesem hässlichen Spitznamen „ Der fast kopflose Nick“ anzureden “ erwiderte Sir Nicolas. „ Ach ja, mein Schicksal“ klagte er dann. „ Nun hat mir doch neulich der gute Professor Filius Flitwick einen Zauberspruch verraten, wie ich trotz meiner Geisterexistenz Speisen zu mir nehmen kann. Und wieder funktioniert es nicht richtig. Wie Sie wissen ging ja schon meine Hinrichtung, übrigens ebenfalls wegen eines missglückten Zauberspruchs schief und mein Kopf wurde mir nicht komplett abgetrennt. Inzwischen erreichte der ICE ohne vorherige Ansage durch das Zugpersonal, den Bahnhof von Lüttich. Es war also nicht mehr weit bis Brüssel.
Victor klopfte schließlich an die Tür. „ Soll ich den Gast mit dem Schinken- Käse- Baguette abkassieren?“ fragte er dann. „ Mach was Du willst, sag uns einfach nur Bescheid wenn der gruselige Typ aussteigt“ hörte er die verängstigte Stimme seiner Restaurantleiterin von drinnen. O.K. antwortete Victor und staunte anschließend nicht schlecht, das die Kreditkarte der Gringott’s Bank problemlos auf seinem Kartenleser funktionierte. Fast pünktlich erreichte der Zug die Endstation Brüssel Midi und Sir Nicolas de Mimsy Porpington entschwebte in Richtung Eurostar nach London. Victor Schuster klopfte an die Tür vom Dienstabteil. „ Er ist weg, ich geh mal kurz raus auf den Bahnsteig“. „ Gottseidank, komm aber rechtzeitig wieder“ hieß es erleichtert von drinnen. Draußen stand auf einmal der schweigsame Japaner neben ihm. Seine dunkle Sonnenbrille hatte er gegen eine schwarze Augenbinde ausgetauscht. Und Victor hatte plötzlich die Gewissheit dass, auch er kein Cosplayer war.
„ Da Du gewusst hast wer er war, weißt Du bestimmt auch wer ich bin, nichtsdestotrotz hier ist meine Karte“ sagte der Fremde. Victor nahm sie an sich und stutzte dann doch.“ . „Saturo Gojo, Jujutsu Akademie Tokio“, stand in japanischen wie auch lateinischen Buchstaben auf der Visitenkarte. „ Was wollt ihr denn ausgerechnet von mir?“ fragte Victor gespannt . „ Ich hab einen Job für Dich“ antwortete ihm der junge Mann mit der Augenbinde.
„ Die Akademie sucht einen Gefahrenstufen- Analysten für europäische Fluchgeister und sonstige Phänomene. Wenn Du einverstanden bist, schreib einfach eine Mail an die Adresse auf der Rückseite der Karte. Das Flugticket schicken wir Dir dann.“ Einen Tag nach der Ankunft in Frankfurt schickte Victor die Mail nach Tokio und brach zwei Wochen später auf ins Land seiner Träume, Japan.
Jammerschade , finden manche seiner Kollegen bei der Bahn.
Schlagwort: sprecher verena schmidt
Carsten Stephan: Schweiß und Preis
Glosse
Von der Decke bis zur Diele
Muß der Schweiß herunter rinnen,
Willst gelangen Du zum Ziele,
Wohlverdienten Preis gewinnen.
Friederike Kempner
Woher kommt und wohin geht er?
Welches ist des Schweißes Richtung?
Davon kündet dir die Dichtung.
Fließt er grade oder dreht er,
Spritzt er achtundsiebzig Meter?
Ob im Nebel, ob am Nile,
Von dem Steiß geht er zur Schwiele,
Zu dem Krapfen, zu der Kröte,
Von dem Griesbrei bis zum Goethe,
Von der Decke bis zur Diele.
Aus der Achsel muss er fließen,
Er muss strömen, er muss schnellen,
Gleich den Niagarafällen,
In Fontänen aufwärts schießen,
Im Quartiere sich ergießen.
Ob bei Froste, ob bei Finnen,
Ob bei Flippfloppträgerinnen,
Er muss sprudeln, er muss sprützen,
Ja, zu ungeheuren Pfützen
Muss der Schweiß herunterrinnen.
Diese Flut musst du durchwaten,
Gar das gelbe Meer durchschwimmen,
Um die Zwecke zu erklimmen,
Gleich den Hanse- und Kroaten
Rudern zu den Resultaten.
