Arabella Block: Langeweile

Sie rufen: Steh auf, komm endlich raus, 
wir sterben vor Langeweile.
Doch ich habe keine Eile.
Träge treib ich in der Dünung
des Lakenlichts und peile
durch Wimpernlamellen den Sonnenstand. 
Ein Sommermorgen im Bett,
eidottergelb und flüssig.

Es ist eine heile
Welt und was mir fehlt, erfinde ich dazu.
Nichts dort draußen, nicht der grüne Duft, 
des rasenmäherkurzgeschnittenen Grases, 
auf dem man Ball spielt, nicht die steile
sonnenwarme Abfahrt aus Asphalt,
und die aufgeschürften Knie
über den umgeschnallten Rollschuhen, 
nicht das Quietschen der Schaukelseile
und das Kreischen der Horde, die sich schon gefunden hat,
nicht mal das Gefühl, wenn die gefangenen Heupferdchen 
sich in der klebrigen Faust regen,
ist so schön wie das hier:

dass ich noch ein wenig länger verweile, 
während ein Teil von mir durch alle Bilder schwimmt
und die Bilder, bunte Fische, 
wie aus schwarzem Wachs gekratzt,
schwimmen durch mich hindurch.
Die entscheidende Meile
vor der Küste des Tages genieße ich 
mich ganz, noch war die geile
kleine Insel unentdeckt. Ich war es ganz, 
das Reich, das ich nicht teile
oder verlasse, für irgendeinen Ruf.
Schickt mir keine Feile,
in Kuchen nicht und in Pasteten, nein.
Ich bin mir selbst die schönste letzte Zeile.

Şafak Sarıçiçek: Wohnung aus Déjà-Vu

In die Luft flirr Zeit, du kaulende du quappende.
Am Zeiger schlägt der Hase Haken.
Regen dünstet MORGEN. Dolche die Vögel, kleine Dolche.

Ich baue ein Stativ, darin diffus zu weilen.
Morgenhaut, Scheiben sammle ich, deine Weizen alt.
In die Luft flirr Zeit, du kaulende du quappende.

Berste ICH aus Trällerschnabeln, bist Kugel nun, streu dich !
Aus Teewellen dröhnt ein Rohr nach Luft. Tauch aus.
Regen dünstet MORGEN. Dolche die Vögel, kleine Dolche.

Wo ist dein Regelwerk, wo die Takellage ? Tauch ein.
DU baust Drohnen, den Verschwörungen hinzu.
In der Luft flirr Zeit, du kaulende du quappende.

Darin diffus zu weilen, wetzen sie am Tage.
Müde pocht ABLEBENDE NACHT, Schrittmacher, die Uhr.
Regen dünstet MORGEN. Dolche die Vögel, kleine Dolche.

Augenrand, frage zechende Nacht, frag Quartze.
Frag Herzuhr, wo nur die Parzenfäden ? Ich triefe Moderne.
In die Luft flirr Zeit, du kaulende du quappende.
Regen dünstet MORGEN. Dolche die Vögel, kleine Dolche.

Hanne Mausfeld: gehen gehen atmen atmen

Gestern waren sie noch nicht da bestimmt zehn riesig und knallrot und frischweiß immer das Gleiche mit mir einen kleinen Brocken verspeisen was würde es mit mir machen aber welche Dosis? wissen möcht ich’s gern wenn die Pilze so schießen dann sind gewiss auch die essbaren Pilze in Fülle vorhanden und Irene ist in Urlaub und kann nicht ernten immer nehme ich mir vor mit ihr zu gehen aber ich schreibe lieber noch lieber mach ich Musik oder spiele mit Sprache herum schon wieder so ein Scheißbremsenviech dass es immer weniger Insekten werden merk ich auch nicht heute muss ich unbedingt anfangen weiß nur nicht was ich zu Heimat sagen soll und bis nächste Woche muss ich was Brauchbares geschrieben haben muss? will! überall Pilze und ich kenne keinen aber die Urgroßmutter ich sollte schneller gehen und auf meine Füße achten von der hinteren Fersenmitte den Fuß leicht nach außen positionieren und abrollen das stärkt die Innenmuskeln und ist gut gegen X-Beine Mutter hatte X-Beine und musste operiert werden jetzt bin ich schon am Kreuzweiher und weiß nicht wie ich hier hingekommen bin Urgroßmutter haben wir oft in Ronsdorf besucht unterm Dach ein Stübchen da lebte sie ganz normal damals was war damals normal? ihr Haus und die Bandwirkstube verbrannten ausgebombt sie hat bei uns gestopft und beim Einschlafen mit mir gespielt wer zuerst eingeschlafen ist ruft PIP vielleicht war das meine Heimat? und dann haben wir uns beide kaputtgelacht atmen tief atmen und große Schritte mal wieder so ein Tag da lässt mich die Familie nicht los alles wegen der Schreiberei über Heimat – Heimat ist eigentlich die ganze Welt gleich bin ich bei den Fliegenpilzen ich werde sie genau zählen – neunzehn Pilze wie man sich doch vertun kann vorher dachte ich zehn wären schon viele man muss eben immer genau sein auch mit den Worten und den Wörtern vor allem wenn man sie schreibt und drucken will wahrscheinlich täuscht man sich öfter als man denkt neulich hab ich gelesen dass man von Fliegenpilzen nicht sterben kann. 

