Andreas Thamm: Die beige Hose meines Bruders

Mein Bruder trug diese beige Buntfaltenhose, die er ganz über den Bauch zog, sodass sie unten seine Knöchel freiließ. Er trug sie zum Wandern. Ganz im Gegensatz zum Rest der Familie war mein Bruder hoch gewachsen und schlank, sein Gesicht kantig und spitz an allen Stellen, die spitz sein können. Zur Buntfaltenhose hatte er, auch das wie immer, wie in jedem Jahr und an jedem Sonntag, ein weißes Hemd gewählt, darüber eine Weste, ebenfalls beige.

Er passte nicht zu uns. Er passte auch nicht zu sich selbst. Er war zu alt, obwohl noch so jung. Er sprach wie andere Aufsätze verfassen, lächelte immer und lachte nie laut. Und wie um den quälenden Umstand, dass er sich fremd fühlen musste inmitten dieser kleinen und pummeligen Familie in ihren karierten Freizeithemden und ausgebeulten Jeans, vergessen zu machen, wie um den Spalt zwischen sich selbst und seinen Eltern zuzuspachteln, biederte er sich an.

Sein Anbiedern an unsere Eltern, die er behandelte, als wären sie andere Eltern, Eltern, die ebenfalls in dieser Hose und mit dieser Weste spazieren gehen würden, widerte mich an. Einerseits. Andererseits, und das hätte ich vielleicht von vornherein dazu sagen müssen, war ich zehn, elf oder zwölf Jahre alt und gern bereit, die Vorzüge dieser Anbiederei zu genießen, denn das bedeutete Schokolade.

Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich sogar, mein Bruder war in den Vor-Oster-Wochen in diesen Jahren höchtselbst und fröhlich zum Laden marschiert, um die Schokoladeneier für den Ostersonntag zu besorgen. Er marschierte und besorgte, um meinen Eltern zu signalisieren: Das Verstecken der Eier ist eine Aufgabe, die ich euch gern abnehmen will, denn mir liegt der Osterspaß der ganzen Familie, insbesondere der unseres Kleinen, sehr am Herzen.

Man muss sich meine Eltern diesbezüglich achselzuckend vorstellen, wie sie an dem riesigem Wirtshaustisch in unserer Küche sitzen, der ihnen dicht bis unter die Kinne reicht. Sie sitzen und heben und senken die in kleinkariertes und atmungsaktives Material gehüllten Schultern. Im Hintergrund läuft Hausmusik im Radio, der wollen sie eigentlich in Ruhe lauschen können, einmal in Ruhe der Hausmusik lauschen, das wär‘s, denn das gibt‘s heutzutage ja nur noch so selten. Und aus schaumumkränzten Lippen fallen meinem Vater ein paar müde zusammengeklaubte Worte: So. Is scho wieder Ostern.

Das Bemerkenswerte an dieser Hose war nicht etwa die schier unendliche Länge ihrer Beine, das waren beigefarbene Landebahnen, sondern der Umstand, dass mein Bruder sie zum Wandern trug, sie danach aber ebenso sauber zurück in seinen Kleiderschrank hängte wie er sie am morgen herausgezogen hatte. Mein Bruder war im Laufe des Nachmittags natürlich nicht müde geworden, süffisant lächelnd zu wiederholen, dass Wandern in diesem Fall ja vielleicht nicht ganz das richtige Wort und spazieren könne man wohl sagen, allenfalls. Er kicherte und lachte und pfiff sogleich ein Lied.

Wir drei, die anderen, pummeligen, kleinen schleppten uns ihm hinterher, wie er mit langen, beigefarbenen Beinen unaufhörlich plappernd voranschritt, wie er Pfützen und kleinere Tümpel elegant übersprang, tänzelnd den Blindschleichen auswich und mit langen Armen und ohne seinen Schritt zu verlangsamen nach Äpfeln und Erdbeeren griff. Wir drei, die Familie, die hier eigentlich fehl am Platz war, gar nicht mal umgekehrt, trotteten dem Langen nach, weil er glaubte, dass sich das so gehöre, wenn man Eltern hat und einen Bruder.

Wir waren müde und beschmutzt, die ausgebeulten Jeans bis zum Knie in Schlamm getaucht, die Münder verschmiert von Schokolade. Und sicher sehnten meine Eltern sich nach einem überschäumenden Krug voll dunklem Landbier so wie ich mich nach dem Fernseher sehnte. Und manchmal bückten wir uns ächzend hinab zu einem Moos oder einem kleinen Laubhaufen, weil wir darin etwas glitzern gesehen hatten. Hier hatte der Vorauseilende ein in dünne Knisterfolie gehülltes Schokoladenei deponiert.

Nie gelang es uns, ihn dabei zu beobachten. Wir wussten, es würde geschehen. Wir wussten auch, dass er es um meinetwegen tat, dennoch halfen mir unsere Eltern bei der Suche, worum ich sie nie hatte bitten müssen. Und natürlich glaubte niemand hier an den Osterhasen, der ja auch gar keine Sache ist, an die irgendjemand wirklich glauben würde, so wie andererseits das Christkind. Aber dass mein Bruder dahinter steckte, hinter den deponierten Eiern, wie in jedem Jahr, das konnte ihm niemand nachweisen und das freute ihn und mit zur Unschuld verstellter Grimasse sagte er: Ach wo kommen denn die Eier her, wie nett. Da hab ich mich doch nicht getäuscht, als ich meinte, vorhin den Osterhasen hoppeln zu sehen.

