Der Atem
bleischwer
das Kleid
Trauer
die dich
in die Tiefe reisst
Im Dunkeln
suchst du
nach Licht
Das Magazin für Eigenart
Der Atem
bleischwer
das Kleid
Trauer
die dich
in die Tiefe reisst
Im Dunkeln
suchst du
nach Licht
ich bin ein kreiselndes Geschöpf
am Toten Punkt
jenseits der Jetztzeit
die Uhren beben
und laufen ab
nur für mich
das Transistorradio verkündet
meinen Einschlag auf den Mond
und im Dorf
haben sie es ja schon immer gewußt
Massen versammeln sich am Horizont
meine verklebten Augen
sehen den Würgereiz ihrer Gesichter
im Stall stopfen sie mir trockenes Heu
ins freche Maul
reglos ertrag ich die Fütterung
nach Vorschrift des Führers
im Graben
ist die Strömung zum Erliegen gekommen
und das Denken
dort liegt die Freiheit im nassen Sarg
ich falle quer hinein
dieser Bruch wird nicht verheilen
ein scharfer Schatten
seziert meinen falschen Mut
das Transsistorradio verkündet
meine Läuterung
ich habe mein Bett
unter euer Fenster gerückt
gleich morgen
werde ich etwas aus dem Leben machen
mein Wein wird sauer
wann er will
Ratten können gehen
wohin auch immer
nur ich
ich
ich bin gefangen
Durst ist mein Käfig
ich kämpfe hart
habe keine Furcht
nur
vor der Freiheit
aber ich werde
euch Allen verzeihen
euch Alle bezahlen
euch Alle lieben
ihr Ratten
ich werde etwas aus dem Leben machen
ich habe mein Bett
unter eure Freiheit gerückt gleich morgen
Napoleon Bonaparte, Kultmegaloman in kleiner Uniform, sitzt in einer Hollywoodschaukel auf seiner Terasse. Seit seiner Niederlage bei Waterloo hat man ihn nicht mehr so entschleunigt gesehen. Er scheint in Gedanken versunken, in seinem Gesicht zuckt kein Muskel. Nur wenn er einen Schluck aus der halben Kokusnuss mit Strohalm nimmt, die ihn sein Familienminister vor dem Gespräch bereitgestellt hat, verzieht sich seine Miene: Es scheint nicht zu schmecken. Die Stille von St.Helena, einer kleinen Insel im Pazifik, scheint Napoleon geradezu zur Ruhe zu verdammen. Doch innerlich lodert seine Flamme weiter, wie er uns im Interview verrät. Ein Gespräch über Abgeschiedenheit, Gartenarbeit, die Fragilität von Macht und über Punk.
SPIEGEL: Herr Bonaparte, dies sind schwierige Zeiten, Ich habe schon viele Interviews geführt, aber dies ist das erste, bei dem ich eineinhalb Meter abstand halten muss.
Napoleon: Ja, schwierige Zeiten in der Tat, schwierige Zeiten. (blickt verträumt auf die Vulkanspitzen)
SPIEGEL: Aber ich möchte mich trotzdem ganz herzlich bedanken, dass sie sich die Zeit für uns genommen haben.
Napoleon: (lacht scharf und ironisch auf) Ja, bitteschön. Ich habe momentan eigentlich recht viel Zeit …
SPIEGEL: Danke
Napoleon: Ja, bitte.
SPIEGEL: Dankeschön, wirklich. das ist sehr … lieb.
Napoleon: Ja, zum Henker, bitteschön!
SPIEGEL: Danke! Sie sind ja schon einige Jahre hier in der Verbannung auf St. Helena. Was können wir als freie Europäer denn von Ihnen als unfreien Ex-Europäer lernen?
Napoleon: Wenn sie mich so fragen: Nichts.
SPIEGEL: Aber sie müssten doch der absolute Grand Expert in sachen Isolation sein. Wie halten sie es aus so ganz ab vom Weltgeschehen?
Napoleon: Sie sagen das mit so einem Unterton, das gefällt mir gar nicht!
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Napoleon: Na das mit dem Grand Expert in Sachen Isolation. Sie wissen schon, das ich immernoch der Grand Impereur bin oder?
SPIEGEL: Ach so?
Napoleon: Natürlich! Zugegeben, mein Reich hat sich etwas verkleinert. Ich herrsche hier mit allem Pipapo und sogar Hofstaat über meinen Garten.
SPIEGEL: Ihren Garten?
Napoleon. Das hat mein Arzt empfohlen: Herr Empereur, hat er gesagt, gehen sie doch mal in den Garten und schneiden sie Rosen und Hibiskusblüten ab; Das hilft gegen die Langeweile und die Gicht. Ja, und das habe ich dann gemacht. Zuerst war das auch ganz fabelhaft: Ich habe diese stacheligen Blumen ganz herrlich gezähmt und mir unterworfen. Doch dieses Drecksgestrüpp ist einfach immer nachgewachsen! Sie müssen wissen, mein Garten ist sehr groß …
SPIEGEL: Lassen Sie mich da mal kritisch einhaken: Wie groß genau?
Napoleon: So groß (Napoleon zieht seine Hand aus seiner Hose und macht eine ausladende Bewegung).
SPIEGEL: Hat es eigentlich einen Grund, dass sie die Hand nicht mehr im Revers tragen, sondern in der Hose?
Napoleon: Hä?
SPIEGEL: Fahren sie fort!
Napoleon: Also die Rosenscheiße wuchs immer wieder nach und so befahl ich meinem Koch, dass er jeden Tag genau einen Daumen dick abschneiden solle von allen Rosen.
SPIEGEL: Ein solider Plan, wie mir scheint …
Napoleon: RUHE! Damit fing der Mist ja gerade erst an! Mein Koch war den ganzen Tag am Rosenschnibbeln. Denn wie ich bereits erwähnte, ist mein garten sooo … egal. Seine eigentlichen Schnibbelpflichten, die in der Küche nämlich, vernachlässigte er also sträflich. Was natürlich unverzeihlich ist.
SPIEGEL: Ja, und dann?