Arabella Block: Sucht

Sucht oder lasst es bleiben.
Sucht mich,
aber nicht
auf dem Grund des Glases,
das erst halb leer ist.

Sucht
hinter bunten Vorhängen aus Bildern und Rauch.
Sucht das Paradies
oder nur ein Nest
mit Süßem in Goldfolie.
Klingt das nicht unwahrscheinlich?
Sucht, was es nicht gibt.
Sucht, weil es nie so ist.
Wer sucht
sich nicht?
Sucht!

Arabella Block: Liebe lügen

Es geht mir gut. Alles klar, kein Problem. Nein, nein, das
macht mir nichts aus.

Geh du ruhig alleine. Ich hab eh zu tun. Du weisst,
ich bin gern mal zuhaus.

Versteh mich nicht falsch. Da steh ich doch drüber. Ich schätze, 
das musste mal raus.

Uns geht es doch Gold. Verglichen mit andern leben wir 
in Gefühls-Saus und Braus.

Okay vielleicht, ist es eher ein Säuseln. Doch keine 
Leberlauflaus.

Huch, wie das kitzelt. Ich kann nicht mehr, Gnade. Ach ich 
kleine, kreischende Maus.

Ja, ich dich auch. Das war ganz toll, mein Lieber.
Tosender Applaus.

Erst seit es dich gibt. Wie niemals zuvor. Ich bin eine 
sehr glückliche Fraus.


Elmar Tannert: Die große Stunde

Da stehen sie am Tresen vom Pik-As und warten auf ihre große Stunde: Weizen-Willi, Jehova-Michel, Bauch-Peter und Tschechen-Paul.

Paul besucht seit Jahren einen Tschechischkurs an der Volkshochschule. Damit trainiert er seine Zungenfertigkeit, denn Tschechisch verfügt nicht nur über eine Reihe höchst differenzierter Zischlaute, sondern gilt zudem als die vokalärmste Sprache Europas. „Man kann im Tschechischen Sätze bilden“, doziert Paul gerne, „die kommen ganz ohne Vokale aus. Wißt ihr zum Beispiel, was auf tschechisch heißt …“

„… ’steck deinen Finger durch den Hals‘?“ rufen Weizen-Willi, Jehova-Michel und Bauch-Peter im Chor, und Tschechen-Paul hebt sein Glas und ruft: „Strč prst skrz krk!“

Das rechte Rücklicht an seinem Wagen ist chronisch defekt. Das ist Absicht, denn Pauls Vision von seiner großen Stunde sieht so aus: Eines Nachts wird ihn die Polizei anhalten, um ihn auf das defekte Rücklicht hinzuweisen, und er wird sagen: „Kein Problem, ich hab immer ein Ersatzlämpchen im Handschuhfach – und der Kreuzschlitzschraubenzieher liegt gleich daneben!“ Und er wird das Wort „Kreuzschlitzschraubenzieher“ dank jahrelanger Zischlautübungen noch mit 3 Promille im Blut so vollendet artikulieren, daß die Polizisten einen etwaigen Verdacht auf Trunkenheit am Steuer sofort verwerfen werden.