Es war unwürdig und widerlich. Ich wollte hier nicht sein, klar war aber, dass niemand den anderen allein lassen konnte. Ich wollte mir nicht ansehen wie er stolzierte. Die Schokolade aber wollte ich schon. Der Bruder kaufte Qualität, darauf konnte man sich verlassen, zartschmelzende süße Masse, die ich am Gaumen zerdrückte, knuspernder Krokant, den meine Backenzähne zermahlten. Am Ende wusste ich nicht mehr, ob mir wegen des Stolzierens, wegen des in der Buntfaltenhose steinhart hin und her schwingenden Hinterns, oder wegen der siebenhundert Mikrodosen Schokolade so übel war. War mir immer übel gewesen?

Ohne dass ich während dieser tatsächlich stundenlangen Ausflüge eine Armbanduhr getragen oder ein Handy einstecken gehabt hätte, wusste ich immer wie weit der Tag fortgeschritten war. Das heißt, die Uhrzeit aus Ziffern hätte ich nicht präzise nennen können, wohl aber die Fernsehsendung, die jetzt anliefe, die ich jetzt hätte sehen können, wäre ich nicht an dieses familiäre Naschritual gebunden. Das verriet mir meine innere Uhr.

Ein leichtes Ziehen in der Brust, wenn Pokemon begann, gefolgt vom aufgeregten Flattern des Herzens, das Digimon bedeutete, diesen herrlichen Abklatsch. Eine stabile Präsenz des Steißbeins, wenn Detektiv Conan anfing zu ermitteln und eine fast hysterische Weigerung in den Haarspitzen, mit der sich Sailor Moon ankündigte. Mutige Kriegerin Usagi, mit dir durfte ich, ein Junge, nur heimlich fiebern und nie wenn andere Jungsfreunde zu Besuch waren. So waren damals die Zeiten. Mit Sailor Moon fieberte jeder heimlich und für sich, ein wohl gehütetes Geheimnis, das sich nur als Geheimnis nicht zum Anschlag auf die noch so fragile Männlichkeit auswachsen konnte.

Fast schwindlig wurde mir, als es Zeit wurde, umzuschalten bzw. Zeit würde, wäre ich zu Hause gewesen. Ich fiel taumelnd etwas hinter meine Eltern zurück und sehnte mich nach Käpt‘n Balus pelzig warmer Pranke und dem eisigen Wind, der den Gargoyles um die steinernen Nasen weht. Ein pünktlich pulsierendes Gehirn bedeutete nichts anderes, als dass ich nun, wegen des immer noch eisern Stolzierenden und Eier Versteckenden auch den Kopfsprung in den Wahnsinn von Roccos modernes Leben und der Tex Avery Show verpasst hatte. Ich hyperventilierte heimlich.

Es spielte aber auch keine Rolle, es brachte nichts, sich diese schmerzhaft bunten Freunde zu imaginieren. Eine echte Nähe konnte ich in meiner Vorstellung nicht herstellen. Ich befand mich im Wald, der Winter war noch nicht wirklich vorbei, an manchen Stellen lag noch Schnee, es nieselte graues Wasser auf unsere Jeans, die sich vollsogen und langsam an unseren plumpen Hüften hinabrutschten, Erdbeeren wuchsen immer nur dort, wo mein Bruder fröhlich ausschritt. In diesem Zustand hätte ich alles gekuckt, selbst das debile Theater der absolut unsympathischen Puppen aus der Sesamstraße. Bloß nicht und niemals Blinky Bill, den komplett verblödeten Koala in seiner roten Latzhose. Dann lieber Wandern mit der Familie als diese Tortur, aber das musste mein Bruder freilich nicht wissen.

Mein Bruder ahnte von all den in mir tobenden Kämpfen ohnehin nichts. Je langsamer seine Familie trottete, desto agiler umkreiste er uns wie ein folgsamer Hund, war mal hier, mal dort, grüßte von einer kleinen Brücke und blinzelte neckisch durch wundersame Astlöcher. Fortwährend plauderte er Durchhalteparolen vor sich hin, nun haben wir es bald geschafft, ein letzter Anstieg noch und lobte abwechselnd die Route, die er selbst ausgesucht hatte, ach, was für ein Ausblick, nein, diese Landschaft, wozu in die Ferne schweifen, und so weiter. Ich spielte derweil mit dem Gedanken, wie es mir gelingen konnte, ihm diese Hurensohnhose einzusauen. Ich wollte mit Anlauf in Pfützen springen und mit Kröten nach ihm werfen, aber nichts traute ich mich, nichts gelang, die Hose war geschützt.

Am Ende fanden wir uns in einer Gastwirtschaft ein, deren Tisch meinen Eltern wie der zu Hause, bis unter die Kinne reichte. Wir stapelten diverse mit Käse überbackene Schnitzel auf die Schokomasse, die bereits am Magenboden schwamm. Mein Bruder aß Salat. Mein Eltern tauchten ihre Nasen tief in die Bierkrüge und waren auf einmal doch froh und ganz rot in den Gesichtern. Aus schaumglitzernden Lippen fiel meinem Vater so ein Satz wie: Na, haben wir das auch wieder geschafft. Und alle nickten zustimmend als wäre das die Weltformel.

Wenn ich heute an dieses Spektakel zurückdenke, wird mir vieles klar. Die Warnsignale, die wir nicht erkannt haben, die wir gar nicht erkennen konnten. Der Wahn, dem dieser junge Mann schon damals erlegen war ohne dass irgendjemand darunter hätte leiden müssen. Diese Welt aus Pappkameraden und Ideen, die er sich zusammengebaut hatte. Die vielen immer schon alten Sätze und Erkenntnisse, die er ununterbrochen von sich gab, als wäre er viele und würde sich zuhören.

