Philip Krömer: Erbschuld

I Erbsache

Das Display zeigt die Nummer meiner Schwester, ich hebe mit Widerwillen ab. Ob ich mich um das HAUS kümmern könne. Nachdem sie doch bereits den Verkauf organisiere. Sie komme so bald nicht fort von ihrer Arbeit, die Anreise sei zu weit, schon zur Beerdigung hatte sie es nicht geschafft. Welche ebenfalls sie, aus der Ferne, in die Wege geleitet hatte. Nur beim Herablassen der beiden Särge bediente ich die Winde, warf eine Schippe Erde hinterher, für alles andere war gesorgt. Wenigstens konnte ich, als einziger der wenigen Trauergäste, ein paar Tränen weinen.

Unser ELTERNHAUS. In dem wir aufgewachsen waren. Oben am Hang. Das müsse jetzt weg.

In dem meine Eltern nach unserem Auszug alleine lebten, selten Besuch bekamen, am seltensten von meiner Schwester oder mir. Und wo sie vor wenigen Wochen kurz nacheinander starben. Als sie das Telefon nicht mehr abhoben, informierte ich den Notarzt, der dann auch die Toten fand. Man verstaute sie in ihren Särgen, ohne dass ich sie vorher noch einmal gesehen hätte. Der Bestatter riet davon ab, die Leichen hatten wohl schon einige Zeit unbemerkt gelegen.

In beiden Fällen ging man von natürlichen Todesursachen aus. Anzeichen für einen Suizid gab es keinen und auch die Verwahrlosung überstieg nicht das übliche Maß von, von ihren Mitmenschen abgesondert lebenden Greisen. Bei den so nah beieinanderliegenden Todeszeitpunkten musste es sich um Zufall handeln.

Also ob ich nun? Ja, ja, ja, ich würde mich um das HAUS kümmern.

II Erbgut

Unser ELTERNHAUS liegt am Wendehammer einer Sackgasse, vom Balkon aus, ich erinnere mich, überblickt man die ganze Stadt. Der Garten, aus dessen Wildnis noch das Gerüst unserer Holzschaukel ragt, fällt bis zum Grundstücksende hin steil ab, wo die Igel ihre Winternester bauten und der Kompost stank. Ich erinnere mich.

Die Tür ist nur angelehnt, der Notarzt musste sie aufbrechen. Der Teppich im Flur ist voller Flecken, Altpapier stapelt sich in den Ecken, wo anfangen? Ich versuche den Lichtschalter und den Wasserhahn im Gästeklo. Strom und Wasser funktionieren noch. Das macht mir die Sache leichter, sollte ich hier bis in die Nacht beschäftigt sein. Und für die dunklen Ecken brauche ich auch keine Taschenlampe.

Meine Schwester hat längst einen interessierten Käufer für das Grundstück gefunden, das aufgrund seiner Lage inzwischen viel wert ist. Ihren Erbteil möchte sie anderweitig investieren. Auch ich habe nichts gegen ein bisschen Bargeld. Doch dafür muss zuerst das Haus weichen. Mit seinem feuchten Mauerwerk und dem morschen Dachstuhl ist es nurmehr ein Verkaufshindernis, eine Renovierung wäre viel zu teuer.

Der Abrissunternehmer, den meine Schwester schon für morgen engagiert hat, sagte mir im Vertrauen, wenn wir keine Lust hätten auszumisten, sollten wir alles Gerümpel einfach stehen lassen. Eigentlich müsse das getrennt entsorgt werden. Aber für einen Tausender extra nehme er das Risiko auf sich. Mit dem Bulldozer zusammengeschoben lande es mit Mauerwerk und Ziegeln in der Mulde für den Bauschutt. Wer könne dann noch zwischen Anrichte und Tragebalken unterscheiden? Elektrogeräte, Rohre und Leitungen entferne er vorher, das Material lasse sich weiterverwerten, die Einrichtung dagegen – die durchgesessenen Polstermöbel und Sperrholzregale mit den Büchergilde-Ausgaben – die sei die Mühe doch nicht wert …

Den Tausender werde ich von meiner Hälfte des Erlöses nehmen. Um das Ausräumen muss ich mich also nicht kümmern, lediglich ein paar Erinnerungsstücke auswählen und versteckte Wertgegenstände suchen.

III Erbmasse

Im Keller steht das Wasser knöchelhoch, eingesickert vermutlich aus einem geborstenen Rohr. Die Akten meines Vaters, seine Urkunden, sie sind alle verschimmelt. Auf der Couch im Wohnzimmer wurden ihre beiden Leichen gefunden. Obwohl ich eine Pause bräuchte, setze ich mich nicht. In der Küche herrscht Chaos, nur die Kaffeemaschine ist gut in Schuss. Und wo man seine Tasse hinstellen würde, bevor man den Kaffee durchlässt, steht auch eine.