Bauch-Peter hingegen nimmt seit Jahren Ballettunterricht. Deshalb läßt er es sich nicht nehmen, mit dem Auto ins Pik-As zu kommen, obwohl er gleich um die Ecke wohnt, denn Bewegung, sagt er, hat er zweimal die Woche im Ballett genug. Ihn haben sie einmal, es ist schon Jahre her, auf dem Strich entlanggehen lassen. Danach war der Schein ein halbes Jahr weg. Im Pik-As führt der Bauch-Peter immer wieder mit Hingabe seine große Stunde vor.

„Zieht einen Strich auf dem Boden! Aber schnurgerade! Und noch einen Hörnerwhisky für alle!“

Das lassen sich die anderen nicht zweimal sagen. Eine Wäscheleine wird knapp über dem Boden von Barhocker zu Barhocker gespannt, ein Kreidestrich wird daran entlanggezogen, und Bauch-Peter wieselt nicht nur exakt auf dem Strich auf und ab, sondern dreht auch nach dem zehnten Landbier noch anmutige Figuren dazu. Das soll ihm ein nüchterner Polizist erst einmal nachmachen …

Der Jehova-Michel wiederum nimmt den netten älteren Damen in der Fußgängerzone regelmäßig die neuesten Ausgaben von „Wachtturm“ und „Erwachet!“ ab und deponiert die Traktate gut sichtbar auf dem Beifahrersitz.

„Michel, mach uns den Prediger!“ ruft die Gesellschaft, wenn der Gesprächsstoff auszugehen droht. Dann stellt er sich auf einen umgedrehten Bierkasten, spricht über den menschlichen Leib als den Tempel Gottes und wettert gegen Alkohol- und Nikotinmißbrauch, bis seine Zechkumpane röchelnd und wiehernd von den Barhockern gleiten.

Auch er träumt von seiner großen Stunde. Er wird den Polizisten mit dem Führerschein eine religiöse Schrift in die Hand drücken und sie fragen, wie sie es mit Gottes Wort halten, und ob er sie einladen darf in den Königreichssaal zum Bibelstudium, und da werden sie, meint er, erstens schleunigst das Weite suchen und ihn zweitens für völlig unverdächtig halten – vorausgesetzt, er hat sein Atemgold-Bonbon im Mund.

Und der Weizen-Willi? Der steigt, wenn die Polizeistunde geschlagen hat, mit einer Sanitäterweste am Leib ins Auto und ist über kulturelle wie sportliche Großveranstaltungen stets informiert. „Na, Kollegen?“ wird er also im Fall des Falles ungefähr sagen, „auch noch Volksfesteinsatz gehabt?“

Seine Erste-Hilfe-Kenntnisse frischt er natürlich regelmäßig auf, denn jeder weiß ja, daß es auf der Welt die merkwürdigsten Zufälle gibt, und wie oft passiert genau das, was nicht passieren soll. Falls also einer der Polizisten während der Kontrolle einen Kreislaufzusammenbruch haben sollte, dann ist der Weizen-Willi auch nach einem Dutzend Hefeweizen und mehreren Sechsämter-Runden noch imstande, den Freund und Helfer qualifiziert zu betreuen. Die Tresenbesatzung weiß das zu schätzen, denn der Weizen-Willi hat noch jeden Trinker im Notfall so weit wiederhergestellt, daß er aus eigener Kraft sein Auto erreicht hat, und wenn es auf allen vieren war.

„Laßt euch nicht unterkriegen, Jungs!“ sagt Walter, der Wirt vom Pik-As, zum Abschied. „Denkt immer dran: Die Säule der Sicherheit im Straßenverkehr seid ihr!“

Walter liest regelmäßig Zeitung, und die veröffentlichten Statistiken, findet er, sprechen eine eindeutige Sprache: 2,5 Prozent aller Verkehrsunfälle, heißt es, werden von Betrunkenen verursacht. Mit anderen Worten: Die 97,5 Prozent Nüchternen sind es, die wie die Wahnsinnigen fahren.

Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro

Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren. 

»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?« 

»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …« 

Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten. 

Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch. 

»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei. 

Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt. 

Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen. 

»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.« 

»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren. 

»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit. 

»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung. 

»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!« 

Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las. 

Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb. 

Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte. 

»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!« 

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda. 

»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.« 

»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.« 

Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen. 