Napoleon. Naja dann habe ich meinen Innenminister zum Kochen geschickt, und meinen Arzt zum Koch in den Garten zum Rosenschnibbeln. Dadurch ist aber zum einen eine Vakanz im Innenministerium entstanden die ich umgehend mit dem Minister für Digitales und Infrastruktur auffüllen musste und meinen zweiten General, eine Schnarchnase vor dem Herrn übrigens, habe ich beordert, meine täglichen Arztvisiten abzuhalten.
SPIEGEL: Interessant …
Napoleon: Ich bin noch nicht fertig! Durch diese Rochaden entstand in meinem (macht ein verächtliches Gesicht) “Parlament” ein Machtvakuum und löste eine kleine Regierungskrise aus. Und jetzt habe ich Rosen mit perfekten Blutwerten und einen 5G-Funkturm in meinem Wohnzimmer und muss mir bei jeder Arztvisite anhören, dass es das beste gegen meine Gicht wäre, wenn ich mir beide Beine amputieren ließe.
Sie sehen an diesem Beispiel, wie fragil Macht ist: Es braucht nur ein paar Rosen, um einen ganzen Staat zu zersetzen. Diese Engländer können ihnen davon ein Liedchen singen.
SPIEGEL: Es scheint mir so, als würde ihnen nicht langweilig werden, trotz der Verbannung in die absolute Abgeschiedenheit.
Napoleon: Was reden sie da? Es ist dermaßen fade. Ich möchte etwas singen!
SPIEGEL: Aber …
Napoleon: I’m so bored with St.Helen
I’m so bored with St.Helen
But what can I do?
SPIEGEL: Sind sie ein Punk, Herr Bonaparte?
Napoleon: Was erlauben sie sich?
SPIEGEL: Entschuldigung, dumme Frage.
Napoleon: Ja.
Spiegel. Verzeihung.
Napoleon. Schon gut.
SPIEGEL: Anders gefragt: Rosenschneiden, Regierungsgeschäfte, Arztvisiten. Bleibt da überhaupt noch Zeit, die Stille von St.Helena zu genießen?
Napoleon. Was ist denn das nun wieder für eine Frage? Was meinen sie, warum ich das alles mache? Meinen sie wohl, ich wäre hier zum Spaß? Ich schlage hier meine letzte Schlacht. Die schlacht gegen die Langeweile, die Stille. Also möchte ich durchaus sagen, dass ich erfolgreich bin, trotz der ganzen Amateure um mich herum. Entourage, entourage! ich kann es nicht mehr hören! Wuseln ständig in meinem schönen Garten herum und bringen alles durcheinander.
SPIEGEL: Wie lebt es sich denn so im Hause Bonaparte im Südatlantik?
Napoleon: Naja, ich habe einen sehr großen Hut und ein sehr kleines Bett. daneben versuche ich meine Memoiren zu schreiben. Und von wegen Abgeschiedenheit! Ganz im Gegenteil: Sie wissen ja gar nicht wie viele Touristen Täglich, stündlich versuchen in mein Anwesen zu gelangen, um mich zu begaffen. Das ist die eigentliche Demütigung: Die Romantisiereung meiner Abgeschiedenheit durch dahergelaufene Taugenichtse, die mir beim verschimmeln zuschauen wollen. PACK!
Und so versuche ich mich noch weiter zurückzuziehen: Ich gehe nur noch aus dem Hause, wenn es gar nicht anders geht. Und eigentlich geht es immer anders. Man braucht halt nur einen funktionierenden Hofstaat, dann kann man auch zu hause bleiben.
SPIEGEL: Viele Menschen, die momentan in Isolation leben, würden dem vielleicht entgegenen, dass sie keinen funktionierenden Hofstaat zu Hause haben. Haben sie den Realitätsbezug verloren, Herr Bonaparte?
Napoleon: Nein.
Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren.
»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?«
»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …«
Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten.
Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch.
»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei.
Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt.
Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen.
»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.«
»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren.
»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit.
»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung.
»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!«
Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las.
Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb.
Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte.
»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!«
Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda.
»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.«
»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.«
Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen.
»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«
Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner
Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber
»Du musst auch einmal raus aus deinem Kellerverlies«, sagte Tante Mathilda nachdrücklich. Großonkel Vladimir, dem dieser Ratschlag galt, knurrte einen vergeblichen Protest.
»Ich sehe keine Veranlassung dazu, irgendwohin zu gehen …«, schimpfte er.
Doch Mathilda schob ihn mit sanfter Gewalt auf den Beifahrersitz von Idas silbernen Auto, während Ida sich ans Steuer setzte. Im hellen Licht des Tages tanzten Milliarden Staubkörnchen um Vladimirs kahlen Schädel. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe und sein Anzug war über und über bedeckt mit Spinnweben und Staubflusen.
»Wenn Mathilda sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist Widerstand zwecklos, Vladimir, das solltest du am besten wissen«, sagte Ida und zündete sich eine Zigarette an. »Wir machen jetzt zusammen eine kleine Einkaufstour für Onkel Serban, trinken noch ein Bierchen in einem Café und schon sind wir wieder zu Hause.«
»Kauf nicht zu viele von diesen Dingern, mein Schatz«, sagte Mathilda flehentlich. »Du weißt, dass dein Onkel Serban dazu neigt, maßlos zu übertreiben, insbesondere, wenn er die ganze Nacht durch Schnaps getrunken hat.«
»Verlass dich auf mich, Tante!« Ida startete den Motor und fuhr los.
»Wie … krchkchkch«, begann Vladimir, doch seine Worte blieben in einem heiseren Husten stecken, das klang, als kratzten eiserne Sohlen über Kopfsteinpflaster. »Wie kommt der kleine Serban darauf«, fuhr er mühsam fort, als er wieder ein wenig mehr Luft bekam, »sich einen Vorrat dieser idiotischen … Kchkchkchrrch …«
»Du scheinst wirklich ein bisschen frische Luft brauchen zu können«, sagte Ida, »Der Schimmel im Keller ist auf Dauer nicht gesund …«
»Unsinn!« maulte Vladimir und kurbelte das Fenster herunter. »Dieser Serban – wie kommt er nur immer auf diese Schnapsideen?«
Ida seufzte, warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und riss das Steuer hart nach links, so dass das Auto mit quietschenden Reifen um eine Ecke schlitterte. Hinter ihnen blökte ein Rudel wütender Hupen.