Ob in Schweden, ob bei Schwüle,
Nimmer geht’s per Besenstiele,
Du musst schnorcheln, du musst schippern,
An den Kliffen, auf den Klippern,
Willst gelangen du zum Ziele.
Wird man dich mit Lorbeer schmücken
Für den Duft an allen Ecken?
Wird man dir die Füße schlecken?
Wird man Ehrennadeln zücken,
Preisen dich in Bühnenstücken?
Ob am Montag, ob zum Minnen,
Fünfzig Raubtierpflegerinnen
Werden schnurren, werden schnobern,
Konntest ja ihr Herz erobern,
Wohlverdienten Preis gewinnen.
Harald Kappel: mumifiziert
die Stimmung ist im Keller
nichts funktioniert
an der richtigen Stelle
am Arsch der Welt
läuft man sein Leben lang herum
der Aufgesetzte
ist eine Sternstunde
die Köpfe der Revolution
mumifizieren in Formaldehyd
das Tasting
gar nicht mal so übel
brennt unter der Kalotte
die Erkenntnis
braucht unendlich viel Zeit
sie reicht
Gott sei Dank
für lebenslänglichen Suff
man erträgt die Sternstunden
nur solange
bis man sie begreift
Christian Knieps: Für was Verben?
Eine kaum zu identifizierende Leiche, grässlich zugerichtet, auf dem nackten Boden, der blutdurchtränkte, in der gleißenden, unbarmherzigen und an dem Geschehen unbeteiligten Sonne, mit massenhaft schwirrenden Fliegen überall, dieses eindringliche gleichfrequente Summen, dieser beißende, bleierne Geruch nach fortgeschrittener Verwesung, beginnende Zersetzung allen ehemaligen Lebens, hinaus nach dem längst eingetretenen Tod.
Starke, höchst emotionale Ablehnung von meiner Seite aus, die Ermittlung, nicht mein Wunsch, großer Drang nach Weglaufen, doch hier, an diesem Ort, meine neue, ungewollte Ermittlung, dieses menschliche Desaster vor mir und in meinem schmerzenden Kopf.
Der eigenartige, äußert mitteilsame Täter, seine exakte Adresse und Handynummer auf der ansonsten zugerichteten, vor uns liegenden Leiche, penibel saubere Schrift, fast zu perfekt, nahe an einer gedruckten Druckschrift, comic sans serif, diese spaltende Schriftart, geliebt oder verhasst.
Meine überaus engagierten Kolleg:Innen, unterwegs zu der auf der Oberhaut der Leiche angegebenen Adresse, ausgeschaltetes Blaulicht, keine unnötige Aufmerksamkeit, auch wenn der vermeintliche Täter, der mitteilsame, die Ankunft erwartungsfroh, am dreckigen Fenster hinter dem ebenfalls dreckigen Vorhang erkennbar, zitternd und über den Maßen stark schwitzend.
Ein vermeintlich einfacher Einsatz, in Sicherheitsausrüstung anrückende Kolleg:Innen, gepanzerte schwarzgefärbte Kevlarprotektoren, vorsichtiges, koordiniertes Vorrücken, der nervöse Täter hinter dem durchscheinenden Vorhang, erwartungsgespannt auf die nähere Zukunft, die langsamen, zähflüssig verrinnenden Sekunden. Näherung, minutiös kontrolliert, professionelles Training und exakte Umsetzung, einem ballettesken Schwanentanz gleich, Kommandos per abgesprochenen Zeichen, Umstellung des baufälligen Hauses, Klärung der Bereitschaft aller beteiligten Einheiten Zugriff, Sturm durch die nicht abgeschlossenen Türen vorne und hinten, Drücken des Knopfes trotz allen Schweißes, augenblickliche Zündung der angebrachten, versteckten Bomben, grande catastrophe, unsere geordnete Welt völlig anders als zuvor.