An irgendeinem Sonntag im Frühjahr im Wald und ich weiß nicht einmal mehr wie alt ich dann war, ist mein Bruder zum letzten Mal ausreichend bei sich gewesen, um die Eier zu kaufen, die Route im Wanderführer auszusuchen, die Reservierung im Gasthaus vorzunehmen, die Hose aus dem Schrank zu nehmen. Und das war dann dieses berühmte eine letzte Mal, das man begeht, ohne dabei zu wissen, dass es das letzte Mal ist. Das letzte Mal, bevor sich sein Bewusstsein flüchtete und uns zu dritt und allein ließ und endlich hätte sich niemand mehr fehl am Platz fühlen müssen. Und alle taten es.

Daphne Elfenbein: Winterschlaf mit Aldi

Ein unspektakulärer Tag. Das Leben im Elfenbeinturm ist nicht eben glamourös. Im Gegenteil. Frau Elfenbein schaut zu, wie aus einer undichten Stelle am Himmel der weiße Elfenstaub herabsinkt und beschließt, sich wieder einzurollen und den Winterschlaf fortzusetzen. Da irgendwann gegen Abend die wöchentliche Auffüllung der Speisekammer ansteht, schickt sie ihre Dienstboten zu einem Aldi-Markt, der still und mit Essen lockend, wie einst Mama, im Schnee steht und Kundschaft jeglicher Herkunft gleichberechtigt aufnimmt. Aus den winterschlafverklebten Augen glaubt Frau Elfenbein zu sehen, wie ein Mann im Aldi einen Kohlkopf vor sich herträgt und auf das Fließband legt. Irgendwer sagte ihr später, das sei ein Baby gewesen. Aber man sieht ohnehin nicht gut in diesen Tagen. Gesenkten Blickes schiebt man den Einkaufswagen aneinander vorbei. Ab und zu ein halbherziges „Entschuldigung“ gemurmelt, wegen Rempeln, und weiter. Dabei gäbe es allerhand zu sehen bei Aldi. Die Osterware liegt doch jetzt in den Auslagen. Die hat das Jesuskindlein schon Heiligabend unterm Stroh in seiner Krippe versteckt und – schwupps – zur allgemeinen Stimmungsaufhellung in die Metallkörbe bei Aldi gelegt. Ostereier mit glänzenden Schleifen, doof grinsende Osterhasen, ein Jägermeister Verschnitt mit Namen „Mümmelmann“. Fehlen nur noch die Narzissen. Wem es in diesen Tagen an Spaß mangelt – kann ja schon mal zum Eierlaufen antreten, oder zur Hasenjagd im Schnee. 

Und während die Gemüsehändler mit ihren Ständen auf dem Gehsteig sich mit Wärmestrahlern und dicken Handschuhen warm hielten, holte sich Frau Elfenbein ein paar winterschlaftaugliche Träume aus dem Internet. Filme, in denen die Herzen voll und der Geldbeutel leer ist. Aber das macht nichts, bei so viel Liebe. Filme, in denen keiner Angst hat, die Wahrheit zu sagen. Filme, in denen die Leute noch Arbeit haben, die eine Aufgabe ist und Geld noch dazu. Filme, in denen alle sich lieben in der Familie und keiner enterbt wird.
In der Bundesregierung werden indes mit der Säge Kümmelkörner gespalten. Herr Spahn darf seinen Entsagungs-Zwang am Volk abarbeiten und Herr Scholz seine Durchschnittlichkeit zum Besten geben . Frau Merkel macht nach dem Besuch der Grünen Woche eine Diät und die Panzerknacker aus Steglitz sind mit ihrer Beute auf dem Weg nach Spanien. Nur die Schulkinder haben nichts zu lachen. Die schauen ängstlich auf den Leistungsbarometer und machen ihre Hausaufgaben. Gespielt wird morgen. Oder überhaupt nicht. 

Dafür spielt aber jetzt Daphne Elfenbein. Sie bastelt und schnippelt und musiziert und unterweist ein nicht essbares Katzentier in Lasertechnologie. Sollen doch die Anderen Fleisch essen und Anschaffen gehen. Frau Elfenbein genießt ihren Tee und lässt die Beine baumeln. Herrlich ist das… so herrlich, dass sie all die Schimpfwörter vergisst, die sie je gelernt hat: Rindviech, Dreckschwein, dumme Gans, blöde Kuh… Signifikant, dass unsere Sprache grade die Namen der Tiere, die uns am Leben erhalten, als Schimpfwörter verwendet. „Was du geliebt hast, sollst du auch töten“ würde Heiner Müller jetzt dazu sagen. Aber der ist ja schon tot. Wurde er auch geliebt? Nach all diesen Filmen hält Daphne Elfenbein es allerdings für unumgänglich, dass wir auch lieben, was wir essen. Drum: Wer gemeinsam mit Daphne Elfenbein aufhören möchte, am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, bitte melden. 

Mit freundlichen Grüßen, 

Daphne Elfenbein

Vorzimmer von Dr. Gott

Andreas Lugauer: Max Goldt liest ›zwischen den Jahren‹

Dass Max Goldt, der – man verzeihe mir den eigentlich unpassenden, aber zum Zwecke der Alliteration verwendeten Ausdruck Doyen – der Doyen der Digression, ›zwischen den Jahren‹ im Nürnberger Hubertussaal liest, das ist mittlerweile zur süßen Gewohnheit geworden wie der alljährliche grippale Infekt nach den Weihnachtsfeiertagen.

›Zwischen den Jahren‹, das sagen die Leute, weil ihnen als »Jahr« nur die Zeit ehrlicher Hände Arbeit gilt, was recht hübsch auch durch das Gegensatzpaar »unter der Woche« für die Werk- und »Wochenende« für die arbeitsfreien Tage Sams- und Sonntag illustriert wird. Denn ›zwischen den Jahren‹, da arbeiten normale Leute nicht, sondern geben sich der Erholung, der Muße, dem Skispringen und Biathlon sowie den Verwandten hin. »Biathlon«, mag jetzt jemand einwenden, »läuft doch zwischen den Jahren gar nicht!«, hat damit allerdings unrecht. Zwar findet, soweit hat der Einwender recht, zwischen Weihnachten und Neujahr kein Biathlonwettkampf statt, sehr wohl aber um den Dreikönigstag – und dieser erst beschließt die Zeit ›zwischen den Jahren‹. Wer was auf sich hält, nimmt sich nämlich bis zum Dreikönigstag frei – wenn dieser auf einen Mittwoch fällt, auch noch den darauffolgenden Donners- und Freitag – und startet dann erst ins neue »Jahr«.