Und der Kaffee darin. Ist noch warm.

Ohne eine Erklärung dafür finden zu wollen, treibe ich mich zur Eile an. Mit dem ausgestreckten Arm schiebe ich die Bücher von den Regalbrettern. Im Obergeschoss leere ich den Kleiderschrank meiner Eltern aus und schneide sogar mit einem Teppichmesser ihre Matratzen auf. Wertsachen finde ich keine.

In Mutters Malzimmer, meinem ehemaligen Kinderzimmer, das an das Schlafzimmer der Eltern grenzt, haben sie dafür mein altes Bett wieder aufgebaut. Ein nostalgischer Anfall auf ihre späten Tage? Die Bettpfosten sind bedeckt mit ausgeblichenen Stickern. Das Bett ist natürlich längst zu kurz für mich, meine Füße ragen über den Rahmen hinaus, aber Kopfkissen und Decke sind frisch bezogen. Sie riechen sogar noch nach Waschmittel. Beim Aufstehen stoße ich mir den Kopf am unter der Deckenlampe hängenden B52, der all die Jahre in einer Kiste auf dem Speicher verbrachte. Stundenlange Arbeit mit den filigranen Bauteilen und Klebstoff. Ich erinnere mich.

Und fahre herum. Im Flur bewegt sich etwas. Schritte lassen die Treppe knarren. Unten Stimmen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, eine Gameshow, wie Mutter sie mochte. Auch den Fernsehanschluss abzuklemmen, hat der Techniker bisher wohl nicht geschafft.

IV Erblast

In der Küche brennt Licht, wo ich es zuvor löschte. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Das Verhältnis von Kaffee zu Milch entspricht demjenigen, das mein Vater bevorzugte. Ich erinnere mich.

Ich texte meiner Schwester, dass sich jemand im Haus befinde, der seinen Kaffee genau wie Papa trinke. Obwohl es mittlerweile spät ist, schreibt sie mir sofort zurück: schon soweit, siehst du jetzt gesiter? du hast doch irhe leichen gesehn!!

Habe ich nicht. Ich half nicht einmal, ihre Särge zu tragen, drehte lediglich an der Winde, wobei nicht festzustellen war, ob die Särge schwer wogen. Die Übersetzung war zu groß. Oder ob sie leicht waren, wie leer.

Im ersten Stock rauscht die Klospülung.

Dann die Stimme. Was machst du denn noch auf, Bub? Komm, geh hoch ins Bett. Mama kommt gleich noch mal zu dir.

Ich stehe ohne zu atmen. Als ich doch wage, mich umzudrehen, ist dort niemand. Und träum was Schönes.

Das Bett meiner Eltern ist aufgeschlagen, als bereite sich jemand auf die Nacht vor. Im Badezimmer gurgelt der Spülkasten. Die Zahnbürsten sind nass. In mein Kinderbett passe ich, als wäre ich nie daraus aufgestanden.

Haaaben Iiiwan Puschkin, Sekt und Wodka
Erst. So recht. In Stimmung dann gebracht,
Tanzt er Kasahatschok mit seiner Nina,
Biiis. Am Mooorgen. Dann der Tag erwacht, ja, ja, ja …

Mutter war immer eine gute Sängerin, ihr Repertoire jedoch war klein. Die Lieder, die sie uns zum Einschlafen vorsang, folgten, wie auf einem Musikalbum, stets einer festen Reihenfolge. Und wenn sie mit dem letzten Lied fertig war und wir schliefen immer noch nicht, begann sie wieder von vorn.

Mama? – Ein Glück, dass ihr uns nicht habt kremieren lassen. Papa hat sich da auch sehr gefreut drüber. – Mama, wie? – Ach, die neunzig Zentimeter zwischen Sargdeckel und Erdoberfläche! Wenn du nicht ganz malad bist, schaufelst du das doch in ein paar Stunden mit den Händen weg. –

Bis. Am Morgen. Dann.

V Der Tag erwacht

Pünktlich um acht Uhr kommen die Arbeiter, um die Kabel aus der Wand zu klopfen. Sie finden mich noch im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, die Beine angewinkelt, wartend, dass man mich zum Frühstück ruft. Mittags sollen schon die Bagger anrücken? Ich rufe meine Schwester an, doch sie lässt das Telefon klingeln. Ja, ja, ja.