Harald Kappel: Hochgeladen
die Leiche
meines Vaters
riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter
das Niveau am Sterbebett
wird peinlich genau protokolliert
die Fotografie
des aufgeschnittenen Herzens
zeigt an seinen Rändern
unverdauten Spinat
die sectionale Präparation
vermittelt den Eindruck
als wär er noch da
fieberhaft knacken Schädelknochen
intensives Denken setzt ein
die Augennerven kratzen von innen heraus
am Klavier wird ein läppisches Lied gespielt
ich lade seine Facebookseite hoch
und zeige sie
am offenen Sarg
seine Freunde sind drei
er hat zwei Likes
in viertausend Stunden
ich hatte ihn blockiert
die Leiche meines Vaters
wird peinlich genau hochgeladen
sie riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter
Harald Kappel: MolekülWolke
im polyzyklischen Kohlenwasserstoff
der Sterne
entdecke ich das Aroma deines Aufgesetzten
hinter dem Thresen
lagern Meteoriten
bringen chemisch
die Evolution in den Biergarten
ich relativiere die Theorie
allgemein korrekt
zur Feier des Tages
öffne ich
praktisch die nächste Flasche
fantasiere vom Nobelpreis
stopfe mir
nicht rechtzeitig
das Maul
und verdampfe
am Ereignishorizont
Harald Kappel: FischBrötchen
Masse ist
im Universum
kein fester Ort
das Ticken
der Atomuhr
ein metrisches System
es sprengt
den Klang
der Strahlung
still
wird Ursache
zu Wirkung
das Seltsame
zum Alltag
der Meridian
zum Ereignishorizont
die Glut der Sterne
beizt
Lärm und Leere
zu Rauchaal
am Morgen
riecht ein Brötchen
nach Mutters Locken
die leise Zeit
brennt im Ofen
die Bombe
tickt gewöhnlich
das System
wird
zur Wirkung
ein Fischbrötchen
wird
zur Ursache
Christian Knieps: CERN
Mein Mann und ich sind unterwegs zum CERN. Er will da unbedingt hin, während ich nur dabei bin, damit er nicht allein fahren muss. Dafür hat er mir versprochen, beim nächsten Besuch bei meiner Mutter dabei zu sein, denn wenn er dabei ist, ist meine Mutter meistens die Freundlichkeit in Person.
Auf dem Weg zum CERN bekomme ich eine Zusammenfassung seines Wissens, das ich kaum bewerten kann, weil ich weniger als die Hälfte verstehe. Nach den ersten Fragen lasse ich auch das Fragen sein, weil ich merke, wie angespannt er wird, wenn ich zeige, dass ich so gar keine Ahnung von dem Ganzen habe.
Als wir endlich ankommen, freue ich mich auf etwas Bewegung. Wir treten in das Eingangsgebäude und treffen andere Teilnehmer der heutigen Führung. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass es nur eine potentielle Leidensgenossin gibt, doch sie ist so gekleidet, dass sie auch Physikerin sein könnte. Also ist Vorsicht geboten.
Die Führung beginnt. Der Mann, der uns Einblick in das Wunderwerk der Technik gibt, ist mir in seiner leicht verpeilten Art direkt sympathisch. Meinen Mann nervt sein nasaler Tonfall. Wir werden durch das Gebäude geführt, die meisten, die den Eindruck machen, dass sie wissen, was hier geschieht, wirken von der Führung gelangweilt. Ich hingegen finde sie sehr interessant, da sie nur wenig Wissen voraussetzt. Zudem spüre ich, wie der Vortragende eine Begeisterung für diese Forschungseinrichtung versprüht, wie es Männer normalerweise nur für ihren Fußballverein machen.
Als sich die Führung zum Ende neigt, bin ich positiv überrascht, während mein Mann mir schon verraten hat, dass das hier pure Zeitverschwendung für ihn sei. In den Gesichtern der anderen Teilnehmer sehe ich eine ähnliche Meinung, auch in dem Gesicht der einen Frau, von der ich nicht erahnen konnte, mit welchem Wissenstand sie hier angereist ist. Zum Glück habe ich mit ihr kein einziges Wort gewechselt.
Die Führung wird beendet und es gibt zurückhaltenden Applaus. Schnell gehen alle auseinander, nur ich trete an den Wissenschaftler heran und sage ihm, dass mir seine Führung sehr gefallen hat, wenn ich nicht sogar begeistert davon bin. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse meinen Mann, der irgendwo im Verkaufsladen nach Fachliteratur sucht, von der er wohl kaum etwas verstehen wird. Hauptsache, er zeigt, wie sehr er in dem Thema drin steckt. Nach außen, versteht sich.
Wir beide hingegen machen uns über die Besucher lustig. Ich kann offen zugeben, dass ich nicht mal alles das verstanden habe, was der Wissenschaftler uns erklärt hat, aber er ist sich sicher, dass die anderen Besucher auch nicht mehr verstanden haben, es nur nicht zugeben wollen.
