Lena Speckmann: (Un)Ordnung

„Ordnung ist das halbe Leben!“

Junge, wie ich diesen Spruch hasse. Ich weiß gar nicht mehr, ob das Mama war oder Papa, aber diesen Spruch bekam ich früher ständig zu hören. Meganervig. Was ich am meisten daran hasse? Auf der einen Seite, dass er stimmt. Man spart wirklich wahnsinnig viel Zeit, wenn man immer weiß, wo was liegt. Auf der anderen Seite frage ich mich seit meiner Kindheit, woraus denn nun aber die andere Hälfte des Lebens besteht, wenn Ordnung als solche einfach mal 50% einnimmt. Aus Steuern? Bonbons? Oder am Ende ganz profan: aus Unordnung?

Ordnung ist praktisch. Sie spart allerdings nur dann Zeit, wenn man sie konsequent anwendet, „konsequent“ being the operative word. Denn wenn man – wie ich – eher zur Unordnung neigt und irgendwann ausnahmsweise mal etwas vernünftig und ordentlich wegsortiert, dann aber vergisst, dass man zur Abwechslung mal ordentlich war, tja, dann ist die Ordnung vollkommen unnütz. Wie oft mir das schon passiert ist, vermag ich gar nicht zu sagen, denn ich bin, richtig, sehr unordentlich.

Ich betreibe Ordnung auf andere Art. Ich sortiere lieber meine Gedanken als meine Gegenstände, und wenn sie sortiert sind, schreibe ich sie auf, das funktioniert eigentlich ganz gut. Auch bei Serien ist mir Ordnung wichtig. Ich kann Serien nicht so gut bei Folge zwei oder drei anfangen. Eigentlich ist das ja wurst, weil man fast immer super auch später in Serien einsteigen kann, die Drehbücher sind ja oft absichtlich so geschrieben, aber ich mag das einfach nicht. Das muss schon seine Ordnung haben. Einmal bin ich bei Staffel zwei einer Serie eingestiegen, die mein Freund schon kannte. Ich konnte die Serie aber erst wirklich genießen, als ich unabhängig von meinem Freund die erste Staffel nachgestreamt hatte. Bei so einem banalen Mist ist Ordnung auf einmal relevant, bei meiner Steuer und den gesammelten Belegen scheiß ich drauf.

Als Teenager stieß ich irgendwann auf den sogenannten „Sponti-Spruch“ „Wer aufräumt, ist nur zu faul zum Suchen“ und so hielt ich es mein Leben lang. Hab es ohne größere Zwischenfälle bis zur 50 geschafft.

Ich mag Ordnung als Konzept. Ich liebe auch Symmetrie. Sehr. Aber Asymmetrie liebe ich genau so. Allerdings nur, wenn sie ordentlich umgesetzt wird. Auch die Asymmetrie hat einer gewissen Logik zu folgen, damit man merkt, dass man es hier mit Asymmetrie zu tun hat und nicht mit irgendeinem Zufallsprinzip. Aleatorische Anordnungen machen mich verrückt, die mag ich nicht. Die erfordern zu viel Aufmerksamkeit. Zu viel Denkleistung, die vorausgesetzt wird. Asymmetrien sind als solche offensichtlich, bei Randomness versucht man instinktiv erst mal eine gewisse Ordnung darin zu finden. Selbst wenn es nur ein oder zwei Sekunden sind, die man vergeudet, diese Sekunden sind weg und über eine Zeit von fünfzig Jahren läppert sich das. In Summe zu viel verschwendete Gehirnkapazität, über die man noch verfügen könnte, wenn Dinge symmetrisch gewesen wären.

Wie gesagt, ich mag Ordnung. Aber ich möchte sie nicht selbst herstellen. Das verlangt mir zu viel ab. Geduld und Lebenszeit. Wenn ich sie brauche, bring ich die Geduld halt auf und quäl ich mich durch (Steuererklärung einfach jedes Jahr ein Drama, seit 25 Jahren…), ansonsten erfreue ich mich an einem außerordentlich unordentlichen Leben.

Und das ist völlig in Ordnung.

Juliane Kling: Struktur

Wilma ist ein ordnungsliebender Mensch. Sie schätzt es, wenn die Dinge ihren geregelten Gang nehmen. Aufgaben erledigt sie planvoll und mit ausgesuchter Sorgfalt. Sie mag es, wenn Handlungen und Abläufe ein durchdachtes System haben. Das verschafft einem Überblick. 

Wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewohnten Platz oder in der von Wilma als sinnvoll erachteten Reihenfolge befinden, gerät sie leicht aus der Fassung. Chaos hat in Wilmas Leben keinen Platz. Deshalb sind To-Do-Listen ihr heiliger Gral. Nur wenig verschafft Wilma so viel Befriedigung, wie einen Tagesordnungspunkt in ihrem Taschenkalender abzustreichen, außer vielleicht ein doppelt gereifter Single Malt mit ihrer Nachbarin Dorea. Dorea ist Griechin und eine echte Whiskyliebhaberin. 

