Sarah Grodd: Lüge

Es ist geschafft. Nervös starren Dirk und Jan auf den Bildschirm des Computers. Heute ist ihr großer Tag. Nur noch ein Klick trennt sie von ihrem digitalen Business. Dirk und Jan blicken sich mit einem leichten Lächeln an und beide wissen: all der fehlende Schlaf, das nächtliche Flimmern des Computermonitors, der überdosierte Kaffee in rauen Mengen und die unzählbaren Brainstorming-Kippen der letzten Wochen haben deutliche Spuren hinterlassen. Sie wissen aber auch: es hat sich gelohnt. Dirk ergreift schließlich die Initiative und gleitet den Cursor mit der Computermaus ganz sachte auf den Button „Veröffentlichen“. Ein Klick ertönt, dann ist es vollbracht. Ihre erste App. Tiefes Ausatmen raunt durch den Raum.

Dirk ist der Geschäftsmann der beiden, ein richtiger Machertyp. Vor zehn Monaten kam ihm die visionäre Idee für jene App, die sie just in dem Moment der Welt zugänglich machen. Sie trägt den Namen „Applass“. Vor zehn Monaten, da verfolgte er den sonntäglichen Radio-Gottesdienst – sein kleines Ritual am Frühstückstisch. Als er seine Kaffeetasse ansetzte, witterte er plötzlich eine Nische: wenn man schon vom Frühstückstisch aus einem Gottesdienst beiwohnen kann, warum sollte es nicht auch möglich sein, online Buße zu tun? Eine Art digitaler Ablass. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Dirk der außerordentlich spritzige Name „Applass“ für seine Idee einfiel. Die moderne Pocketbeichte für den Sünder von heute. Kein lästiger Bußgang zum nächsten Beichtstuhl nötig – stattdessen jederzeit und überall verfügbar, bezahlbar über verschiedene Online-Bezahldienste. Und das Beste daran: für jede Buße bekommen Dirk und Jan einen Cent und schon bald werden sie Millionäre sein – oder zumindest etwas wohlhabender als jetzt.

Dieses „Jetzt“, das hat Dirk schon immer abgelehnt. Er verschwendet keine Zeit mit Gedanken an seine aktuelle Lage, vielmehr war er schon immer ein Zukunftsträumer. Träume hin zu einer Zukunft, in der er sich nicht mehr eine dunkle Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan teilen muss: ein Relikt aus Studi-Zeiten. Hin zu einer Zukunft, in der er seinen Eltern, seinen alten Schulfreunden und Verflossenen, ja all seinen Neidern, die ihn früher oder später für einen seltsamen Spinner gehalten haben, endlich zeigen kann, dass er es geschafft hat. Dass er ein Visionär ist, ein Vorreiter in die digitalisierte Moderne.

„Seine“ App, wie Dirk „Applass“ gegenüber anderen Personen immer vorstellt, denn Jan ist für ihn nur der programmierende Hilfsarbeiter, seine App also kann nicht nur die Buße des Bußeablegenden aufnehmen. Sie erkennt auch automatisch, ob der Büßende lügt oder die Wahrheit spricht. Wie genau das funktioniert, weiß Dirk auch nicht so recht. Jan hat versucht, es ihm zu erklären, aber vielmehr als irgendwas mit Algorithmus und Spracherkennung konnte er sich nicht merken.

Die Rollen zwischen Dirk und Jan sind klar verteilt: Jan ist der Programmierer, Dirk der Vermarkter. In Gesprächen mit potenziellen Kooperationspartnern spricht Dirk eh viel lieber über die vielversprechenden Vorteile, statt über langweilige technische Detailfragen. Noch haben sie mit „Applass“ keine konkreten Kooperationen an Land ziehen können, wie Dirk einräumt. Aber er bekräftigt, dass sie an Großem dran sind.