Normale Menschen arbeiten ›zwischen den Jahren‹ erst recht nicht an den Feiertagen. Ihnen sind Leute suspekt, die etwa Heiligabend oder die Silvesternacht nicht ›im Kreise ihrer Lieben‹ respektive unter zum letzteren Anlass von der Kette gelassenen ›Feierbiestern‹ verbringen, sondern in Krankenhäusern, Pflege- und Kinderheimen, Polizeistationen, Gefängnissen oder Atomkraftwerken Dienst tun. Wenngleich nicht derart suspekt wie Leute, die an solchen Tagen die ebenfalls aufrechterhaltenen telefonischen Seelsorgedienste in Anspruch nehmen und trotz gemieteter Wohnung und Telefonanschluss, dem nicht die schuldenbedingte Abschaltung droht, in sozialer Hinsicht als obdachlos gelten können. 

»Ob die, die zu solchen Zeiten arbeiten müssen, wenigstens um Mitternacht mit einem Gläschen Sekt anstoßen dürfen?«, fragen sich die Leute besorgt und denken »Gläschen«, weil man zu besonderen Anlässen eben kein ganzes profanes Glas hinunterkippt, wie man es im Alltag macht, wenn man sich am Wasserhahn eines einschenkt und vor lauter Durscht, den einem Heim- und Hand- und Tagwerk verursachen, in einem Zug, der freilich aus mehreren Zügen besteht, unter hör- und sehbarem Schlucken austrinkt und sich anschließend die nassgewordenen Lippen abwischen und hart ausstoßend »’aaaaahh…!« sagen muß.

Ich könnte mich jetzt freilich noch darüber mokieren, daß die Leute in solchen Zeiten auch, obwohl sie das während des »Jahres« höchstens zu Ostern, bei Beerdigungen oder Hochzeiten tun, in die Kirche rumpeln oder Dinner for One …; aber das sollen die Schmöcke tun, wie die Leut’ es ebenfalls tun und halten sollen, wie sie munter, froh und fröhlich wollen. Ich stattdessen male mir nun aus, was Max Goldt dieses Jahr wohl tragen wird. Bei einem der letzten Nürnberger Auftritte nämlich erschien er in quadratisch geschnittenem, groß und grün kariertem Flanellhemd und schwarzbraun längsgestreiften, schlafanzugähnlichen Hosen. Aus Frankfurter Kreisen erfuhr ich, dass er bei der kürzlich dort stattgehabten Lesung wie üblich in unauffällig, in Hemd, Jackett und normaler Hose, auftrat. Aber dort las er auch nicht ›zwischen den Jahren‹.

Natalia Breininger: Staubflusen

Clara, Pierre und Elvis sitzen in einer Wohnung. Leere. Staubflusen. Auszugsblicke und Licht.

Clara (fern): Hier sind wir gewesen.
Pierre: Wo werden wir sein?
Elvis: Unter dem Licht.
Pierre (schrill): Unter dem Licht?!
Clara (träumerisch): Zugedeckt davon.
Elvis: Unter dem Licht fliegen Staubflusen herum. Die Wohnung ist noch nicht leer.
Clara (panisch): Oh nein! Wir können nicht ausziehen!
Pierre (verärgert): Du bist doch nicht sauber!
Clara (empört): Heee! Keine Beschimpfungen hier!
Pierre (grantig): Ja, was denn! Wo sollen wir mit dem ganzen Staub hin?
Elvis (etwas weltfern und entzückt): Wir können ihn in Truhen sammeln! Wie einen Schatz!
Pierre (entnervt): Ich gehe.
Clara (besorgt):Wohin?
Pierre (kalt): Von euch weg.
Clara (verletzt): Du verlässt uns?
Pierre (ausdruckslos): Ja. Ich verlasse euch.
Clara (empört und wütend zu Elvis): Hast du das gehört?! Er verlässt uns!
Elvis (sinnierend): Mhm. Er verlässt uns. (Pause) Wohin willst du denn gehen?
Pierre (stolz): Bis ans Ende der Welt! (Pause. Hinzufügend) Allein.
Clara (staunend und ängstlich): So weit? Allein?
Pierre (stolz): Ja.
Pause.
Pierre (etwas über Elvis’ Schweigen gereizt): Findest du nicht, dass es weit ist, Elvis?
Elvis: Doch … (Pause) … schon. Aber Weite bedeutet mir nichts.
Pierre (verärgert): Natürlich bedeutet dir Weite nichts! Nichts bedeutet dir was! Wenn du könntest, würdest du Dreck fressen, die ganze Zeit!
Clara (verträumt): Mhhhhm, Zeit. (Pause) Oh, holde Zeit, du bist mein Eis am Stiel!
Elvis (unbeeindruckt zu Pierre): Staub bitte, nicht Dreck!
Pierre: Von mir aus auch Staub! Wo ist da bitteschön der Unterschied?
Elvis (ruhig, weise): In der Feinheit.
Clara: Lauchkuchen wäre jetzt fein.
Pierre (zu Clara gedreht): Wir haben keinen Tisch.
Elvis (schadenfreudig): Ja … keinen Tisch.
Clara (feststellend): Weil wir ausziehen.
Elvis (dramatisch): Ja, wir ziehen aus! Aus unserem alten, so sorglosen Leben!
Pierre (bitter lachend): Das war doch nicht sorglos!
Elvis (beleidigt): Für mich schon.
Pierre: Du hast ja auch das Haus kaum verlassen!
Elvis: Weil ich geschwommen bin.
Pierre (gemein lachend): Wo? In der Badewanne? (Pause. Zu Clara) Wahrscheinlich hatte er unter dem Waschbecken heimlich seinen Schnorchel versteckt!
Clara und Pierre lachen.
Elvis (beleidigt): Nicht in der Badewanne.
Pierre (belustigt): Sondern?
Elvis (glücklich seufzend): In der Materie.
Clara und Pierre schauen sich an.
Pierre (verständnislos): In der Materie?!
Clara: Lass ihn. Er ist verrückt.
Pierre (zu Clara flüsternd): Vielleicht ist er der zweite Einstein.
Clara (verwundert): Wie kommst du darauf?
Pierre (geheimnisvoll): Er hat Löcher in den Socken.
Clara (sicher): Dann ist er Einstein.
Elvis: Wer – ich?
Clara (beruhigend): Nein, nicht du. Ein anderer Elvis.
Streichelt ihm abwiegelnd über den Kopf.
Elvis (ausatmend): Ach so. Ich dachte schon.
Pierre: Warum, magst du keinen Einstein?
Elvis: Doch schon … (Pause) …Aber es ist so anstrengend, ein Genie zu sein.
(Pause. Hinzufügend) Ohne Halt.
Clara (aufklärend): Aber wir ziehen doch alle ins Licht!
Elvis (wissend): Ja. (Pause) Deshalb muss der Weg dorthin frei sein.
Pierre (versteht nicht): Aber du sammelst doch Staub …äh, ich meine (nachdenkend) … Materie.
Elvis (ruhig, weise): Ja.
Pierre: Und die Wohnung soll frei davon sein?
Elvis: Ja.
Pierre: Aber du nimmst sie doch mit?
Elvis (erhaben): Natürlich. Das Wichtige nimmt man immer mit.
Clara (ehrfürchtig): Was ist das Wichtige?
Elvis (bestimmt): Staub.
Pierre (gereizt): Und weshalb brauchst du uns?
Elvis (lachend): Ja, irgendwer muss doch tragen.
Pierre (empört): Hast du gehört, Clara?! Packesel sind wir.
Clara (fern): Mhm, Packesel.
Elvis (korrigierend): Nicht Packesel. (Pause. Euphorisch) Jünger!