»Serban hat doch diese Spekulationsmaschine erfunden«, erklärte Ida. »Der Koffer aus rotem Leder im Gästezimmer, mit den schwarzen Beschlägen, fast so groß wie ein Schrank und drei mal so schwer.«
»Stimmt – den habe ich schon mal gesehen. Habe mir überlegt, wer wohl da drin wohnt.«
»Niemand wohnt da drin. Es ist ein komplizierter Mechanismus. Auf der einen Seite befindet sich eine Klappe, wenn man einen Gegenstand über Nacht hinein stellt und am anderen Morgen wieder heraus holt, kann man erkennen, ob der Gegenstand in nächster Zukunft an Wert gewinnt oder verliert: Ist der Gegenstand größer – wird er teurer, und umgekehrt. Die Maschine ist Serbans Meisterwerk!«
»Dieser Narr«, meckerte Vladimir, während Ida den Wagen parkte und sich eine weitere Zigarette ansteckte.
»Ich bin sofort wieder da, o.k.? Verhalte dich unauffällig!« sagte sie und tätschelte liebevoll Vladimirs mageres Knie.
Eine Staubwolke stieg auf. Ida schnappte sich ihre Handtasche und entfernte sich entschlossenen Schritts in Richtung der nächsten Querstraße. Als sie eine knappe Viertelstunde später aus einem Ramsch- und Allerlei-Geschäft trat, trug sie einen großen braunen Pappkarton, in dem sich schwarze Vögel türmten – Plastik-Raben, die als Taubenvergrämer dienten. Ida hatte alle Vogel-Imitate, die im Laden vorrätig gewesen waren, aufgekauft, da Serbans Maschine in der nächsten Balkon-Saison ein großes Geschäft prognostizierte. Als sie um die Ecke bog, sah sie schon von Weitem eine Gruppe Jugendlicher neben ihrem Auto stehen. Sie schienen sich um das Beifahrerfenster zu drängen.
Plötzlich begannen die jungen Leute zu schreien, das schrille Kreischen der beiden Mädchen hob sich deutlich von dem übrigen Gebrüll ab. Unmittelbar danach begannen die Jugendlichen zu rennen. Als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her wäre, hetzten sie den Bürgersteig herunter in Idas Richtung.
»Nichts wie weg!« brüllte der Junge, der an der Spitze rannte. Fast wäre er mit Ida und der überquellenden Kiste zusammengestoßen.
Er bemerkte sie im letzten Moment und prallte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zurück. Der Anblick der bleichen Frau mit der großen dunklen Brille im Gesicht, die einen Berg schwarzen Vögel vor sich her schleppte, gab der Schar den Rest – in heillosem Schrecken stoben die Jugendlichen auseinander und waren im Handumdrehen in irgendwelchen Nebengassen verschwunden.
»Was ist passiert?« fragte Ida, als sie beim Wagen angekommen war, Vladimir, der seelenruhig auf seinem Platz saß. Die Scheibe der Beifahrertür war herunter gekurbelt und Vladimir steckte seinen Ellenbogen ganz lässig aus dem Fenster.
»Nichts.«
»Irgendetwas muss passiert sein! Diese Kinder sind davon gerannt, als gälte es ihr Leben!«
»Ich bin wohl eingeschlafen. Die Hitze ist heute auch drückend wie der Bleideckel auf einem Sarg. Auf einmal hörte ich Stimmen neben meinem Ohr, aber ich dachte, sie gehörten in meinen Traum. ›Hey, guck mal, da sitzt ein Toter‹, sagte jemand. – ›Quatsch, da schläft einer!‹ sagte eine zweite Stimme. ›Schau dir das mal an! Der Anzug total verstaubt, das Gesicht ist ganz gelb und die Augen stehen halb offen – das ist eine Schaufensterpuppe.‹«
»Hast du wieder mit offenen Augen geschlafen?« sagte Ida in einem vorwurfsvollen Tonfall.
»Kann sein«, erwiderte Vladimir unwirsch, »aber das geht wohl niemanden etwas an!«
»Was geschah dann?«
»Zwei oder drei sagten: ›Total cool! Eine Schaufensterpuppe im Auto!‹ und ein anderer meinte: ›Wisst ihr was? Der drücke ich eine Dose Bier in die Hand!‹« Vladimir verstummte und machte keine Anstalten, in seiner Erzählung fortzufahren.
»Das war alles?« fragte Ida schließlich.
»Ja. Dann bin ich aufgewacht und hab mir die Typen mal genauer angesehen.«
Ida schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen … aber sei’s drum. Unser Auftrag ist erledigt, wir können heim fahren.«
Sie wuchtete die Kiste mit den Plastik-Raben auf den Rücksitz und nahm hinter dem Steuer Platz. »Es ist in der Tat verdammt heiß heute«, stöhnte sie.
»Willst du einen Schluck Bier?« fragte Vladimir und streckte ihr seine dürre wachsgelbe Hand entgegen, in der er eine Dose hielt. »Ist sogar noch kalt.«
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Großonkel Vladimir: Arthur Roscher
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber
Ida saß auf dem Sattel ihres schwarzen Damenrades und stützte sich mit einem Fuß an der wuchtigen Türschwelle des Gründerzeit-Wohnhauses ab. Es war Herbst, der Himmel hing graugelb wie Haferschleim über der Stadt, ein eisiger Wind blies durch die Straße und schleuderte eine Handvoll Regentropfen nach der anderen waagrecht gegen Passanten und Fensterscheiben. Auf dem Gepäckständer des Fahrrades war eine Banane festgeklemmt. Ida machte keine Anstalten, abzusteigen oder loszufahren. Stattdessen rauchte sie eine lange, dünne Zigarette in einer silbernen Zigarettenspitze. Ein kleiner Junge mit einem bunten Schulranzen auf dem Rücken bog um die Ecke und hüpfte auf die Türschwelle.