Clara Fieger: N Latte

Stell dir vor, du arbeitest in einem kleinen Café im Kern einer von Menschen überfüllten Innenstadt.
Draußen regnet es heute.

Die Gäste kommen und gehen.

Du bereitest ein Getränk nach dem anderen zu, in der Hoffnung es gelingt nach der Vorstellung und zur Zufriedenheit des Gastes.
Ab und zu bestellt jemand einen Kuchen. Du schneidest das Stück ab.
Du hoffst dabei, dass es gerade wird, nicht zu klein, um nicht den Gast zu verärgern und noch zu groß, um genügend Stücke aus dem Gesamtkuchen herauszubekommen.

Die Gäste legen ihre nassen Schirme in den vorgesehenen Schirmständer. Du denkst daran, dass diese Schirme, wenn der Regen aufhört, womöglich vergessen – vielleicht sogar für immer zurückgelassen werden. Die Schirme, die durchnässte Kleidung und die tropfenden Haare bringen eine dämpfige Luft in den Raum hinein.

Es läuft Musik.
Lo-Fi-Hiphop.

Du kannst einige Gesprächsfetzen der Gäste aufschnappen, hörst aber eigentlich nicht wirklich zu. Interessiert dich ja eh überhaupt nicht, über welche Beziehungskrisen, Weihnachtsgeschenkideen oder Jobverträge sie quatschen.

Nach einigen Stunden der heutigen Schicht werden die Positionen hinter dem Tresen gewechselt. Dein Platz an der Kaffeemaschine übernimmt jetzt jemand anderes. Du bist an der Kasse. Puh. Das heißt mit den Gästen im direkten Kontakt.

Cappuccino. Espresso. Kuchen. 2 x Cappuccino mit Hafermilch. 3 große Cappuccini, einer davon laktosefrei.
Americano mit einem Schuss Sojamilch. Filterkaffee. 2 x Cappuccino und 2 Kuchen. Espresso. Americano – schwarz. N Latte.

Einen Caffé Latte oder einen Latte Macchiato?

Caffé Latte. Americano. 2 Espressi. Großer Sojacappuccino. 4 x Cappuccino zum mitnehmen. 2 Filterkaffee. N Latte, bitte.

Einen Caffé Latte oder einen Latte Macchiato?

Caffé Latte. Americano und ein Macchiato.

Espresso Macchiato oder Latte Macchiato?

Espresso Macchiato. 2 x Cappuccino. Espresso und Kuchen. Ein Latte Matschatscho.

Okaaaay.

One Latte, please.

Caffé Latte or Latte Macchiato?

Caffé Latte, please. N Latte.

Caffé Latte oder Latte Macchiato?

Latte Macchiato. 2 Americano. Espresso. 2 Kuchen. Filterkaffee zum mitnehmen. Cappuccino mit Sojamilch. Mokka.

Entschuldigung, wir haben hier keinen Mokka.

Mokka?

Wir haben hier leider keinen Mokka.

We don’t have Mokka.

Mokka?

(sprachlos)

Hallo, ich hätte gerne einen Caffé Latte, bitte.

(love <3)

N Latte.

Caffé Latte oder Latte Macchiato?

N Latte.

N Latte.

Mooooookkkkka?

N Latte.

N Latte.

N Latte.
N Latte.
N Latte.
N Latte.
N Latte.
N Latte.


Latte hier, Latte da.

Der nächste, der N Latte bestellt, bekommt ein Glas Milch, denkst du.

Im Hintergrund läuft der Lo-Fi-Hiphop.

Margret Bernreuther: Lügen

Die Luft in den Kabinen, aus denen sie normalerweise aufs Spielfeld hinaus liefen, war zum Schneiden.
Sicherlich wird es heute noch regnen.
Auch nachdem sie die engen Gänge verlassen hatten und die Tribüne betreten hatten, veränderte das wenig an der vorhandenen Luftqualität.

Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war laut. Ich hatte sein Hemd und das Sakko bereits durchgeschwitzt und die Veranstaltung hatte noch nicht einmal begonnen.
Vier Stunden lang wird alleine der offizielle Teil der Veranstaltung dauern.
Mittlerweile ist etwas Wind aufgezogen.
Auf den Rängen sitzen tausende Menschen und singen und tanzen.
Es ist ein schöner Anblick.
Jahrelang habe ich ein bei der „University of Lecturers“ ein Fernstudium betrieben, um mich auf diesen Tag vorzubereiten. Ich bin der Beste, den sie kriegen konnten. Ich werde heute meinem Land Ehre erweisen. Auf dieser Veranstaltung, die im ganzen Land, ja in der ganzen Welt zu sehen sein wird.