Schweigen.

In der Wohnung wird es immer heller.

Alle drei treten vor zu ganz großen, sich mehr und mehr erhellenden Fenstern. Nach circa zwanzig Sekunden scheinen sie beinahe vollkommen vom Licht verschluckt zu werden.

Pierre (orgastisch): Und? UND?
Clara: Ja!
Pierre: Ja …
Clara (staunend): Das ist also das Ende der Welt!
Pierre(kopfschüttelnd): Nein … (Pause) … Das ist der Anfang!
Beide (ehrfürchtig): Ja…

Vom Zuschauerraum sieht man hinter ihnen noch eine Person (den echten Elvis Presley), auf eine Leinwand frontal projiziert, nicken. Dann wird alles weiß.

Daphne Elfenbein: O Stern, O Stern von Bethlehem

O Stern O Stern von Bethlehem
Weißt du worauf du scheinst?
Schon Ostern wird dein Kindlein gehen
Ist `s drum, dass du so weinst?

O Stern, dass hinter dunklen Wolken
der Julmond regnet vor sich hin
Ostern wird dann Blut gemolken
Vom guten Hirten – ob das Sinn…

macht, 0 Stern am Himmelszelt
wo sie vor Wiki-Weisheit schwitzen
Hinz und Kunz sich für Messias hält
Ostern verspricht man, still zu sitzen

Sieh, O Stern,wie sie einander foltern!
unter Kollegen, Brüdern, Bösewichten
Ostern zahlen wir`s ihnen heim
Der Heiland wird`s schon wieder richten

O Stern der Hoffnung nur kurze Zeit
Hat dein Kindlein lieb geflötet
Ostern siegt die Sachlichkeit
Wie geil es sich karfreitags tötet

Alle Jahre wieder siegt O Stern
Die Amtsgewalt über die Liebe
Ostern kreuzigt man fromm und gern
Zu Juul gibt´s gleich den Tod in die Wiege

Immanuel Reinschlüssel: Anconella

Scheppernd schleppt sich das stumpfgefahrene Triebwerk durch die hügelige Landschaft, die im Schein der ersten Sonnenstrahlen nur Konturen preisgibt. Ich höre die Lok ächzen und schnauben, während ich mich inmitten eines einzelnen verwaisten Waggons von ihr durch Täler und Hügel ziehen lasse, mein Schicksal in ihre staubigen Kolben lege. Im Gepäcknetz über mir wackeln meine Habseligkeiten und Mitbringsel hin und her, Geschenke für deine Großeltern, dunkle, ehrliche Schokolade, selbstgerührter Eierlikör, dazu ein Osterbrot aus der Backstube meiner Mutter. Dieser Feiertag, der für sie und ihr Land der höchste im ganzen Jahr ist und mir nichts bedeutet außer einem langen Wochenende und dem sicheren Übergang in die warme Jahreszeit, ausgerechnet er wird über uns entscheiden.

Niederlegung oder Auferstehung, so nah beieinander, einst drei Tage, für uns wohl nur drei Herzschläge voneinander entfernt.