»Hey, Alfons!« begrüßte Ida den Buben, der mit seiner Mutter und seiner Schwester im zweiten Stock wohnte.
»Hey, Ida! Was machst du denn mit der Banane auf dem Fahrrad?« fragte der Junge.
»Spezialdienstleistung: Lebensmittel ausliefern. Neuer Job. Ich halte gerade die Ruhezeit ein.«
Sie blies einen Rauchring in die Luft. »Magst du schon mal hoch? Onkel Serban ist zu Hause. Er spielt bestimmt was mit dir, bis deine Mama nach Hause kommt.«
In diesem Moment ertönte ein gedämpfter Klingelton. Ida begann, ihren rechten Arm zu schütteln. Rasch tauchte ein schwarzer Gegenstand im Bündchen ihrer schwarzen Lederjacke auf, und es dauerte nicht lange, da baumelte ein klobiger Telefonhörer an einem Spiralkabel aus dem Ärmel.
»Lieferdienst Hotz & Partner … ja? … o.k., ich komme sofort!«
»Muss du schon fort?« fragte Alfons.
»Ich bin gleich bei euch! Ich muss nur schnell in die Südstadt, da braucht jemand in der Humboldtstraße dringend ein frisches Ei.«
Ida streckte erneut ihren Arm aus und wackelte kurz mit dem Ellenbogen, woraufhin ein schneeweißes Hühnerei aus dem Ärmel in ihre Hand rutschte.
»Ui!« sagte Alfons und machte große Augen. »Wie machst du das?«
»Übung, reine Übung!« grinste Ida und entblößte ein Paar nadelspitzer langer und schneeweißer Eckzähne.
Sie klemmte das Ei vorsichtig neben die Banane unter den Metallbügel des altmodischen Gepäckträgers. Dann drückte sie die große schwarze Sonnenbrille fest auf ihre Nase und radelte los, während Alfons im Haus verschwand.
Keine fünf Minuten später tauchte Ida wieder im Wohnzimmer ihrer Tante Mathilda und ihres Onkels Serban auf. Serban und die Nachbarkinder saßen auf dem Sofa und starrten angestrengt nach oben zur Decke. Alle drei hatten eine messingfarbene Pfeife im Mund stecken, in die sie mit aller Kraft hineinbliesen, aber kein Ton war zu hören. Oben, dicht unter der Stuckverzierung kreisten mit einem Affentempo drei Fledermäuse, die um die Wette flogen.
»Na, ihr beiden! Spielt ihr wieder Fledermaus-Olympiade?«
Onkel Serban spuckte die Ultraschall-Pfeife aus und schnappte geräuschvoll nach Luft. Sein großer runder Kopf glühte rot, wodurch seine weiße, in alle Richtungen abstehende Mähne besonders gut zur Geltung kam.
»Genau! Diese kleinen Räuber hier haben mich zuvor schon beim Kirschkern-Spucken, bei ›Knochenmühle‹, Grabstein-Memory und beim ›Zombie, ärgere dich nicht!‹ besiegt!«
»Und zwar zu Null!« jubelte Alfons‘ Schwester Emilie.
In diesem Moment klingelte erneut das Telefon. Ida holte den Hörer aus dem Ärmel und nahm das Gespräch an: »Zwei Scheiben Salami? Scharf? Pferd – kein Problem! Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.«
Sie sprang auf die Beine und schlang ein weites Tuch mit aufgedruckten Totenköpfen um ihren Kopf.
»Lass mal Kind, ich mach das«, bestimmte Onkel Serban. »Leg du mal die Beine hoch!«
»Aber Onkelchen! Ich bin noch gar nicht erschöpft! Den Lieferdienst habe ich doch erst heute morgen erfunden – «
»Nichts da!« widersprach Serban energisch. »Ich bin quasi schon unterwegs!«
Er griff sich mit links und rechts hinter beide Ohren und zog jeweils eine Scheibe Salami hervor. Dann rief er »Tschü-üüs!« und machte einen Salto aus dem Fenster.
»Na gut«, sagte Ida, »dann zock eben ich mit euch weiter. Der liebe Serban hofft doch nur darauf, dass ihm der Kunde einen Schnaps ausgibt. Was haltet ihr von einer Runde Phantom-Poker mit den Spinnen auf dem Dachboden?«
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Alfons: Benedikt
Emilie: Emma
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber
Obwohl draußen finstere Nacht herrschte und die schweren schwarzen Vorhänge vor den beiden Fenstern sorgfältig zugezogen waren, tröpfelte von irgendwo her milchiges Zwielicht in das Schlafzimmer. Im Bett, das an der Wand stand, lagen Onkel Serban und der Schattenlose und hatten die dicken Daunendecken bis an die Nasenspitzen hochgezogen. Auch von Ida und Tante Mathilda, die sich im großen Ehebett gegenüber der einzigen Tür eng aneinander schmiegten, waren nur die Köpfe zu sehen. Alle vier schwiegen sie und starrten gebannt auf den Ziegenschädel, der über dem Türbalken an die Wand genagelt war; eine angstvolle Anspannung schwebte fast greifbar im Raum. Plötzlich ließen drei harte Schläge an der Tür die Liegenden heftig zusammen zucken. Onkel Serban riss sich zusammen und fragte mit belegter Stimme:
»Wer da?«
»Ich bin’s, Vladimir. Lasst mich hinein!« lautete die Antwort.
»Es ist offen«, rief Serban.
Ein schwarz gekleideter Mann, um dessen dürren Schädel sich ein verfilzter Haarkranz wand, trat hastig ein. Von seinem Rock rieselte leise Staub, ein intensiver Geruch nach Moder breitete sich rasch aus.
»Wo warst du so lange?« zischte Ida. »Wir haben uns bereits Sorgen gemacht!«
»Tut mir leid«, krächzte Großonkel Vladimir, »ich bin noch einmal eingeschlafen.«
»Wir haben keinen Platz mehr in den Betten«, jammerte Tante Mathilda. »Wo soll Vladimir bloß hin?«
»Ich setze mich einfach in den Schrank«, sagte Vladimir gelassen und verschwand lautlos in Mathildas wuchtigem Kleiderschrank.