Dorea meint, der verfluchte Ouzo solle bleiben, wo der Pfeffer wächst und zwar in der Unterwelt. Ungeachtet der Tatsache, dass Wilma einen kräftigen Ouzo sicherlich nicht ablehnen würde, könnte sie bei dieser Aussage regelmäßig an die Decke gehen. In der Unterwelt kann ihrer Ansicht nach nicht einmal der Pfeffer wachsen. Da wächst überhaupt nichts, abgesehen von Doreas haarsträubenden Schnapstheorien. Wilma hasst Ungenauigkeiten und man könnte sie in dieser Hinsicht durchaus als pedantisch bezeichnen. 

Früher haben sich Dorea und Wilma jeden Sonntagabend zusammen den Tatort angeguckt. Mittlerweile will Dorea das allerdings nicht mehr, weil Wilma sich stundenlang über die strukturlosen Ermittlungsversuche der Hauptfiguren aufregen konnte, von den fatalen Logikfehlern im Drehbuch noch gar nicht angefangen. Statt dem Tatort schaut Wilma jetzt lieber anspruchsvolle Dokumentationen auf Phoenix und genehmigt sich dabei ein Glas Brandy. 

Neben ihrem Interesse an gut recherchierten Dokumentarfilmen hegt Wilma eine große Leidenschaft für Unterhaltungsliteratur. Sie liebt es, in die Geschichten Anderer einzutauchen und dabei zu wissen, dass sie jederzeit in ihre eigene Ordnung zurückkehren kann. Bei den Büchern in ihren Regalen achtet Wilma stets darauf, dass die Rücken Kante auf Kante stehen. Dass sie eine farblich abgestimmte und ebenmäßige Gerade bilden, die streng nach Autor, Verlag und Thema organisiert ist. Jedes Mal, wenn Wilma auf die tadellosen Regalreihen in ihrem Schlafzimmer blickt, fühlt sie sich von einer tiefen inneren Zufriedenheit erfüllt. 

Allgemein ist Wilmas Wohnung geradezu penibel sauber und aufgeräumt, was von unangekündigtem Besuch für gewöhnlich mit hellem Erstaunen und unverhohlener Bewunderung quittiert wird. Ob das etwa immer so aussehen würde? Ja, sagt Wilma dann schlicht und öffnet eine Flasche französischen Weißwein, den sie für solche Fälle vorsorglich im Haus hat. Niemals würden Wilma unerwartet das Klopapier oder die Dinkelnudeln ausgehen. Hygieneprodukte und Vorräte werden aufgefüllt, bevor sie sich dem Ende neigen. 

Wilma hasst plötzliche Überraschungen, weshalb ihr unangekündigter Besuch auch gehörig gegen den Strich geht. Die Flasche Weißwein dient daher in erster Linie ihrem eigenen Wohlbefinden. 

Manchmal wäre Wilma gerne flexibler, aber flexibel zu sein erfordert Spontaneität und Spontaneität bereitet ihr enormen Stress. Wenn Wilma gestresst ist, wird sie unausstehlich. Ihre Hände werden schwitzig und ihr Mund trocken, sie bekommt Herzrasen und Ohrensausen. Sie braucht dann ganz schnell einen Schluck Likör von ihrer Oma Hilde und falls der nicht zur Hand ist, tut es auch etwas anderes, Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck und fegt Wilmas Gedanken wieder frei. Ein klarer Kopf bedeutet Ruhe und Konzentration und die hat Wilma dringend nötig. 

Ihr Erinnerungsvermögen lässt sie in letzter Zeit häufig im Stich. Sie vergisst, wo sie ihren Taschenkalender hingelegt und ob sie die Wohnungstür abgesperrt hat, nachdem sie das Haus verlassen hat. Deswegen hat sie sich nun Ginkgo-Tabletten gegen Gedächtnisstörungen gekauft und nimmt jeden Tag eine, ganz genau nach Packungsanleitung. 

Wilma hat früh gelernt, dass man mit Umsicht und Sorgfalt viel erreichen kann. Wenn sie sich abends mit Freundinnen in einer Bar verabredet, kann sie ohne schlechtes Gewissen den teuersten Gin Tonic auf der Karte bestellen. Sie kann vier Stück davon trinken, bevor sie nicht mehr deutlich sprechen kann.
Daran hält sie sich akribisch.

Wilma verabscheut Improvisation und ihr Rausch hat immer System.

„Man darf nicht den Überblick verlieren“, sagt sie. „Struktur ist wichtig.“