Bis Bologna glitt ich in einem Hochgeschwindigkeitszug durch Voralpen, Tunnel und schwarze Nacht, eine surreale Reise ohne Anhaltspunkt für Raum und Zeit, eine konstante Überforderung der Sinne, die natürlich keinen Schlaf fanden im Angesicht der bevorstehenden, vielleicht letzten Begegnung mit dir. Der Umstieg im leergefegten Bologna Centrale, der sich in gespenstische Stille hüllte als kenne er das Ziel meiner Reise, ein letztes Lufthohlen. Ich hätte umdrehen können in diesem Moment, zum letzten Mal auf meiner Reise, hätte mich auf eine Bank setzen, das Osterbrot brechen und den Eierlikör entsiegeln können, auf den Zug zurück in den Nordnorden, das uferlose der beiden Monacos wartend. Und dann einfach einsteigen und alle Erinnerungen an dich für immer in den tiefsten Brunnen meines Geistes stecken, eine Felsplatte darauflegen und pfeifend nach vorne gehen können.

Doch im wahren Leben gibt es kein zurück und keine Felsplatten für Erinnerungen, sondern nur Niederlegungen und Auferstehung, getrennt durch Phasen heimtückischer Stille.

Also hinein in den schiefen Waggon, als einziger Mensch der Welt zu dieser unchristlichen Zeit an diesem christlichsten aller Tage. Hinein in den Anstieg zur letzten Etappe, hinauf nach Anconella, hinunter ins Reich des Zerberus oder den Himmel auf Erden. Langsam, beinahe unmerklich rollte der Zug aus dem Bahnhof und rumpelte durch das schlafende Bologna, diese letzte Schönheit vor dem Mezzogiorno.

Die Sonne steigt mühsam auf. Wie gerne würde ich den Sonnenaufgang bewundern, dem du seit vielen Wochen wohl genau so jeden Tag beigewohnt hast, die Uhrzeiten deiner WhatsApp-Nachrichten gaben mehr über deine Schlafgewohnheiten preis als deine Nachrichten selbst, nachdem du zu deinen Großeltern gegangen bist, oder sollte ich sagen geflohen. Zurück zum Ursprung, zu dem deine Familie bei allen großen Anlässen zurückkehrt. Die kleine Kapelle sah jeden Bund fürs Leben entstehen, den deine Familie je schloss, und ihr Taufbecken machte euch alle Teil der großen Ganzen, jedes dritte Kreuz auf dem kleinen Friedhof trägt die Namen deiner Ahnen.

Natürlich musstest du nach Anconella, ich hätte es auch ohne deine Nachrichten gewusst. Hier beginnt es und hier endet es, hier kommen Niederlegung und Auferstehung seit Jahrhunderten zusammen, warum sollten ausgerechnet wir die Ausnahme sein? Du musstest an diesen Ort, um dein Herz ganz spüren zu können, diesen unersättlichen Sammler, für den ein einzelner Mann nie mehr als eine Aktennotiz sein konnte, bevor es auf mein Herz traf, das weder Sammler noch Jäger, sondern einfach nur Muskel ist.

Ein Muskel, der seit dem deutschen Monaco verknotet in meiner Brust liegt wie das Osterbrot in seinem Papiermantel im Gepäcknetz über mir. Ein Muskel, der auf seine Bestimmung wartet, die sich auf dem oleanderbewachsenen Bahnsteig von Anconella offenbaren wird, wenn deine stumme Karfreitagsmesse Niederlegung oder Auferstehung predigen wird.

Joe Wentrup: Alles fällt auf einen Tag

Wenn die Sonne am tiefsten ihre Bahn zieht und am frühesten erlischt, dann gedenken wir den Tod des Sonnengottes, des Mitras, von Rom – flüchtig mit Bibelversen übertapeziert – dereinst als neues Produkt präsentiert: als Jesus, beauftragt, das Reich unter seinem milden Blick zu stärken.

Doch halt – gedenken wir an diesem Tag nicht der GEBURT des Sonnenkindes? Auch dies trifft zu, denn auf den kürzesten Tag folgt immer auch ein längerer – Mitras erwacht zu neuem Leben. Doch noch ist dieses schwach und unbedeutend, noch wird es kälter, der Frost überzieht das Land, die Welt verharrt in Totenstarre.

Erschöpft kroch Jesus aus dem Schützen und starb im Steinbock – umgeben von elf weiteren Zeichen: seinen Jüngern. Am Himmel regiert nun die Dunkelheit, die Schwarze Sonne: Sie ist Saturn, der schwächste mit bloßem Auge sichtbare Planet – auch Satan genannt. Es ist die Zeit der Unterwelt, der Dämonen und des Jenseits.

Erst im Februar gewinnt Mitras langsam seine Macht zurück, die Menschen schöpfen Mut und beginnen hinter Teufelsmasken alles Zwielichtige zu verhöhnen und zu verscheuchen, im ekstatischen Treiben des Karnevals. Doch noch hat Jesus, Ra, die Sonne, Mitras, seinen Thron nicht bestiegen.

Bis zur Tag- und Nachtgleiche wird es dauern, daß der Göttliche seinen Platz einnimmt. Doch erst muss er nun den pietätvoll verschobenen Tod der Wintersonnenwende sterben und wie das winterliche Zentralgestirn sodann drei Tage scheinbar tot verharren – bevor er schließlich prächtig strahlend aufersteht!

Die Menschen sind erlöst; Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen! Baalsfeuer brennen, gleich Hase und Kaninchen rammelt man zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Ostara – ihr Name sagt es: im Osten geht die Sonne auf – und reicht ihr und auch den Seinen als Gabe mehr oder minder lebensspendende Eier:

  • Ein gelbes, besonders süßes, das die Zahnärzte gelegt haben.
  • Ein rotes, mit dem Versprechen, dem Proletariat die Kontrolle über die Produktionsmittel zu verschaffen (wobei es sich – wie sollte es schon anders sein – umgekehrt verhält).
  • Ein grünes, ebenso verdreht gelegtes – aber immer eilfertig darauf bedacht, kein Nestbeschmutzer zu sein.
  • Ein violettes, welches eigentlich verdient hätte das rote zu sein, wäre da nicht der Beigeschmack von Zweitakt-Abgas und Norm-Eierkarton.
  • Ein schwarzes, unter Protest gereicht, da ich hier das Christentum entlarve (als würden sie das nicht die ganze Zeit selber tun).
  • Und schließlich ein blaues mit braunem Inhalt – welcher gewiss keine Schokolade ist.