Wieder wurde es vollkommen still im Raum, und vier Augenpaare starrten auf die gehörnte Schädelplatte über der Tür. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis Mathilda es nicht mehr aushielt.
»Jedes Jahr das gleiche!« brach es aus ihr heraus. »Irgendwann ertrage ich das nicht mehr!«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Serban und bemühte sich, seine Worte ruhig und fest klingen zu lassen. »Wir haben es bisher noch jedes Mal überlebt, und auch dieses Jahr werden wir es wieder schaffen.«
»Und wie war das damals, als ihr euch drei Tage lang in dem Sarkophag des Bischofs verstecken musstet?« fragte Ida, und in ihrer Stimme mischten sich Angst und Vorwürfe. »Als alle Einwohner des Dorfes nach euch suchten, und sie mit Fackeln in jeden Keller stiegen?«
»Weißt du, wie lange das her ist?« verteidigte sich Serban.
»Mir kommt es so vor, als wäre es gestern gewesen«, wimmerte Mathilda und zog die Decke endgültig über den Kopf.
»Und als die jungen Burschen mit Hammer und Eichenpflock über den Berg kamen, weil sie meinten, ihren Mut beweisen zu müssen?« ergänzte der Schattenlose. »Onkel Drago hatte damals unverschämtes Glück, dass sie ihm nur ein Loch in den Wams bohrten!«
In diesem Moment näherte sich auf der Straße, von den Vorhängen kaum gedämpft, das Geräusch eines Dieselmotors. Ein Auto hielt direkt vor dem Haus, zwei Türen wurden geöffnet und wieder in Schloss geworfen. Alle hielten den Atem an. Schritte waren zu hören, eine Stimme rief etwas unverständliches. Erst, als sich das Motorengeräusch längst wieder entfernt hatte und die Welt draußen wieder in tiefes Schweigen gefallen war, atmeten die vier eingemummten Gestalten vorsichtig auf.
Diesmal bracht der Schattenlose, der bisher mucksmäuschenstill seinen roten Haarschopf ins Kissen gedrückt hatte, das Schweigen.
»Verdammt! Verflixt und zugenäht«, schimpfte er.
»Das macht mich echt fertig! Da!« flüsterte Ida mit erstickter Stimme. »Sie kommen wieder! Hört ihr?«
Tatsächlich hörten alle ein schnarrendes Geräusch, dessen Ursprung sich nicht ausmachen ließ.
»Ein Motor ist das nicht«, sagte Serban.
Alle lauschten gebannt auf das Brummen, das scheinbar immer lauter wurde, je länger sie angestrengt lauschten.
»Es ist Onkel Vladimir«, verkündete auf einmal Ida. »Er schnarcht.«
»Das ist doch zum Kotzen!« murrte der Schattenlose.
»Man könnte sagen: eine einzige Speisal!« kicherte Ida.
Nach kurzer Zeit begann Mathilda, zunächst nur leise und dann immer lauter zu lachen und endlich stimmten auch Serban und der Schattenlose in den Heiterkeitsausbruch ein. Da erklang plötzlich ganz nah der Schlag einer großen Glocke. Gewaltig dröhnte die tiefe Schwingung in dem kleinen Zimmer wie in einem Resonanzboden, und abrupt verstummten die vier. Immer mehr Glocken begannen zu läuten, von überall her dröhnten die Schläge, bis die Luft förmlich Wellen schlug wie ein Blech, an dem ein Zirkushühne rüttelt. Ida und Mathilda, Serban und der Schattenlose zogen die Bettdecken über den Kopf und verharrten in angstvoller Starre. Dann, anfangs fast unmerklich, ebbte der Klang der Glocken wieder ab, nach und nach verstummten sie, bis es schließlich wieder vollkommen still in der Welt außerhalb des Zimmers war.
»Geschafft!« schrie da Ida und sprang aus dem Bett. Sie hatte komplett angekleidet unter der Decke gelegen. Aus einer der Taschen ihres schwarzen Kleides fischte sie hastig eine Zigarette und zündete sie sich an. »Wir haben es geschafft!« rief sie.
»Dem Teufel sei es gedankt!« seufzte Mathilda stand ächzend auf.
»Seht ihr«, sagte Onkel Serban und zog knirschend seine Stiefel an. »Wie ich es gesagt habe: der Ostersonntag kommt und geht, ohne dass uns jemand belästigt hätte…«
»Und Großonkel Vladimir?« fragte der Schattenlose.
»Der kann weiter im Schrank bleiben«, sagte Tante Mathilda. »Es reicht, wenn er sich morgen wieder in seinen Sarg im Keller verzieht. Wir trinken jetzt als erstes einen Likör, würde ich sagen, zur Feier des Tages den besten Blutbeerenlikör westlich der Karpaten.«
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Tante Mathilda: Verena Schmidt
Der Schattenlose: Philipp Abel
Onkel Vladimir: Arthur Roscher
Regie/Schnitt:
Andreas V. Weber
Titelmusik:
Andreas V. Weber
Durch die geöffnete Tür zum Balkon erschallte die Klingel an der Wohnungstür. Tante Mathilda stand auf und strich sich die Schürze glatt. „Nanu?“, sagte sie, „Besuch, so spät am Nachmittag? Erwartest Du noch einen Deiner Saufbrüder, Serban?“
Serban, der sich entspannt in seinem schwarzen Korbstuhl zurück gelehnt und die Beine ausgestreckt hatte, schüttelte den Kopf mit dem imposanten, weißen Haarschopf.
„Nicht dass ich wüsste“, sagte er und lächelte ein spitzbübisches Lächeln.
„Ach!“, rief Mathilda aus, „ich weiß, wer es ist! Es ist bestimmt der junge Mann aus dem dritten Stock, der sein Paket abholen will.“
Sie verschwand in der Küche, um zu öffnen. Es war ein herrlicher Sommertag, der gerade zu dämmern begann, und Ida saß seit dem Mittagessen mit ihrem Onkel Serban und ihrer Tante Mathilda auf dem Balkon. Auf dem Tisch stand noch das benutzte Geschirr vom Kaffeetrinken, ein paar Kirschkerne auf den Tellern waren das einzige, was von der großen, roten Sahnetorte übrig geblieben war.