So könnten z.B. schon bald Menschen, die besonders häufig, offen und ehrlich Buße tun, Vorteile bei der Kirchensteuer genießen. Oder per App direkt in den Klingelbeutel einzahlen. Oder vergünstige Jahresabos für Grabkerzen abschließen. Oder Rabatte auf Pauschalreisen in den Vatikan bekommen.
Oder…

Dirk schreckt auf. Er scheint wieder einen kurzen Tagtraum gehabt zu haben.
Aber nun ist er wieder zurück im Jetzt, zurück in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan. Er schaut auf den Computermonitor und ihm wird klar: es ist wahr.

„AppLass“ ist soeben im AppStore erschienen, verfügbar für jeden modernen Sünder. Dirk und Jan haben ein Lächeln im Gesicht. „Damit werden wir reich.“, sagt Dirk.

Sie wissen noch nicht, dass sich das schon bald als Lüge herausstellen wird.

Sarah Grodd und Lukas Ullinger: Ein Brunch – zwei Perspektiven

Sie weiß es. Sie weiß es ganz genau. Ich hasse brunchen. Wer hat sich diesen Unsinn überhaupt einfallen lassen? Überhaupt, diese unmögliche Uhrzeit. Soll das jetzt Frühstück oder Mittagessen sein? Das ist doch normalerweise nicht ohne Grund getrennt. Brunch – schon dieses Wort löst Abneigung in mir aus. Müssen wir jetzt für alles einen neuen Begriff einführen? Nicht mal Hobbits nennen ihr zweites Frühstück Brunch. Sondern das was es ist: ein zweites Frühstück. Und dann das Zeug, das es da zu essen gibt. Grenola, Granola oder was weiß ich, für mich ist das einfach Ofen-Müsli-selbstgemacht, aber egal. Im Prinzip wäre das alles ja halbwegs erträglich, Müsli geht ja wirklich zu jeder Tageszeit. Aber nicht, wenn da ihre bekackten Freundinnen dabei sind. Vor allem Jennifer. „Hi, Jenny!“ Ich pack die Trine nicht. Wenn Brunch in mir Abneigung auslöst, bringt Jennifer die totale Ablehnung in mir zum Vorschein. Ihr albernes Lachen, ihre krallenartigen Fingernägel und ihr absolut verkacktes Tattoo auf dem Rücken vom Selbstfindungstrip in Indien. Die Vollpanne in Person.

„Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“, kommt es aus dem Schlafzimmer. „Ja sicher.“, knirsche ich zurück. Wie sollte ich die Dinger auch vergessen. Bei 15 Pfannkuchen habe ich assistiert. Aber keine stinknormalen Pfannkuchen. Nein, die werden jetzt glutenfrei zubereitet. Weil Jenny kann ja jetzt kein Gluten mehr. Seit Indien. Also, ab zu DM glutenfreies Mehl, Agavendicksaft – Zucker geht auch nicht – und Demeter Eier. Ist besser für die Tiere. Dass der Lachs bei Netto im Angebot nur 1,70 kostet, wird geflissentlich übersehen.

„Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“, sagt sie und streckt wie eine halb geschminkte Schildkröte ihren Kopf in den Flur. Klar, denke ich mir. Das Ding ist dann so eng, dass ich keinen Bissen von dem Fraß runterbekomme. Ha, vielleicht gar nicht schlecht. Und warum muss die sich jetzt so dermaßen aufbrezeln! Zum Frühstück – Verzeihung, Brunch? Ehrlich, von mir aus kann das auch so ablaufen: Kaffee, Kippe, fertig. Gerne ungeduscht in Unterhose und am besten allein. Stattdessen müssen wir uns fertig machen um dann stundenlang beinahe-bio-Lachspfannkuchen und Käse mit Weintrauben auf kleinen Holzspießen in uns reinzustopfen. Danke dafür.

Heute ist ja eigentlich Fußball. Aber es stimmt schon: Jenny hat nur einmal im Jahr Geburtstag.