Ich wünsche allen ein frohes Sonnenfest!

Robert Segel: Stiller

Stille.
Immer wieder diese Stille, atemlos und unschuldig.

Eine kalte Nacht, selbst in dieser Region.
Eine beschwerliche, eine trostlose Nacht.
Und immer wieder diese Stille.
Eine einzelne Kerze, die schummriges, rußiges Licht spendet.
Eine Kerze, die keine Wärme spenden kann.
Dazu abgekämpfte, raue Männer, die keinen Schutz vor dem harten Wind suchen, sondern das Neugeborene sehen wollen.
Männer, die seltsame Geschichten aus einsamen Nächten am Feuer murmeln.
Und dazwischen, wenn die Mutter den Blick auf das Kind freigibt, immer wieder diese Stille.
Vor dem Neugeborenen werden die zermürbten Männer, die so laut sein können, immer wieder plötzlich still.
Absolut still.
Ihre Tiere, die sie mitgebracht haben, rühren sich kaum.
Die Welt um sie herum wird still, man hört nicht einmal mehr den harten Regen fallen. Und selbst die Eltern werden still, nur die Mutter spricht ab und zu ein paar leise Worte zu ihrem Kind, so als wäre diese Stille zu intensiv für sie.
So stehen sie alle, Mensch, Tier und Welt, um das kleine, rotwangige Bündel herum, das in ihrer Mitte im warmen Stroh liegt und könnten ihre Aufmerksamkeit, atemlos und unschuldig, nicht von ihm lassen, selbst wenn sie es wollten.
Dieser kurze, unendliche Moment scheint zu intensiv für alle von ihnen.
Eine Stille, wie sie die Welt damals brauchte.
Eine Stille, wie sie die Welt auch heute noch braucht.
Eine Stille, wie sie die Welt auch morgen noch brauchen wird.

Die Kondenswölkchen vor ihren geschlossenen Mündern werden seltener.
Dabei hatte man sich das ganz anders vorgestellt.
Jeder, der die alten Schriften lesen kann und
jeder, der jemanden, der die alten Schriften lesen kann, zuhören kann, hatte sich diesen Menschen, den Grund dieser intensiven Stille, ganz anders vorgestellt.
Viel mächtiger.
Viel auffälliger.
Viel lauter.
Stattdessen immer wieder diese Stille.
Stattdessen frierende, ängstliche Eltern.
Stattdessen ein kleiner Verschlag, der die kalte Nacht nicht ganz aussperren kann.

Einige hatten in den alten Schriften von einem König gelesen.
Von einem König, der prunkvoll über alle Landstriche herrschen solle,
der die korrupten Machthaber vertreiben solle,
der endlich Frieden und Sicherheit bringen solle.

Stattdessen dieser kurze, unendliche Moment, so leise, wie ihn die Welt bis an das Ende ihrer Zeit benötigen wird.
Stattdessen ein kleines, rotwangiges Bündel im Stroh, das selbst Frieden und Sicherheit nötig hat.
Stattdessen atemlose, sprachlose Menschen an seiner Seite, die es so viel besser wissen in diesem Augenblick als die alten Schriften, obwohl keiner von ihnen lesen kann.

Denn vor ihnen liegt die Erkenntnis, dass kein König kommt, dass ein unschuldiges, stilles Neugeborenes kommt. Und sie wissen nicht, wie sie das so selbstverständlich erkennen können, doch sie spüren es.
Ihr Gespür dafür ist so intensiv an diesem Abend, dass sie ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigen, fast jeder von ihnen, die Mutter nicht.
So intensiv, dass sie wildfremde, dunkle Männer ganz nah an ihren größten Schatz lassen.
Sie alle spüren, dass er es ist, eingewickelt in alte Decken, gegen die Kälte,
er, von dem in alten Schriften seit langem gesprochen wird.
Sie alle spüren, dass er es ist, der zum größten Schatz aller Menschen werden soll und werden wird.
Sie alle spüren, ganz ohne Anflug von Mitleid, dass er nicht mächtig ist, dass er nicht auffällig ist, dass er nicht laut ist, jetzt noch nicht.

Jedem von ihnen geht im Laufe dieses Abends derselbe Gedanke durch den Kopf – ob die alten Schriften veraltet seien, da ein König hier ganz und gar unpassend wäre.
Denn Machthaber sind zu laut,
Machthaber haben eigene Ziele,
Machthaber interessieren sich nicht für Leute, die in kalten Nächten Tiere hüten oder in windigen Holzbaracken gebären müssen.

Doch vor ihnen liegt die Erkenntnis, dass nicht die alten Schriften veraltet sind,
sondern der Begriff des „Königs“.
Ein wahrer König vermag es, eine Stille zu erzeugen, wie sie die Welt bis zum Ende ihrer Zeit benötigen wird.
Ein wahrer König hat keine eigenen Ziele und kommt genau zu den Leuten, die in kalten Nächten Tiere hüten oder in windigen Holzbaracken gebären müssen.
Ein wahrer König hat keine Macht, er gibt sie an die einfachen Leute weiter, an die, die sich Macht nicht zutrauen.
Und so erleben an diesem Abend die wenigen Menschen, die das Glück, oder vielmehr die Bestimmung haben, das Neugeborene kennen lernen zu dürfen, diese intensive Stille als ein göttliches Geschenk,
als Abkehr von allem, was das Leben erschwert und den Blick trübt für das, auf was es wirklich ankommt.