»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«

Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber

Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner

Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber


Michael Schmidt: Wuiser und die Ausgangsbeschränkung

Ja, das mit dieser Ausgangssache tut keinem von uns so richtig gut. Trotzdem gibt’s Leut, die damit besser umgehen können als andere. Die sehen dann das alles dann viel gelassener.

Das muss noch angeblich von den Genen herkommen. Von den menschlichen Genen her. Von der Eiszeit. Da haben die Leut ja auch eine Zeit lang nicht von der Höhle rausgekonnt, wenn der Gletscher die erst mal zugeschoben hat. Die haben dann halt abwarten müssen, bis der Gletscher wieder weggetaut war. Freilich, ein, zwei Mammuts hat da auch jeder im Vorrat gehabt. Oder ein Riesenfaultier. Was halt gerade da war. Was man am Wasserloch halt noch so alles vorgefunden hat, wenn nicht die anderen Höhlenmenschen schon dagewesen war’n und alles weggeschnappt haben. Da hat man auch schnell sein müssen. Weil einen Kadaver oder ein Aas hat keiner gern genommen.

Jäger und Sammler, sagen die Forscher dazu. „Der Mensch, ein Jäger und Sammler“. Und weil das so lange gegangen ist, hat sich das Ganze dann halt in die Gene abgesetzt. Ja, freilich, das sieht man heute noch! Hat man die letzten Wochen ja gut wieder im Supermarkt gesehen. Hat man gut beobachten können: Tagsüber warn sie noch im Home Office, und am Abend dann sind alle zu Jäger und Sammler geworden. Das ist der Instinkt, der sich da einschaltet. Dann legen alle den Jäger- und Sammler-Turbo ein. Bloß, dass man heut noch an der Supermarktkasse vorbeimuss, bevor man die Beute heimbekommt. In der Eiszeit war das dann so was wie ein zugefrorener Felsspalt. Da haben sie dann auch alle so komische Laute gemacht. Das kann man heute noch an der Supermarktkasse hören, diese unheimlichen Urlaute. Wie sie mit der Beute dastehen und warten müssen, bevor sie sich damit davonmachen können.

Wie damals am zugefrorenen Felsspalt. Da hat sich nichts groß geändert. Das kann Ihnen der Herr Wuiser auch bestätigen.

Der Professor Wuiser steht die Tage nämlich öfters neben der Supermarktkasse und nimmt da mit dem Tonbandgerät auf. Ganz hervorragende Urlaute. Und wenn er zu den Leuten sagt, dass er von ihnen einen solchen Urlaut braucht, weil er ein Forscher ist, dann kriegt der den auch prompt. Und wenn er Glück hat, sogar gleich mehrere. Weil das ist eine wunderbare Gelegenheit, dass man einmal die echten Urlaute hören und aufnehmen kann, hat der Professor Wuiser gesagt und, dass wir darum heut eigentlich in einer ganz ertragreichen Zeit leben täten.“

Malva: Traum

Flirrende Sommerhitze, ein altes Bauernhaus, hohes Gras und Mondblumen.

Der kleine Bach im August 1969.

Augen schließen sich, Leben erzähl mir von dir!

Kindheit, Konformität, alles ist möglich, ich betrete mein Haus, sehe eine alte Holztreppe, geschlossene Türen, kalte Fliesen, Stille.

Neugierde führt in Raum Eins, Leichtigkeit, Experimentierfreude, Lieben, Tiefschlaf.

Größtes Glück, in Raum Zwei sind sie, sechs Kinder, meine Kinder- und dann, ungläubiges Staunen, meine fünf Enkel.

Rückblick in Raum Drei.

Steile Stufen führen hinauf, Kälte, Anstrengung, Angst, Schuld, Hoffnung, ich gehe nach Jahren schnell hinaus und nie wieder zurück.

Ich spüre die Sonne, noch eine Tür, Raum Vier. Ist verschlossen.

Zaghaft öffne ich sie und sehe die Menschen und Tiere, die immer Bedeutung hatten, die bedingungslos liebten, die meinem Haus Leben gaben und die mich in schlafloser Nacht zum Traum einladen.

Tiefer Frieden ist hier. Zuhause.

Die helle Sommersonne blendet.
Augen öffnen sich.

Traum, erzähl mir mehr vom Leben!