Und wenn Jenny nur einmal im Jahr Luft holen würde, mir doch egal.

Ich gehe zum Kühlschrank, hole die Lachsröllchen. Eines schnappe ich mir schon mal heimlich. Schmecken tatsächlich ziemlich gut – zugegeben. Besser noch schnell eines, soll Jenny doch ihr Müsli essen.

„Also, los geht’s…“ murmle ich durch geschlossene Zähne und binde mir die Schuhe zu.

Das Frühstück. Die wichtigste und großartigste Mahlzeit des Tages. Es gibt nur wenig, das ein schönes Frühstück mit frischem Kaffee- und Brötchengeruch toppen kann. Eine Sache, die das noch um Längen schlägt: der Brunch. Diese Fusion aus Frühstück und Mittag, da ist für jeden noch so süßen Zahn sowie herzhaften Gaumenfreund etwas dabei. Seit Wochen freue ich mich auf den heutigen Tag, denn die liebe Jenny hat zum Geburtstagsbrunch eingeladen.

Jenny und ihr geiles, ja weltberühmtes Granola. Sie weiß ganz genau, wie gut es ist. Da muss ich gegensteuern. Nur mit ein paar langweiligen Sea Salt-Chia-Buchweizenvollkorn-Brötchen mit Sesam-Topping aufzutauchen, das kommt definitiv nicht in Frage. Ich muss sie ausstechen. Stundenlang habe ich bei Pinterest nach Instagram-fähigen High Class-Rezepten gesucht, die zudem auch noch glutenfrei sind. Denn die arme Jenny bildet sich seit ihrem Indien-Selbstfindungstrip eine Gluten-Unverträglichkeit ein. Nun ja, so sind es nun Lachsröllchen geworden. Und die habe ich natürlich äußerst akkurat auf einem extra dafür gekauften Teller drapiert, genau so wie auf den Vorschaubildchen bei Pinterest. Hoffentlich lässt der die Finger davon, bis die Mädels es gesehen und anerkennend gelobt haben.

Hauptsache, wir vergessen die Dinger nicht! „Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“ schreie ich aus dem Schlafzimmer, damit er auch was zu tun hat. Diese Brunch-Vorbereitung stiehlt mir schließlich schon genug Zeit.

Jenny hat einen neuen Freund, den sie uns heute vorstellt. Martin, Markus oder so ähnlich. Ein schnieker Typ soll das sein. Jenny schwärmt jedenfalls unerträglich oft von ihm. Bedeutet also, sich heute besonders viel Zeit fürs Schickmachen zu nehmen. Das gilt natürlich für uns beide – für mich UND für ihn, denke ich und rufe: „Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“. Unter uns: alles Taktik. Brunch ist eben nicht nur Essen, es ist auch ein Statuszeigen, eine Anstrengung.

„Also, los geht’s…“ sage ich und ziehe mir die Jacke an.