Nach ein paar Minuten kam Mathilda zurück und schob einen jungen, dünnen Mann mit einer sehr geraden Nase und schmalen Lippen vor sich hinaus auf den Balkon.
„Ich dachte, der Herr Weber möchte sich auf eine Tasse Kaffee zu uns setzen. Einen so schönen Abend muss man auskosten!“
Ida seufzte und klopfte die Asche ihrer Zigarette am Balkongeländer ab. Sie wusste genau, dass ihre Tante permanent auf der Suche nach einem passenden Ehemann für sie war.
„Hallo“, sagte sie gelangweilt.
„Setzen Sie sich doch junger Mann“, sagte Onkel Serban leutselig.
„Noch einen Kaffee für Sie?“, fragte Tante Mathilda. „Oder darf es ein kleiner Kognak sein? Wir haben da einen ausgezeichneten bulgarischen… ?“
„Danke, weder noch. Ich will auch gar nicht lange stören“, sagte Herr Weber artig.
„Was arbeiten Sie eigentlich, Herr Weber?“, fragte Tante Mathilda. Sie legte großen Wert darauf, dass Idas zukünftiger Ehemann auch in der Lage wäre, eine Familie zu versorgen.
„Ich bin Ingenieur und habe mich auf Audio-Technologie spezialisiert. Ich arbeite in einem Forschungslabor, das Breitband-Mikrofone entwickelt“, antwortete der junge Mann.
„Oh, sehr interessant“, sagte Tante Mathilda, ohne sich wirklich für die Einzelheiten zu interessieren. Sie beobachtete Ida, die gelangweilt rauchte und mit den Augen, die hinter einer Sonnenbrille verborgen waren, den dunkelnden Himmel absuchte.
„Da!“, rief Ida, „Die erste Fledermaus!“
„Tatsächlich“, rief Herr Weber begeistert aus. „Diese Tiere sind etwas ganz besonderes! Sie orientieren sich mit Ultraschall-Impulsen, und können so auch Nachts zwischen den Bäume fliegen, ohne anzustoßen. Ich habe während meiner Diplomarbeit für einen Biologen einen Konverter entworfen, der Ultraschall-Signale in den hörbaren Bereich herunter bricht…“
„Interessant“, sagte nun auch Onkel Serban. „Wollen sie eine aus der Nähe ansehen?“
„Wie meinen Sie das, aus der Nähe?“, fragte Herr Weber verständnislos.
Doch anstatt zu antworten, stand Serban auf, und schleuderte mit einer Geschwindigkeit, die man bei einem Mann seines Alters nie erwarten würde, seine Hand nach vorne. Der Arm schien sich dabei über das gewöhnliche Maß hinaus zu stecken, im Zwielicht sah er aus wie ein Teleskop, das länger und länger wird, und im Schwung von Serbans Bewegung flatterten die Rockschöße seines altertümlichen Jacketts. Als Serban seinen Arm wieder einzog und sich hinsetzte, hielt er die rechte Faust fest geschlossen. Mit der linken Hand rieb er sich die Schulter.
„Argh! Mein Rücken ist wirklich nicht mehr das, was er mal war!“, stöhnte er, „Dieser verdammte Rheumatismus …“
„Das kommt davon, wenn man sich in jeder kalten und feuchten Nacht auf dem Friedhof herumtreibt“, belehrte ihn Mathilda überflüssiger Weise, aber man sah ihr deutlich an, dass sie im Grunde ihres Herzens die Schmerzen ihres Mannes mitfühlte und ihn, ohne sich selbst je zu schonen, pflegen würde.
Ida grinste verstohlen, und zündete sich die nächste Zigarette an. Sie amüsierte sich über das verdutzte Gesicht des jungen Mannes, der nun stotternd protestierte: „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass Fledermäuse unter Artenschutz stehen. Und auch Tollwut übertragen können, also vielleicht sollte man sie nicht einfach berühren oder so…“
„Wollen Sie sich das Tier nicht ansehen?“, fragte Serban, „Nein? Macht auch nichts,“ fuhr er fort und schob sich den Inhalt seiner Faust in den Mund. Er kaute ein wenig darauf herum, und man konnte das Knacken von zerbrechenden winzigen Knochen hören. Herr Weber wurde blass. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
„Ich glaube, ich muss jetzt gehen“, sagte er hastig. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht aufhalten. Nein, nein, ich finde alleine zur Tür.“
Im Handumdrehen war er verschwunden. Mathilda warf Serban einen strengen Blick zu: „Musst Du immer diese albernen Spielchen treiben, Serban?“ sagte sie tadelnd.
Serban spuckte die Splitter eines zermalmten Kirschkerns auf seinen Teller.
„Ich bin dir dafür dankbar, Onkelchen“, verkündete Ida, „dieser blutleere Typ ging mir von Anfang an auf die Nerven. Ein Ingenieur… !“
„Ida! So wirst du nie einen Mann abkriegen!“, schimpfte Mathilda.
„Will ich das, Tante Mathilda?“
Tante Mathilda schwieg beleidigt und machte sich daran, das Geschirr in die Küche zu tragen. Serban und Ida kicherten in unausgesprochenem Einverständnis. Dann steckte sich Onkel Serban einen Zigarillo in den Mundwinkel und Ida stieß zwischen den Zähnen einen schrillen Pfiff aus.
Nur wenige Sekunden später landete die erste Fledermaus auf dem Balkongeländer. Ida schob den Ärmel ihres schwarzen Kleides hoch über den Ellenbogen und hielt ihren blütenweißen Unterarm dem Tier vor die Nase. Die Fledermaus neigte sich nach vorne und biss zärtlich in das helle Fleisch. Weitere Fledermäuse folgten und bald wimmelte der Balkon von schwarzen ledrigen Schwingen.