Auf dem Nachhauseweg schweigen mein Mann und ich lange, bis er äußert, wie enttäuscht er von dem Besuch ist. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sage, doch ich weiß auch, dass er noch weitere solche Besuche in seinem Kopf hat. Und so entscheide ich mich zu einem nichtssagenden Geräusch, das bei ihm als Bestätigung ankommt.
Ferenc Liebig : Die Wirklichkeit in kleinen Teilen
Man würde mich in die Berge schicken, dort, so sagte man, habe man eine neue Methode entwickelt, Prozesse des Unsichtbaren sichtbar zu machen. Ein gewisser Professor Beringer hatte erst vor kurzem eine Abhandlung geschrieben, in der es hieß, man könne nun in die Welt der Moleküle hineinschauen, Anregung und metastabile Zustände definieren. Sein Fazit lautete, ab jetzt bliebe nichts mehr im Verborgenen. Die Geheimnisse der Welt würden sich auflösen, wie ein vorher undurchsichtiger Nebel. Mein Doktorvater meinte, diese poetischen Abschlusszeilen hätte man sich sparen sollen. Darin ließe sich nicht die nötige Ernsthaftigkeit finden, die dieses Thema verdient hätte. Aber die Auswertung der vorliegenden Messdaten beeindruckten ihn. Die Modellrechnungen zeigten, so war er sich sicher, den Ursprung einer Veränderung in unserer Wahrnehmung. Man könnte meinen, dass wir an dieser Stelle den Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft setzen werden. „Es wäre eine Schande“, sagte er, „ihre Überlegungen und bisherigen Ergebnisse nicht mit diesem System untersuchen zu lassen.“
Man begleitete mich zum Flughafen und sagte mir, dies könnte der größte Durchbruch sein, den die Wissenschaft bisher erlebt hat. Vom Eifer gepackt, standen wir mit meinen Koffern neben der Haltebucht und glaubten, spätere Biographen würden diesen historischen Moment meines Abflugs mit großen Worten bedenken. „Was es bedeuten würde, wenn wir die Zusammenhänge verstehen könnten. Eine Energiewende, eine Revolution in der Pharmaindustrie, unendliches Leben vielleicht.“ Mein Doktorvater drückte mir einen Brief in die Hand. „Für Professor Beringer.“ Er sah mich nachdenklich an und gab mir den Hinweis mit auf den Weg, es würde sich um einen sehr scheuen Mann handeln, der in der Welt der Wissenschaft nicht immer ganz unumstritten war und dem man einen schweren Charakter und ein gewisses Dasein als Eigenbrötler zuschrieb. Nicht ohne Grund hätte er mich ausgewählt. Nicht wegen meiner Leistungen auf dem Gebiet der Elektronenverschiebung, sondern aufgrund meiner Diplomatie, den Umgang mit Kritik, meinen schier endlos ausrollbaren Geduldsfaden. Es wäre hilfreich, ihm nicht zu widersprechen.
Mit einem Stapel gebündelter Publikationen saß ich im Flugzeug und blickte aus dem ovalen Fenster auf die feuchte Landebahn. In Der entzauberte Regenbogen behauptete Richard Dawkins, dass das Wunderbare nicht weniger wunderbar wird, wenn wir es erklären können. Aber was würde geschehen, wenn sich die Komplexität der Welt herunterbrechen ließe, auf eine einzige Formel, wenn Heisenbergs Vermutung sich als richtig herausstellen würde, sein Ansatz nur falsch gedacht war, alles plötzlich erklärbar wäre, wie würden wir damit umgehen, wenn wir in den Nachthimmel schauen, ohne Faszination, ohne den Glauben an mehr, was würde das aus uns machen, wenn die Neugier nur noch ein Artefakt, die Existenz eines Gottes nur noch eine Randnotiz ist. Ein Gewitter hatte sich zusammenbraut. Kurz beschäftigte die Passagiere die Frage, ob der Flug überhaupt stattfindet, aber zur Erleichterung aller, entschied sich der Pilot für einen Start. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Zahlen, Buchstaben, Symbole erschienen mir in ungeordneter Reihenfolge, als würden sie verlangen, sortiert, zu einem höheren Sinn zusammengesetzt zu werden, aber es war mir nicht möglich, sie zu greifen. Als das Flugzeug abhob, begannen die Kopfschmerzen. Die Euphorie schlug in Mattigkeit um. Die Augen wieder öffnend, lag unter mir das winzige Berlin, eine Miniaturstadt, wie ein Modell, ohne Menschen, ohne Leben, dennoch wunderschön anzuschauen.