Sarah Grodd: Agathe Bauer und der afrikanische Regen

Hach ja, „Africa“ von Toto.
Tief im kollektiven Gedächtnis gleich mehrerer Generationen verankert. DER Grund für eine heisere Stimme am Morgen nach einer eskalativen Party. Sobald der erste Beat einsetzt, kann jeder den Songtext aus dem tiefsten Inneren hervorkramen. Absolute oder zumindest relative Textsicherheit wie aus dem Effeff. Und spätestens beim Refrain lässt sich auch der Letzte im Raum vom inbrünstigen und durchaus misstönigen Mitgrölen des Nebenmannes mitreißen. „I bless the rains down in Africa.“ Welch ein lyrisches und zutiefst eingängiges Stück Musikgeschichte. Ja, ein regelrechter Party Hype hat sich in den letzten Jahren um diesen 80s Smasher neu entfacht. Konkret: 1982. In diesem Jahr hat der Song das Licht der Musikwelt erblickt. 1982, also drei Jahre vor Live Aid, DEM legendären Wohltätigkeitskonzert zugunsten Afrikas. Hat David Paich, der Kopf von Toto, da etwa drei Jahre vor Live Aid einen musikalischen Stein der Wohltätigkeit ins Rollen gebracht? Weit gefehlt. Dass in „Africa“ der afrikanische Regen gesegnet wird, zieht irgendwie unbemerkt vorbei. Oder zumindest wird der Text nur äußerst selten hinterfragt. Ob das damals in der Generation unserer Eltern noch anders war? Hat der Bedeutungsverlust der Worte vielleicht erst mit dem Generationenwechsel eingesetzt?
Wir schreiben 2019. Aus heutiger Zeit hat Paich maximal halbherzig die gesellschaftliche Kritikkeule geschwungen. Paich : ein weißer Mann, der versucht, einen Song über Afrika zu schreiben, selbst zu dem Zeitpunkt aber noch nie dort war. Der all seine Inspirationen aus einer UNICEF Werbung im Fernsehen und aus Erzählungen eines Freundes zieht. Skurril. Und natürlich dreht s ich der Song nicht nur um den afrikanischen Regen. Nein, auch die tiefe Liebe zu einer Frau wird selbstverständlich thematisiert. Ein zauberhaftes Potpourri wirrer Erzählstränge.
Aber zurück zum afrikanischen Regen. Und zur eskalativen Party. Zurück zur heutigen Zeit. Jeder DJ, der etwas auf sich hält, hat „Africa“ in seinem auserlesenem Musikrepertoire. Und jeder DJ, der noch mehr auf sich hält, stimmt diesen Song akkurat auf den Pegel seiner Tanzgemeinde ab. Irgendwann am Abend ist es dann sowe it: die alkoholische Grundlage wurde gelegt, die ersten Töne von „Africa“ erklingen, die Whoo-Girls stürmen auf die Tanzfläche und Stimmung und Pegel erreichen gleichzeitig ihren Peak. Danach: glückseliges Kollektivtaumeln. Angekratzte Stimmbänder. Bierdurchtränkte Shirts. Spuckefetzen des Nebenmannes im eigenen Gesicht. Mitgesungen hat hier jeder, aber wen kratzt da eigentlich die Textbedeutung bei „Africa“? Und überhaupt, welche Rolle spielt schon die Lyrik in der Musik?
Das hier sollte eigentlich eine Hommage an musikalische Lyrik werden. Eine Hymne auf Lyrics. Ein Appell an jeden Einzelnen, doch mal wieder mehr auf die Texte der Lieblingssongs zu achten. Doch was passiert, wenn sich die Bedeutung eines Songs durch das aufmerksame Hören des Textes plötzlich ändert? Wenn man sich dann nicht mehr sicher ist, ob „Africa“ damals eine politische Message hatte oder einfach nur ein richtig guter Partysong ist. Oder wenn etwa im Schnulzen-Klassiker „Every Breath You Take“ von The Police aus der Erzählung eines liebestollen Mannes plötzlich ein verstörendes Bild eines Stalkers wird.
Vielleicht ist es doch ganz sinnvoll, wenn Künstler ihre Songtexte eben nicht erklären; den Interpretationsspielraum ganz bewusst offen lassen. Wenn man sich nicht zu viele Gedanken über die Lyrics macht, stattdessen einfach die Melodie genießt und Fantasieworte mitsummt. Spätestens auf der nächsten Party kommt der Punkt, an dem du dich selbst fragen kannst, wie textsicher du bist. Wie textsicher du sein willst. Dann kann Snaps Klassiker „I´ve Got The Power“ auch ganz schnell zu „Agathe Bauer“ mutieren. Oder statt bei Eurythmics´ „Sweet Dreams Are Made Of This“ auch mal „Sweet Dreams Are Made Of Cheese“ verstanden werden. Und weißt du was? Das ist vollkommen okay.