„Ach, ein so schöner Abend! Ich hätte nicht wenig Lust, meine Freundin Isabella zu besuchen“, seufzte Ida.
„Isabella?“, fragte Mathilda, die sich wieder zu Serban und Ida gesetzt hatte, mit übertriebenem Erstaunen. „Isabella? Du hast Isabella doch seit mindestens fünf Jahren nicht mehr besucht!“
„Ach Tantchen, nun übertreib mal nicht. So lange ist sie doch noch nicht einmal tot…“
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Tante Mathilda: Verena Schmidt
Herr Weber: Patrick Rank
Regie/Schnitt:
Andreas V. Weber
Titelmusik:
Andreas V. Weber
Irgendwann in Amsterdam. Ein sonniger Morgen erhellt eine Suite in einer Jugendherberge. YOKO und JOHN erwachen gerade in ihre Flitterwochen hinein. Auf dem Tagesplan stehen heute eine original Industriehafenrundfahrt und eine coole Käseverkostung. Der Wecker gibt
einen Urschrei von sich. YOKO klappt hoch und begrüßt den Tag.
Y, herzallerliebst: Hui, was für ein schöner Morgen! Da möchte ich doch mal meinen Lieben Mann aufwecken. JOOOOHN! AUFWACHÄN JETZT! WIR HABEN HEUTE VIEL VOR!
John stöhnt, schält sich aus den Federn und sieht nicht ganz so frisch aus. Sein Bocklevel ist sichtlich low.
J: Was ist denn los mein Hasenpfötchen? Wie spät ist es denn?
Y, gewaltig schreiend: HALB SIEBÄÄHN! IN NER HALBEN STUNDE GIBTS ESSEN UNTEN!
J: Ach Rohrspätzchen, können wir nicht noch ein bisschen liegen bleiben? Nur 5 Minuten? Ich kauf uns dann später ne Dose Fisch und Chips unten am Hafen, ok?
Y: JOHN! KEINE AUSREDÄN! WIR WOLLEN DOCH SIGHTSEEING MACHÄN!
J: Ja schon, aber wir können auch noch in fünf Minuten Sightseeing machen, Hurzelpurz!
Y: WIR SIND HIER IN DER SCHÖNSTEN STADT EVER UND DU WILLST PÄNNÄN? DA HAB ICH MIR JA EINEN TOLLEN MANN GEANGÄLT! AMSTERDAM HAT DEN SECHSTGRÖSSTEN INDUSTRIEHAFÄN VON DER GANZÄN WÄLT. WAS KANN DENN JETZT WICHTIGER SEIN ALS SO EINÄ. EINMALIGÄ. INDUSTRIEHAFÄNRUNDFAHRT?
J: Na, Der Weltfrieden.
Y: DER WAS?
J: Der Weltfrieden.
Y: DAS HAB ICH AKUSTISCH SCHON VERSTANDÄN! ABER WAS HAT DAS MIT DEM WELTFRIEDÄN ZU TUN, WENN DU DA RUMLIEGST?
J: Joghurtschnäuzchen, wenn überall auf der Welt jetzt gerade alle Menschen noch ein bisschen liegen bleiben würden, dann wäre immerhin schon mal fünf Minuten Weltfrieden, oder?
Y: HM DA HAST DU WOHL RÄCHT!
J, erstaunt: Ja, wirklich?
Y: JA! LEG DICH RUHIG HIN! SCHNÄLL, BEVOR SIE WIEDER BOMBEN IRGENDWO REINSCHMEISSEN! LOS, SCHLAFÄÄN!
John ist sichtlich verwundert und schüttelt den Kopf und Yoko sieht ihrem Mann dabei zu, wie ihn der Kaltschaum zufrieden schmatzend in sich aufnimmt.
[bliep]
Werbeunterbrechung: Hallo Kids! Mein Name ist Dr.Mabuse und ich bin Zahnarzt. Immer wieder werde ich gefragt, wie man seine Zähne am besten vor dem abfaulen schützt. Leider fragen das die meisten Menschen erst, wenn ihnen die – sie verzeihen mir den Ausdruck – gammeligen Stumpen schon auf halb 12 aus dem Fressbrett hängen. Tja, blöd gelaufen.
Dabei ist die Lösung so simpel wie genial: Einfach zweimal täglich Zähneputzen. Wichtige und wertvolle Gesundheitstipps wie diesen erhalten sie jede Woche in der Apothekerbeschau. Ein erhabenes Magazin, gedruckt auf echtem Papier zum anfassen und zum riechen.Apothekerbeschau: Das Magazin für die Ewigkeit. Jetzt in jeder Apotheke
[bliep]
JOHN wacht auf und muss sich schütteln. das Zimmer ist berstend voll von
Menschen. es handelt sich um ein Rudel Journalisten, die das junge Paar keck mit ihren Digitalkameras anpirschen, Immer auf der Suche nach heißen Neuigkeiten zum aktuellen Weltgeschen. Drollig!
J flüsternd zu Yoko: Wer sind diese Leute?
Y leise schreiend: DAS SIND JOURNALISTÄN, JOHN!
J: Um Himmels Willen, wieso das denn? Ist das nicht gefährlich? Sind die Stubenrein?
Y: WIR MACHÄN JÄTZT KUNST JOHN!
J: Bittewas?
Y: KUNST! JOHN!
J: Ja das hab ich akustisch schon verstanden, Schmusekätzchen. Aber was hat das alles zu
bedeuten?
Y: WIR MACHEN EIN BED IN! WIR SIND ALSO QUASI IN THE BED DRINNEN, JOHN. UM ZU PROTESTIERÄN!
John ahnt worauf das ganze hinausläuft, reibt sich die Stirn und startet sein Morgendliches Yogaprogramm. Es beginnt mit dem Sandwurm.
J: Für den Weltfrieden, stimmts?
Y GENAU! DU BIST SOOOOOOOOOO. KLUG.
Das Rudel wird immer unruhiger. Die Jungtiere lechzen nach frischem Informationen, da tritt der Alpharüde hervor und beginnt zu investigieren. Ein Verhalten, dass in dieser Jahreszeit für ältere Journalisten übrigens vollkommen natürlich ist.