Mit anbrechender Dunkelheit knackste der Lautsprecher. Der Pilot sprach von Turbulenzen. Nicht sonderlich schweren, aber man wolle Panik vermeiden. Vor zwei Wochen war erst eine Maschine abgestürzt, die Leichenteile in einem Waldstück verteilt gefunden worden. Man wusste, solche Bilder und Information hätten sich noch nicht weit genug aus unserem Gedächtnis entfernt, um der Wahrscheinlichkeit eines Absturzes mit statistischer Logik zu begegnen. Mit Eintritt in die Wolkendecke wurde es holpriger. Ich dachte an die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen meines Doktorvaters. Seit meines ersten Gespräches mit ihm, fragte ich mich, ob er diese besonders reinigen würde, mit einem Wattestäbchen zum Beispiel und wie die Haut dazwischen aussah, wenn man die Falte auseinanderschob. Ein Tal der Ungewissheit, dachte ich schmunzelnd, als der Pilot wieder zu uns sprach. Ein Gewitter sei vor uns, nicht möglich zu umfliegen, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, man hätte schon häufiger solche Situation erlebt und wie man bemerken würde, bisher auch alle überlebt. Ein grunzendes Lachen beendete die Durchsage.
Es wurde einiges durcheinandergeschüttelt. Koffer regneten aus den Ablagefächern, eine Stewardess stolperte und hielt sich ungünstiger Weise an dem Kopf eines Passagiers fest, dessen Frau nicht besonders amüsiert darüber erschien, als ihre Brüste seine Wangen streiften, ein paar Sauerstoffmasken baumelten hinab und Gläser, ob gefüllt oder leer, fielen zu Boden und rollten nun kreuz und quer zwischen Gang und Sitzen entlang. Der Herr neben mir, ein hochdekorierter Anthropologe, der auf dem Weg zu einem Kongress in einen Nachbarort meines Zieles war, begann Stoßgebete zu flüstern, bis ich ihn vorübergehend beruhigen konnte. Mit simpler Mathematik erklärte ich ihm, dass die eigentliche Differenz zwischen Leben und Tod so gering sei, dass man schon die Nachkommastellen beachten müsste. Auch erzählte ich ihm von meiner Idee, der Nichtzugehörigkeit von Elektronen, diesem wimmelnden Wirrwarr an Energie, diesem Theorem, dass falls die Messungen ähnliche Tendenzen aufwiesen, dies der Welt der Physik den Atem stocken lassen würde. Ob er verstünde, fragte ich ihn, aber anstatt staunend zu applaudieren, wendete er seinen Blick ab und sprach wieder zu Gott, der doch an seine Familie denken sollte, die Kinder und Enkelkinder und die Trauer und wie viel noch entdeckt werden muss, er müsse noch so vieles entdecken und diesmal unterbrach ich ihn nicht, schaute aus dem Fenster in die Lichtblitze, die sich in den Wolken sammelten und spürte im Angesicht dieser Schönheit ein seltsames Glück, dass nur mit einer Theorie zu vergleichen ist, die sich von der Praxis belegen lässt.
In der Schule noch mit Niels Bohr konfrontiert, der seine Elektronen auf Kreisbahnen um den Kern schickte, kam später Erwin Schrödinger in die Bücher, der über ein mathematisches Modell die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen im Atom bestimmen konnte. Mittels Wellenfunktionen ließen sich die räumliche und zeitliche Entwicklung des Zustandes eines Quantensystems beschrieben. Als ich erstmal davon hörte, war ich endlos begeistert. Ich versuchte zu lesen, was es zu lesen gab. Fachbücher, Publikationen, Abrisse, biografische Notizen, Tagebucheinträge. Und je mehr ich las, desto ergriffener wurde ich. Meine Anschauung, mein alltägliches Verständnis von einfachsten Ausführungen, mein Bewusstsein für Details veränderte sich mehr und mehr und an Tagen, an denen ich hunderte Seiten studierte, in die Beschreibungen versank. Die Welt stellte sich anders dar, nicht mehr nur dreidimensional, sondern als ein Gebilde, eine Membran, in der sich alle Kräfte und Teilchen aufhielten. Daran musste ich denken, als der Pilot wiederholt zur Ruhe ermahnte und seine zehntausend Flugstunden als Garantie hergab, dass wir uns in sicheren Händen befanden. Leider konnten seine Worte herzlich wenig ausrichten, als der rechte Flügel einknickte und der Rumpf sich wie eine Treppenläuferspirale zu verziehen drohte.
Bei brennenden Triebwerken öffnete ich den Brief meines Doktorvaters. Ich wusste, er würde es nie erfahren. Wer sollte es ihm verraten, dachte ich grinsend, während sich das Flugzeug vornüber neigte und der hochdekorierte Anthropologe nun zitternd Bibelverse zitierte. Ich entnahm den Brief aus seinem Umschlag und entfaltete das Papier. Von draußen hörte man das geisterhafte Surren des Windes, das Rauschen von Geschwindigkeit, im Innern das Kreischen und Übergeben von Insassen, die jedwede Hoffnung aufgegeben hatten, dieses Flugzeug unbeschadet zu verlassen. Lieber Herr Beringer, stand da, mein Student, Sie werden ihn zu schätzen wissen, hat in den letzten drei Jahren seiner Promotion interessante, ich würde sagen, Erleuchtungen gehabt, wie ich vorher noch keinen meiner Promovierenden habe Erleuchtungen sehen gehabt, aber dies ist nicht das eigentlich Aufregende, das wirklich Aufregende ist, dass er erst am Anfang steht, selbst noch nicht weiß, zu was er fähig ist und ich Ihnen zusichern kann, er wird seinen Durchbruch erleben, bestenfalls mit Ihrer Hilfe. Gemeinsam wird es möglich sein, seine Vision zu vervollständigen und eine komplett neue Auffassung für unser Universum zu erlangen. Aber seien Sie streng mit ihm. Er neigt zu Höhenflügen und verschiebt schon durch leichte Ablenkungen seinen Fokus. Mit freundlichsten Grüßen, Prof. Dr. Dr. Mathuren. Ein wenig stolz auf diese Einschätzung, schloss ich den Brief und konnte nun schon flache Berge erkennen, auf die wir ungebremst zurasten.
Kurz vor dem Aufprall, dachte ich an meine Mutter, wie sie in der Küche vor einem übergroßen Suppentopf stand. Sie sagte, „komm schon mein Sohn“ und ich ging auf sie zu und sie wies mich an, einen Blick in den Topf zu werfen. „Dort ist deine Lösung“, rief sie aus. Ich beugte mich vor, doch anstatt kleingeschnittenes Gemüse vorzufinden, war es der Moment vor dem Urknall, den sie mit einer gemächlichen Bewegung herbeirührte. Ich wünschte mir, ihr rechter Arm hätte nicht mein Sichtfeld eingeschränkt, dennoch konnte ich eindeutig den Punkt erkennen, in dem sich die gesamte Energie sammelte und nicht nur das, ich verstand auch, warum sie sich genau in diesem Punkt sammeln musste, warum es keine andere Möglichkeit als diese gab. Unsere Blicke trafen sich. „Bis gleich“, sagte meine Mutter und ließ den Topfdeckel fallen.
Carsten Stephan: Elegie mit Schnee
Man wird am Morgen aus dem Schlaf gerissen.
Vorm Fenster schiebt wohl jemand diesen Schnee.
Man möchte nicht aus seinen warmen Kissen.
Der Wecker lärmt. Dann regt sich das Gewissen.
Man rafft sich auf und gurgelt mit Kaffee.
Man friert im Dunkeln an der Haltestelle.
Die Bahn fällt aus. Drei Flocken haben Macht!
Das Herz spielt auf wie eine Brasskapelle.
Man kommt zu spät in seine Großraumzelle.
Und auf dem Heimweg ist es wieder Nacht.
Man wird zuhaus im trüben Licht verstiegen,
Trägt drei Pullover und hat alles satt.
Man möchte in der Tropensonne liegen.
Nur hat man leider Angst vorm Fliegen
Und kauft bloß Birnen mit eintausend Watt.
Wenn man den Winterschlaf so richtig schliefe!
Man hat nicht mal in Süßem einen Halt.
Die Heizung rauscht. Die Nase schwillt im Miefe.
Man stürzte sich am liebsten in die Tiefe,
Doch ist es draußen eben viel zu kalt.
Man niest mit Fleiß und spuckend wie ein Lama.
Man geht sehr früh zu Bett und träumt konfus.
Vom Plansch im warmen Südseepanorama,
Vom Hai und eignen Bein … Ein ganzes Drama.
Dann schreckt man auf und tastet am Pyjama,
Denn ungern friert man nur an einem Fuß.