Ich bin schon lange wach. Wenn ich ehrlich bin, habe ich überhaupt nicht geschlafen heute Nacht. Nachdem ich weiß, wie streng die Sicherheitsvorkehrungen sein werden, habe ich mich früh auf den Weg zum Stadion gemacht. Meine Frau und meine Kinder haben noch geschlafen. Sie werden die Übertragung später im Fernsehen ansehen.
Ich habe nicht gefrühstückt. Ich wollte niemanden wecken.
Ich kann mich nicht setzen. Die Stühle sind alle mit prominenten und wichtigen Namen versehen.
Immer wieder entdecke ich bekannte Gesichter. Schon oft habe ich bei wichtigen Anlässen gedolmetscht, aber das heute schlägt alles.
Vor 5 Tagen starb Nelson Mandela, heute wird sich die Welt von ihm verabschieden. Und ich werde derjenige sein, der die Nachricht in die Welt trägt.

Über die Stadionlautsprecher wird durchgesagt, dass Barack Obama im Stadion angekommen ist.
Die Menge rastet förmlich aus. Der schwarze amerikanische Präsident, ist für uns alle die große Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch irgendwas in unserer Welt verändern wird.
Das Geschrei und die Gesänge sind ohrenbetäubend. In diesem Moment wünschte ich mir selbst, ich wäre taub. Meine Kehle ist staubtrocken.
Ich verstehe nicht, warum ich nichts zu trinken bekomme. Nur weil ich nicht rede?

Und nun setzte der Regen ein. Eigentlich hatte es seit Tagen nicht aufgehört zu regnen. Ein Zeichen dafür, dass auch der Himmel trauert. Die Menschen in den Rängen spannen ihre Schirme auf.
Nun werden meine Schweißflecken sicherlich niemandem mehr auffallen.
So viele Menschen sind gekommen. Staatsmenschen aus der ganzen Welt.
In ganz Johannisburg gibt es kein einziges freies Hotelzimmer mehr.
Alles musste sehr schnell gehen. Ein Freund hat mir erzählt, dass er Gäste aus seinem Hotel hatte werfen müssen, damit er Platz für den deutschen Bundespräsidenten hatte. Ich habe mir seinen Namen nicht gemerkt.
Ich muss mich nun auf meine Aufgabe konzentrieren. Das, was von mir erwartet wird.
Ich werde heute alle Reden der wichtigsten Menschen der Welt und die der Angehörigen von Nelson Mandela in die Welt übersetzen.
Gebärdensprache ist, wenn man so will, die universellste Sprache die es gibt. 


Eine Sprache, die die Welt vereint. 

Allen gehörlosen Menschen auf der Welt ist es möglich, diese Sprache zu verstehen. Ich spreche zu allen von ihnen.
Das hat mich damals auch dazu bewogen, meinen Abschluss in Gebärdensprache zu machen.
Ich wollte eine Sprache, die alle verstehen können. Und lernte sie an der Komani Schule. Ich wurde schon auf viele Feste als Dolmetscher eingeladen.

Der Regen wird immer stärker und in die Blasinstrumente der Kapelle fließt das Wasser. Gar nicht so einfach, einen Schirm und eine Tuba gleichzeitig zu halten.
Die Nationalhymne verklingt und die Trauerfeier hat nun offiziell begonnen.
Obwohl noch längst nicht alle Gäste im Stadion angekommen sind. Aber Obama, Obama ist da.
Unser Präsident ergreift das Wort.
„Mandela hat sich Regen gewünscht. Denn Regen bedeutet, dass du im Himmel willkommen bist“
Der Jubel der Gäste ist dieses Mal so laut, das es mir beinahe schwarz vor Augen wird.
Ich versuche mich, auf die Worte unseres Präsidenten zu konzentrieren.
Aber es ist so laut. Ich verstehe ihn nicht richtig. Aber ich kenne die Sprache die ich spreche.
Ich habe schon so viel Erfahrung und ich werde das einzig Entscheidende in diesem Moment machen: ich werde den Menschen Mut machen mit meinen Worten. Mit meinen Zeichen. Die Zeichen, die mir der Engel in den oberen Rängen zu verstehen gibt.

Wir alle beten gemeinsam. Wir alle singen gemeinsam. Der Regen wird immer heftiger.
Und auf einmal ist das zuvor Geschehene, als wäre es nur eine Art Aufwärmtraining gewesen.
Barack Obama betritt die Bühne und ab diesem Moment bin ich taub.