Die rauen, zermürbten Männer wenden sich schließlich ab, viel zu bald und viel zu plötzlich in ihrer Erinnerung, und gehen ihrer alten Aufgabe nach, die sie so vernachlässigt haben, ohne es zu bereuen. Sie wenden sich schließlich ab, nicht ohne warme Herzen und ungewohnt sanftes Lächeln auf schmutzigen Lippen.
Sie wissen nun, dass es in ihrer Welt auch Stille geben kann, intensive, wertvolle, geschenkte Stille, die den Blick freigibt für das, auf was es wirklich ankommt.
Sie werden ihre Erkenntnis mit allen Menschen teilen, denen sie noch begegnen werden, mit sanftem Lächeln auf schmutzigen Lippen.
Sie werden es nie bereuen.

Zurück, in einem kleinen Verschlag, der die kalte Dunkelheit nicht ganz aussperren kann,
bleibt die noch junge Familie,
frierend, aber hoffnungsfroh.

Matt S. Bakausky: Das sechste Ei

Peinlich wäre es mir einen Bekannten zu fragen.

Nur noch wenige Tage bis Ostern. Ich hatte bereits ein Sechserpack Ü-Eier gekauft. Sie schauten mich vom Tisch aus an und es kam mir so vor als würden sie meine Lage belustigend finden. „Der ist 33 und will noch Ostereier suchen!“ … „Der kennt niemanden der uns für ihn verstecken will!“…“Voll der Versager!“

Ich steckte mir Kopfhörer in meine Ohren und stellte die Geräuschunterdrückung an. Dämliche Eier, kennen mich doch gar nicht. Ich wollte nur Ostereier suchen, wie ich es als Kind getan hatte.

Karfreitag war ich so frustriert, dass ich im Supermarkt neben einer Dose Bratheringe zwei Flaschen Wodka aufs Band legte. Die Kassiererin wünschte mir frohe Ostern. „Für Sie vielleicht!“, dachte ich mir, sagte jedoch nichts und packte die Waren schnell ein. Eine schöne Scheiße.

Zu Hause verhöhnten mich die Überraschungseier wieder. „Versager, Versager, Versager“. Ich nahm die Packung und steckte sie in den Schrank. Elendige Dreckseier, ihr habt doch keine Ahnung, dachte ich mir während ich das erste Glas mit Wodka füllte.

Dann startete ich die Passion Christi auf Netflix. Eine Wodkaflasche leistete mir Gesellschaft vor dem Schirm, die andere wartete im Kühlschrank auf mich.
Nach dem dritten Glas fühlte ich mich besser und hatte Lust raus zugehen. Ich schrieb einen Bekannten an und verabredete mich mit ihm in einer Bar. Während ich auf ihn wartete, trank ich schon mal ein Bier. Die Stimmung musste aufrecht gehalten werden.

Als ich am nächsten Tag  voll bekleidet inklusive Schuhen auf dem Boden liegend in meiner Wohnung aufwachte, wusste ich nicht mehr wie ich nach Hause kam oder was sonst in der letzten Nacht passiert war. Ich fühlte mich grauenhaft.

Nach drei bis vier Gläsern Wasser war es Zeit für ein Katerfrühstück. Ich hatte doch noch Brathering von gestern! Auf der Suche nach der Dose, fand ich die Ü-Eier-Schachtel. Sie war leer. Hatte ich sie gegessen? Ich schaute mich um, fand den Fisch und zwei leere Wodkaflaschen. Keine Spur von diesen gelben Plastikbehältern oder diesen Plastikfiguren und so weiter. Die Ü-Eier waren einfach verschwunden. Ich machte mich über den Hering her.

Den Rest des Tages verbrachte ich Abschnittsweise im Bett, in der Küche beim Wasserhahn und auf dem Klo.

Nach einer schlecht geschlafenen Nacht kam der Ostersonntag. Frisch aus der Dusche griff ich in den Kleiderschrank und wühlte nach einer Unterhose. Dabei fühlte ich plötzlich etwas ovales. Ich zog es heraus und siehe da: Ein Überraschungsei. Ein Flashback im Gehirn: Ich, wie ich im Vollrausch auf die geniale Idee komme Ostereier zu verstecken. Gute Arbeit, betrunkenes Selbst.

Eins von sechs habe ich schon. Was für ein Spaß. Nach und nach fand ich die anderen und sammelte meine Trophäen auf dem Tisch. Eins in der Abstellkammer hinter den Staubsaugerbeuteln, eins im Nescafé-Glas, eins in den Winterstiefeln im Flur. „Na, was sagt ihr jetzt, Eier?“ Sie jubelten mir zu. „Du bist der Größte!“, „Echt stark!“, „Was für ein geiler Typ!“

Das fünfte fand ich unter dem Bett. Dann vergingen Minuten, die zu Stunden wurden. Das sechste Ei wollte nicht auftauchen. Die anderen fünf fingen an immer mehr zu kichern, desto mehr Zeit verging.

In meiner Bude sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Irgendwann brach ich erschöpft zusammen in Mitten von den auf dem Boden verteilen Gegenständen.  
Das war das schönste Ostern seit langem! Seit meiner frühen Kindheit wahrscheinlich!

Die Überraschungen aus den Eiern stellte ich auf das leergefegte Bücherregal über dem Bett. Jede Nacht ruft von da oben der kleine Plastikzwerg herunter: „Na, wo ist das sechste Ei?“ Und das zusammengebastelte Auto hupt daraufhin schallend. Spätestens wenn dann der Plastikhelikopter hämisch den Propeller rotieren lässt, steige ich wieder aus dem Bett und setze meine Suche fort.

Jeder Mensch braucht eine Aufgabe im Leben. Viele suchen ihr Leben lang nach ihr. Ich hatte meine gefunden.