Journalist: Wuff! Guten morgen die Herrschaften, Wolfram Eschenacher von der Züricher Zeitung. Sie protestieren hier also für den Frieden?
J: Ja, naja … also demonstrieren … das war mehr so ‘ne kindliche Trotzreaktion …
Journalist: sehr interessant WUFFWUFFWUFF!. Und was soll das bringen? ist das nicht ein bisschen – verzeihen sie mir den Ausdruck – arrogant von ihnen? Dass Sie denken, dass sie durch herumlümmeln WUFFWUFF wirklich etwas verändern können?
Y säuselnd: Das ist nicht arrogant, sondern antiautoritär. Wissen sie, wenn nämlich alle Menschen einfach mal länger liegen bleiben täten, dann wäre ja auch auf der ganzen welt …
Journalist: HAHAHAWUFFWUFFWUFF sind sie nicht putzig?
Das Rudel, das bisher still zugehört hat, kann sich vor Bellen nicht mehr halten. Zwei Jungtiere, die wohl Ihren Platz in der Gruppe behaupten müssen, brechen aus der Gruppe
aus.
Jungjournalist Tim: TIm von der Bento hier, wüff. Wann wird endlich gebumst bei euch?
Jungjournalist Tom: Tom von Vice, kläffkläff. Genau! Wir brauchen Content!
Ein wilder Tumult bricht los. John und Yoko verschränken ihre Arme und bleiben regungslos sitzen. Den Journalisten wird klar, dass hier nichts weiter passieren wird und sie traben aus dem Zimmer.
J: Endlich sind die weg. Naja, dann können wir jetzt ja runter zum Früh…
Y: BIST DU DOOF? DU MACHST NOCH UNSER KUNSTWERK KAPUTT! DU BLEIBST SCHÖN LIEGEN!
J: Aber ich hab Hunger
Y: NICHTS GIBTS, DIE KUNST GEHT VOR. MEINST DU, JOSEPH BEUYS HÄTTE SICH AUS SEINEN KUNSTWERKEN ERST EINMAL EIN SCHMALZBROT GEMACHT, NUR, WEIL ER EIN BISSCHEN HUNGER HATTE? NEIN HÄTTE ER NICHT! ER HAT GETAN
WAS GETAN WERDEN MUSSTE! NÄMLICH KUNST. SO!
J: Is’ ja gut mein Zitronenfalter. Dann warte ich eben noch bis … wie lange soll dieses
Kunstwerk denn überhaupt stehen?
Y: EINE WOCHÄ. UND TAGSÜBÄR KANN MAN VORBEIKOMMEN UND SICHS
ANSCHAUÄN!
J. Eine Woche? Tagsüber anschauen? Ach Rattenpups, das halte ich aber für gar keine gute …
Es klopft zurückhaltend an der Tür. Ein älterer Mann mit verschmierter Hornbrille steht im Türrahmen. Er heißt Mammut und hat einen Strauß Blumen dabei. Außerdem weint er ein bisschen, aber das tut er würdevoll.
Mammut: Ich hoffe ich störe nicht. Ich weiß, wie schwer das gerade für euch ist.
Yoko und John schweigen. Sie wüssten sowieso nicht, was sie jetzt sagen sollten. Der Mann hat offenbar seelische Schmerzen. Mammut schreitet auf das Bett zu und legt die Blumen und die Pralinen daneben.
Mammut: Ich wünsche euch, auch im Namen der Gewerkschaft, ganz ganz viel Kraft. Ihr schafft das!
Mammut nickt kurz und verschwindet möglichst schnell. Ihm war dieser Besuch offensichtlich etwas peinlich
J: Aha, und so sehen jetzt also unsere Flitterwochen aus oder was?
Da erschallen Schalmeien und ein kleiner Junge mit lustiger Frisur tritt in den Raum. Er stampft mit jedem Schritt fest auf und hat ein zusammengekniffenes Gesicht. Er denkt wohl, dass ihn diese Gesichtsartistik wütender aussehen lässt, aber unsere beiden
Friedensaktivisten deuten das als unschuldige Niedlichkeit.
J: Oh schön, ein Kind! Kinder sind unsere Zukunft! Komm doch her, kleiner Fratz!
Der Junge stapft entschlossen auf das Bett zu
Junge: So ihr beiden Spinner, jetzt steht schon auf!
J: Nanu? Ein Kunstbanause?
Y: Wie heißt du denn, Junge?
Junge: Ich bin der Präsident von den US von A!
J, kichert: Na sowas
Y: JOHN!
Junge: Halt die Fresse, du Hippiepenner! Nimm gefälligst deinen Präsidenten ernst!
J: Ich bin aber Engländer!
Junge: Mir reichts! es ist fünf vor 12 und ihr lümmelt da rum. Und ganz Amerika mit euch.
J: Ganz Amerika?
Junge: Ja, ganz Amerika! Die Wirtschaft ist am Boden! Nichts geht mehr. So traurig!
J verwirrt: Also bist du jetzt traurig oder die Wirtschaft?
Junge: Ich bin nicht hier um über Wirtschaft zu diskutieren! Fakt ist, dass Alles stillsteht, bis ihr endlich aufsteht.
Y: Aber das war doch der Sinn, das ist antiautoritärer Protest …
J: Ein Scheiß ist das! Ihr hört sofort damit auf! Ich halt jetzt so lange die Luft an, bis ihr aufsteht!
J: Nein tu das nicht! Sowas endet böse!
Der Junge hält die Luft an. Yoko und John sitzen da und schauen ihm beim Blauwerden zu. Einige Minuten vergehen bis der Junge endlich bewusstlos umfällt. Poff.
J, vergnügt: Wow, das ganze hat ja echt was gebracht! Und ich konnte tatsächlich noch fünf Minuten schlafen. Und irgendwie hat es ja doch auch ein bisschen Spaß gemacht.
Y: DAS WAR EIN VOLLER ERFOLG! LASS UNS DAS BALD MAL WIEDER MACHEN,
JOHN!
J: Wie könnte ich da nein sagen, meine kleine Schreischnauze?