Deutschland: August 1992. Endlich war Ritschi wieder da. Er rief mich sogar an: „Du kannst vorbeikommen.“
Ich schwang mich aufs Rad. In Ritschis Zimmer waren die Rollläden runter, diesmal ganz. Es leuchtete aus der Glotze, dazu Gedüdel. Normal beim Konsolenspiel. Kannte ich schon. Dass der Senker da war, kannte ich auch schon.
„Echt jetzt?“, moserte das Vieh. „Du hast da einen nagelneuen Super NES und lässt deinen besten Kumpel nicht spielen?“ Was hatte Ritschi bloß mit dem? Nur weil er sein Nachbar war. Ständig hing der einem auf der Pelle. Befruchtete mich null, der Typ. „Dass du den kleinen Scheißer lieber nicht ranlässt, kann ich ja verstehen, aber …“
„Ey, sülz mich nicht voll, Senker. Ihr müsst mich auch verstehen. Ich hab das Ding heute angeschlossen. Ich kann auf keinen Fall heute schon abgeben. Zuerst dachte ich, okay vielleicht. Aber ey, geht einfach nicht! Ich muss das locker erst mal eine Woche allein spielen. Vielleicht kann ich Ende der Woche mal abgeben, weiß ich jetzt noch nicht. Ihr könnt eigentlich schon froh sein, dass ihr zuschauen dürft. Ey, andere würden was darum geben, wenigstens zuschauen zu dürfen. Wenn’s euch nicht passt, könnt ihr ja draußen Würmer sammeln.“
Das galt aus meiner Sicht alles nur für den Senker. Ich wollte gar nicht drankommen. Ich bin bei der alten Konsole schon ein paarmal drangekommen, da war ich immer sofort Game Over. War mir ganz recht, nicht dranzukommen.
„Ey, das ist so abgefahren, wie ich gestern ernsthaft noch geglaubt hab, der NES hätte ’ne geile Grafik! Den kann ich halt wegwerfen jetzt. Oder einem von euch verkaufen. Obwohl, Raini hat ja keine Kohle als Erstklässler. Bekommst du jetzt eigentlich nicht mal bald Taschengeld? Bisschen was ist der nämlich schon noch wert. Was ist mit dir, Senker? Wenn man nicht an die geile neue Grafik gewöhnt ist, bringt’s die alte auch. Direkt schlecht ist die ja nicht. Für ’nen Hunderter geb ich ihn her.“
„Ey, ich hab keinen Hunderter!“
„Überleg’s dir. Du kannst jetzt gehen, dann gewöhnst du dich nicht an die neue Grafik. Ist vielleicht besser.“
„Ich hab keine hundert Mark.“
„Ich weiß genau, dass du noch mindestens Hundert hast. Letztes Jahr Weihnachten hast du Hundert gekriegt und dir seitdem so gut wie nichts gekauft. Da sind locker noch Siebzig übrig. Dann gab’s zum Geburtstag Fünfzig, damit hast du eh angegeben, und obendrein noch die ganze Firmungskohle! Weiß der Geier, wie viel du da noch übrig hast. Du bist echt so ein Lügner, Senker.“
„Bin ich überhaupt nicht!“
„Und wo ist die Kohle dann? Hundert Mark sind echt gar nichts, neu kostet so ein Teil viermal soviel! Weißt du, was andere gebraucht noch haben wollen? Hundert Mark sind der absolute Freundschaftspreis. Weißt du, was mich das kostet, doppelt so viel dafür zu kassieren? Das kostet mich ein müdes Arschrunzeln!“
„Ich hab trotzdem keine Hundert.“
„Lüge.“
„Nein, ehrlich.“
„Was hast du dann mit der Kohle gemacht? Sag schon.“
Der Senker kirchenstill. Senker und das Schweigen im Wald. Und gleich im Anschluss: Senker und das Schweigen im Wald Teil 2.
„Ey, sag schon, du Krüppel!“
„Zufällig ist die Kohle auf der Bank, fest angelegt!“
„Bist du bescheuert? Du hast die ganze Kohle angelegt?“
„Das war nicht meine Entscheidung!“
„Auf wie lang?“
„Was weiß ich.“
„Sag schon, auf wie lang?“
„Ich komm da nicht mehr ran. Ich kann auch nichts machen.“
„’ne schöne Pfeife bist du. Und ich bleib jetzt auf dem Ding sitzen, oder was?“
„Sorry, Mann.“
„Von wegen sorry, du hast deine scheiß Kohle doch absichtlich zur Bank gebracht!“
„Gar nicht!“
„Ja ja, sülz mich voll.“
Ritschi drückte auf Pause. Der Senker fläzte im Sessel, ich saß neben Ritschi auf der Couch. „Okay, ich brauch eine Verschnaufpause!“ Ritschi ließ seine Finger knacken, das hätte ich auch gern gekonnt. „Nach einer Zeit tun dir richtig die Knöchel weh, glaubt’s mir oder nicht, da hilft bloß ein bisschen Sport!“ Zack, sprang er auf die Couch, streckte sich bis zur Decke, setzte sich auf meinen Kopf und drückte einen ab.
„Hey!“, rief ich.
„Der drückt mich nicht mehr!“
Der Senker johlte, kriegte sich kaum noch ein: „Olé, olé. Bumsbomber, olé!“
„Ruhe jetzt“, sagte Ritschi. „Weiter geht’s!“
Und weiter ging’s. In meinem Schädel merkte ich die Vibration. Da war sie: ganz schwach, aber da. Ich hatte noch nie einen Furz auf den Kopf bekommen. Wäre es nicht blöd gemeint gewesen, hätte es sich vielleicht sogar gut angefühlt.
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Roland van Oystern
Roland van Oystern, * 1984.
Im Dienst. Verrichtet auf Honorarbasis. Schrifterzeugnisse ab 59 Euro.
Foto: Oliver Schmitt / Ventil Verlag
Roland van Oystern bei EBMD: