Carolin Wabra: Heimkommen

und ich weiß dass es dir nicht gut geht. habe es bereits gerochen als du nach hause kamst. als du in dein zimmer gingst und die tür leise hinter dir zugezogen hast.
es roch ganz süßlich im gang nach deinem parfum. aber auch nach deiner traurigkeit.
jetzt liegst du in deinem bett und hast die dunkelblau gestreifte bettdecke über dich gelegt. genauso wie die schwere des heutigen tages – ach des ganzen lebens – über dir liegt. in embryonalstellung hast du dich zusammengerollt. dein warmer bauch drückt sich an deine kühlen oberschenkel.
ich liege im zimmer nebenan. starre an die decke und kann dich leise durch die zwischentür atmen hören. gedanken rasen durch meinen Kopf. Laut, leise, dann wieder lauter als zuvor. Ich bekomme sie nicht zu fassen. Geistige Abrisse über die Zukunft, über das Scheitern, über Ziele, über die Vergangenheit, über dich, über mich. Sie lassen sich nicht ordnen. Sie glitschen durch meine Finger.
ein zimmer weiter hast du deinen laptop nun vor dir aufgeklappt. ein weiß bläuliches licht spiegelt sich in deinen augen wieder. irgendeine schöne serie schaust du jetzt. eine serie in der das leben warm ist und freunde für immer bleiben. in denen ängste keine rolle spielen und wenn dann können sie gelöst werden und dienen nur einem größeren glücklichen zweck, der in staffel 2, folge 4 auftauchen wird.
doch dieses leben ist dir genauso fremd wie mir. deine ängste sind vermutlich noch größer als meine aber du hast sie ganz tief weggepackt in die hölzerene schublade deiner kommode. dort liegen sie versteckt unter schönheitsmasken und augentropfen.
du willst dich auflösen so wie ich hier in meinem bett und ich frage mich warum wir das nicht zusammen tun. warum wir nicht beide unsere dunkelheit nehmen und auf den tisch legen. dann würde sie dort liegen. heiß und pulsierend. sie würde über die tischplatte kriechen wie eine ätzende flüssigkeit. warm und dampfend würde sie dann vor uns liegen und wir beide würden daneben sitzen und rauchen. würden uns an den händen halten und die dunkelheit betrachten.


Fabian Lenthe: Karl scheitert

Karl scheiterte. Er scheiterte im Sportverein, in der Schule, im Job, in Beziehungen. Dafür musste man gar nicht so viel tun als gedacht. Eigentlich reichte es völlig nichts zu tun, das war mehr als genug. Scheitern ist die Königsdisziplin, dass wusste Karl. Darin konnte man erfolgreich sein, ohne etwas leisten zu müssen. Die Gewissheit ist das Beste daran. Karl konnte nichts verlieren, weil er nie etwas gewann, von Wettkämpfen hielt er nichts. Etwas in eine Vitrine zu stellen, damit es verstaubt, erschien ihm unlogisch. Das Scheitern war da schon verlockender. Wenn man es richtig anstellte, konnte man sogar etwas gewinnen. Als Karl acht war, scheiterte er als linker Verteidiger bei einem Fußballspiel. Die Mannschaft verlor das Spiel, und Karl musste nie wieder ins Training. Bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, lag er ein paar Kommastellen unter dem Schnitt. Er ging zurück auf die Hauptschule und lernte sich zu prügeln. In der Ausbildung, scheiterte er sogar zweimal. Vier Jahre waren vergangen, er wurde volljährig, lernte ein Mädchen kennen und zog mit ihr zusammen. Nach zwei Jahren trennten sie sich, aber Karl behielt die Wohnung. An das Scheitern gewöhnte sich Karl, es hatte seine Vorteile. Es war eine Konstante, die ihm treu blieb. All die Jahre, wusste er nicht was er vom Leben wollte, aber zumindest was er nicht wollte.


Gymmick

Eigentlich ist der Gymmick schon seit vielen Jahren weltberühmt, was jetzt endlich auch die Welt erfahren soll! Wenn sich böse Möbelstücke über die Menschheit hermachen, süße Tiere Selbstmord begehen, autonome Nonnen randalierend durch die Straßen rasen oder Bundeskanzlerinnen in Moonboots vors Verfassungsgericht ziehen dann ist sicher Gymmick nicht weit weg. Der Nürnberger Anarchokomiker bewegt sich in seinen Liedern irgendwo zwischen Funny van Dannen und Rio Reiser aber eben ganz weit dazwischen. Doch der Gymmick ist nicht nur als Comedian umtriebig. Auch als Comiczeichner hat er sich in der Szene längst einen Namen gemacht.
Fakt ist … der Mann hat Kultpotential!
Foto: www.gymmick.de


Gymmick bei EBMD:

Theobald O.J. Fuchs: Das Diätdiktat

Mir war das vorher so klar nicht gewesen. Dass ich als Amtsträger so viel verdienen würde. Als berufsmäßiges Mitglied des Vorstandsunterausschusses einer nachgeordneten Behörde. Drei Sitzungen im Monat hatte ich abzuleisten, gut: ich hatte einige Papiere zu lesen, was aber letztlich niemand überprüfte, und es gab diese Koordinationstreffen mit anderen Stellvertretern im benachbarten Unterausschuss – bloß hatte ich da noch nie teilgenommen, hatte mich bisher irgendwie nicht überwinden können, hatte mir lieber ein Attest besorgt, das ging ganz einfach. Dass es so abartig viel Geld für diese Arbeit geben würde, haute mich anfangs echt von den Socken. Inzwischen wird mir nicht mehr schwarz vor Augen, wenn ich die Summe auf meinem Kontoauszug sehe, aber einfachen Leuten, die das nicht gewohnt sind, empfehle ich immer, nur eine Ziffer einzeln eine nach der anderen mit einer ausreichenden Pause dazwischen zu lesen. Es verringert das Risiko, dass mir einer umkippt. Dann kam es natürlich wie es kommen musste. Ich hatte zu viel Penunzen und kaufte völlig unkontrolliert den totalen Schrott ein. Weil ich es konnte. Ein Videorekorder musste her – obwohl die gar nicht mehr hergestellt werden –, ein Roboter-Hund, der selbstständig Gassi geht und autonom nach kleinen Kindern schnappt, eine Glitzertapete im Badezimmer – echter Glitzer natürlich, nicht das Zeug, das sie in China in Tütensuppen mischen –, ein neuer Schuh für meine Frau. Den zweiten gab’s dann Weihnachten. Bis dahin ging’s barfuß, sie hat ja zwei gesunde Füße, sagte ich ihr immer! So weit, so alles gut, dachte ich. Doch: Ba-dong! Irgendwann ertappte ich mich dabei, als ich gerade den Aludeckel vom elften Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt riss, dass ich dachte: Kann ich mir eigentlich noch ein Leben ohne dieses Pfirsich-MaracujaSardelle-Mango-Joghurt vorstellen? Da wurde mir schlagartig klar: Ich bin süchtig nach dem Zeug. Denn das weiß jedes Kind: sobald man darüber nachdenkt, ob man süchtig ist, ist man süchtig. Je, nun? überlegte ich, was ein schönes Schlamassel, mit allem drum und dran: Co-Sucht der Frau; Beschaffungskriminalität, da ich verboten hohe Trinkgelder an der Kasse im Supermarkt verteilte – die Angestellten dort hatten schon gar keine Lust mehr, die anderen, armen Kunden zu bedienen, weil ich knallhart alle Sympathien abräumte wie eine Eichkatze, dicker Geldbeutel schlägt Herzsticht, da sind sich alle einig! –; und freilich enge bis engste Hosen im Leoparden- und Tiger-Style, in denen sich mein eingezwängter Wurstkessel wund rieb. Oft lagen im Foyer unserer XXL-Villa im Coq-au-vin-Style Berge leer gefressener Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurtbecher, zwischen denen wilde Esel, Turm-Kraniche und Mittelgebirgs-Feuermolche wühlten, auch sie Opfer einer unbeherrschbaren Lust auf Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango. Ökologischer Fußabdruck: riesenscheiße. Der Tiefpunkt kam, als ich die Kontrolle über mich selbst verlor. Mein Diener stellte mir eines Morgens das goldene Tablett mit dem Becher ans Bett, machte zwei Schritte zurück, um in der Ecke demütig zu warten, wie wohl mein nächster Befehl lauten mochte. Obschon der natürlich alle Tage und immer wieder gleich lautete und nichts anderes anordnete als »noch eines!«. Schluck, schluck, würg! Kaum hatte ich den Löffel aus Rohseide und Mondsilber zum Munde geführt, überfiel mich ausgedehnter Ekel und kerzengerader Abscheu: Das war kein Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt, was da widerlich klebrig im billigen Kunstplastik-Becher schwappte! Es war minderwertiges Pfirsich-Banane-Sardelle-MangoJoghurt! Das kotzt die Maus! Ich spie aus. Warf dem Diener harte Worte an den Kopf, das Tablett hinaus zum Fenster, wo es die gläserne Voliere für die fliegenden Nacktschnecken traf und verkratzte! Absolut nicht nice! Ich begriff: Entweder ich änderte mein Leben – jetzt, sofort, auf der Stelle, bei Neumond – oder ich würde an Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango zu Grunde gehen. Nur noch eine laser-gründliche Diät konnte mich retten. Ich trat sofort an, und eingedenk der bekannten Weisheit, dass man am meisten schafft, wenn man sich total überlastet, beschloss ich komplett auf alles zu fasten. Fristlos begann ich zu verzichten auf Fleisch und Butter, auf Käse und Wurst, auf Kaffee und Alkohol, auf Brot und Milch, auf Eier, Tee, Heroin, Crack, Napalm, Zigaretten, Speisehund und LeckElfenbein. Sowie selbstverständlich auf Pfirsich-Maracuja-Sardelle-Mango-Joghurt. Ich wurde der krasseste Njet-Mann ever! Die Wirkung setzte umgehend ein, keine elf Sekunden musste ich warten, schon packten mich die schlimmsten Entzugserscheinungen. Mein Verstand ritt auf einem Röntgenstrahl hinüber in dieses Land, wo Spiralnebel an den Bäumen wachsen. Ich fühlte mich wie ein Teller Kartoffelbrei in der Waschmaschine. Die Zeit dehnte sich ganz unwahrscheinlich in die Länge, draußen in der Welt, die direkt vor meiner Nase begann, treiben Menschen, Gegenstände und Blätter in Zeitlupe durch mein Bio-Objektiv, beim Anblick von einem Stuhl überlegte ich, ob sich nicht vielleicht alle Menschen auf der ganzen Welt bisher getäuscht haben und Möbel doch essbar seien. Ich hoffte auf Regen, das Nachzählen der Tropfen würde mich ablenken. In fast den gleichen Worten: beinahe wurde ich verrückt. Doch dank meines immensen Einkommens als hoffnungslos überbezahltem Entscheidungsverhinderer gelang es mir, durchzuhalten. Ich kaufte mir einfach ein halbes Dutzend Diätassistentinnen im nächsten Diätzubehörladen. Bullige Typen waren das, die Diätassistentinnen, trapezförmige Oberkörper, quadratische Sonnensegel vor der Fresse, am Boden derselben getönte dreifache Zahnreihen. Prachtvolle Kerle, die mein sowieso schon fiebriges Gemüt weiter erhitzten, so dass ich schlussendlich hinein geriet in ihn – den finalen Fastenkoller! Aber meine Diätassistentinnen hauten mir, natürlich nur gegen extra Bezahlung, jedes Mal eine aufs Maul, wenn ich an Pfirsich, Maracuja, Sardelle oder auch nur Mango dachte. Ich bekämpfte und überwand solcherweise sämtliche meine Bedürfnisse so erfolgreich und glorios, dass mir am Ende nur noch eine einzige lästerliche Gewohnheit blieb, die mir in den Orkus zu komplementieren der rumpelnde Bestieg des höchsten Storchennests im Bistum bedeutete; nämlich zu notieren, wie alles…

Lena Kratzer: Heimat

Bereits auf halbem Wege von Lorenzkirche zum Hauptmarkt wehte der Wind ihm den Duft von gebrannten Mandeln, Gewürztees und Glühwein in die Nasenflügel. In Berlin mochte er die Menschenmassen in den Straßen nicht, aber hier ließ er sich einfach mittreiben. Er wusste, dass die Menge ihn zum Ziel schaukeln würde, wie ein Boot, das dem Schein des Leuchtturms folgte. Als er seine durchfrorenen Finger am Glühwein wärmte und die Schals und Mützen der anderen seine Haut streiften, fühlte er sogar eine Art Nestwärme, die er von früher kannte. Obwohl die Nürnberger Elisenlebkuchen inzwischen doppelt so teuer geworden waren, kramte er mit seinen klammen Fingern in den Ritzen seiner Jacke nach Münzen. Dann hatte er den dampfenden Glühwein, den süßen Lebkuchen verschlungen und mit ihm den Glanz der Erinnerungen. Die Menschen kamen ihm plötzlich spießig, angepasst und konsumsüchtig vor. Was für ein Zirkus! Er hatte das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Also kämpfte er sich aus der wogenden Menge, ließ die Buden mit blinkenden Kerzen, vertrockneten Pflaumenmännchen und im Fett brutzelnden Bratwürstchen hinter sich. Es zog ihn zur Meisengeige, seiner ehemaligen Stammkneipe mit der charmanten Kellnerin Monique, zum vertrauten Ächzen des Milchschäumers und zu einem herben Merlot. Er lächelte. Wie lange war er nicht mehr da gewesen! Er öffnete die Tür und musste sich erst durch den neuen Windschutz aus Plastik kämpfen. Fast alles beim Alten. Lichterketten mit hellen Kugeln hingen wie ein Rahmen um die großen Fenster. Auf den runden Bistrotischen standen kleine Vasen mit Kiefern und Eichkätzchenzweigen. An den Wänden hingen schwarz weiße Fotos von den Menschen, die aktuell dort arbeiteten oder sich dort regelmäßig tummelten. Zwei tanzten, eine Gruppe lachte in die Kamera. Er suchte nach bekannten Gesichtern, doch es schien, als hätte die Belegschaft sich komplett ausgetauscht. Früher hatte er hier jeden gekannt. Vor fünfzehn Jahren saß er hier, in der ehemaligen Bäckerei, jeden Abend an der länglichen Theke vor dem schwarzen Regal mit Whisykey und Weinflaschen, hatte sich mit Thekenphilosphen über die Welt unterhalten, war ab und zu in das kleine Arthouse Kino gegangen. Er hatte sogar noch die Zeiten erlebt, als man rauchen durfte, während schwarz weiße Nouvelle Vague Filme über die Leinwand flimmerten. Außerdem hatte er hier geschrieben. Es war magisch gewesen. Sobald er an der Theke saß, den herben Merlot auf seiner Zunge schmeckte, das vertraute Kreischen des Milchschäumers vernahm, küsste ihn die Muse. In Berlin hatte er immer wieder nach solchen Orten gesucht, doch nie einen gefunden, in dem er das gleiche Gefühl der Inspiration, Geschichte und Geborgenheit verspürte. Er setzte sich auf einen der schwarzen Barhocker, bestellte einen Merlot und musterte die jungen Mädchen, die jetzt bedienten, miteinander redeten und sich You Tube Videos ansahen. Er fragte, ob sie eine Monique kannten, doch sie verneinten. „Früher war ich oft hier!“, fuhr er fort, doch verstummte bald, als er bemerkte, dass die Mädchen sich nicht mit ihm unterhalten wollten. Er musterte sich im Spiegel gegenüber, sah seine grün getönte Brille, unter der seine Augen müde hervorblickten, seine grauen Schläfen, den beigen Hut, der traurig herabhing. Dann blickte er sich um. Hinter ihm saß ein alter Mann mit Rollator, der in sein Bier starrte, daneben eine junge Frau, die in ihre Zeitschriften vertieft war. Alles war vertraut, aber doch anders, neu. Hier würde ihn die Muse bestimmt nicht mehr küssen. Er seufzte in seinen Merlot. Ein tiefer, trauriger Seufzer. Vor einigen Tagen hatte er in das Buch „Die Ortlosigkeit“ des Menschen von Ivan Goll reingelesen und sich verstanden gefühlt. Kein Wunder. Er zahlte, stand auf und schlug das Plastik des Windschutzes auf. Hier stand er einige Momente, absorbiert von den Stimmen im Inneren und noch nicht in der Außenwelt. Es herrschte eine seltsame Stille in diesem Zwischenraum, den es früher nicht gab, der neu war. Er sah durch das matte Plastik des Vorhangs nach innen, musterte den Mann mit dem Rollator, die vertiefte Frau, die kichernden Mädels. Verzerrt und klein sah er sein Gesicht im Spiegel an der Bar. Niemand schien ihn zu beachten. Als er die Eingangstür öffnete, strich ihm Wind um die Wangen. Ungebändigt, als hätte er nur darauf gewartet, dass ihn jemand herein ließ. Seltsam, dachte er, ich kann mit dem Wind ganz alleine sein. Nur er und der Wind im Windschutz. Linde Sommernächte fielen ihm ein und eine geigende Meise. Ein kurzer Moment. Er fing an zu summen und zu lächeln. Ein Musenkuss im Dazwischen. Der Wind hatte ihm eben ein Gedicht ins Ohr geflüstert.


Elmar Tannert

Elmar Tannert ist das Pseudonym des Werkzeugmachers Karl-Heinz Schreckenbach (*1962 in Oelsnitz/Vogtland), der im Nürnberger Stadtteil Gostenhof eine Firma für die Fertigung von Preß-, Stanz- und Ziehteilen betreibt. Wichtigstes Produkt des Betriebs sind Gehäuse für Schneepfluglampen, die in der Farbgebung »RAL 2011« (im Volksmund: »Kommunalorange«) ausgeliefert werden. Neben seiner eigentlichen Tätigkeit als Geschäftsführer der Schreckenbach GmbH schreibt Karl-Heinz Schreckenbach Opernlibretti und Sachbücher für Kinder, die bislang allerdings unveröffentlicht blieben.


Elmar Tannert bei EBMD:

Theobald O.J. Fuchs: Walezählen

Wie jede gute Tiergeschichte handelt auch die folgende von Menschen. Doch keine Sorge. Kein Tier wird vernachlässigt oder verschwiegen werden. Jedenfalls, solange es sich um Wale handelt. Denn worum geht es? Es geht um den gefährlichsten Beruf der Welt, den Walzähler.
Pausenlos sind sie unterwegs, die Walzähler, auf hoher See, durch Sturm und Eis, zick und zack über Atlantik, Pazifik und Bodensee – und zählen Wale. Von Montag bis Freitag zwischen 9 und 18 Uhr (außer an Feiertagen) durchpflügen die Schiffe der Walzählerflotte die Weltmeere, unbeirrbar einem großen Ziele folgend: der vollständigen Erfassung und Befragung aller lebenden Wale.
Der Walzähler steht am Bug des Zählschiffes. Klar erkennbar im gelben Ölzeug und stets bereit, dem Wal den Stempel an den Kopf zu schleudern, den Hebel des Walzählapparates herum zu reißen und abschließend dem Wal noch ein paar Fragen zu Herkunft und Werdegang zu stellen.
Die Stempelharpune unter den Arm geklemmt, in der linken Hand das Klemmbrett, in der rechten den Kugelschreiber mit original Oktopus-Tinte, mit einem Sturmband um den Hals gesichert, so stellen leider bis heute viele populäre Darstellungen den Walzähler bei der Ausübung seines Berufes dar. Und entsprechen dabei auch noch absolut der Wahrheit.
»Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« lautet die finale und wichtigste Frage eines Walzählers an den Wal. Doch nur wenige kommen je soweit. Eine falsche Bewegung, eine dumme Frage, und sowohl das Leben des Walzählers mitsamt Formblatt ist keinen Walpups mehr wert. Obwohl dieser immerhin den gleichen Brennwert wie zwei Kubikdezimeter Stadtgas hat.
Sagen und Legenden ranken sich seit unvordenklichen Zeiten um diesen Beruf. So wird mit Sicherheit jeden Abend irgendwo auf der Welt in einer Hafenkneipe die Geschichte vom schwarzen Wal zum Besten gegeben.
Der schwarze Wal, so munkelt und runkelt man nämlich, war einer der hartnäckigsten Antwortenverweigerer, die je einen Ozean mit der Schwanzflosse aufpeitschten. Er schlich sich jeden Frühling ins Mittelmeer ein, ohne sich zählen zu lassen. Dabei lauerte an der Straße von Gibraltar ein Großteil der mächtigen europäischen Walzählerflotte, die kühnsten Walzähler an Bord, ausgerüstet mit dem modernsten technischen Klingeling – und dennoch: der schwarze Wal wurde erst nach über fünfzehn Jahren gnadenlosen Stalkings in der Nähe von Alexandria von einem philippinischen Zähler gestempelt und entkam dann nach der dritten Frage …
Oder die inzwischen zum Kult avancierten Anekdoten über den Schlau-Wal – wer kennt sie nicht? Er antwortete stets mit einer Gegenfrage, niemandem gelang es, ihm eine persönliche Auskunft zu entlocken. Zeit seines Lebens brachte keiner seinen Namen in Erfahrung, weder seine Reisepläne für den nächsten Sommer, noch seine monatlichen Ausgaben für Krill und Musik-Kassetten (Die besten Walgesänge der siebziger, achtziger und neunziger Jahre).
Natürlich darf auch der Einfaltspinsel von Walzähler nicht unerwähnt bleiben, der Ende der 1970er Jahre über eine Stunde lang ein sowjetisches Atom-U-Boot befragte. Schließlich entstieg der Kapitän dem Turmluk und drohte dem unglücklichen Zähler mit einer Dachterrasse wegen Spionage. Und das, obwohl der Fragebogen noch komplett leer war …
Anfänger der Walzählerei schaffen es selten, mehr als vier oder fünf Antworten zu bekommen. Alter, Geburtsort und Familienstand, das Reiseziel, konfessionelle Vorlieben und die bevorzugte Marke der Bartenputzpaste – das war’s in den meisten Fällen dann auch. Dann haben die Wale die Schnauze voll und tauchen ab.
Unvergessen bleiben deswegen die wahnsinnig komischen Verwicklungen, welche die berühmt-berüchtigten Zwillingswale Marianne und Michael im Nordpazifik anrichteten. Ewigen Ruhm verdienten sich schließlich die Bezwinger dieses japanischen Walduos, das lange Jahre scheinbar nach Belieben die Walzählerzunft nach Finne und Flosse foppte. Solange, bis die Zunft den Spieß umdrehte und ein Drillingspack Walzähler anheuerte. Zu dritt legten diese die Walzwillinge aufs Kreuz, fragten sie erbarmungslos bis zur letzten Antwort aus und verpassten beiden die volle Salve von drei Stempeln, mitten auf den Rüssel.
Es mag heute kaum noch vorstellbar sein, aber vor dreißig Jahren stand der Beruf des Walzählers kurz vor dem Aussterben. Das lag vor allem daran, dass das Interesse des Publikums stark gelassen hatte. Ende der 1970er Jahre waren nur noch zwei Männchen und ein Weibchen übrig geblieben. Von diesen stammt die gesamte heutige Walzähler-Population ab, die sich mittlerweile wieder auf eine stabile Stärke von weltweit etwa 5.000 Exemplaren eingependelt hat.
Das Zuchtprogramm des World Whale Count Fonds WWCF war beispiellos erfolgreich. Der einzige Kritikpunkt mag bei genauerer Betrachtung überhaupt nicht als problematisch gesehen werden: rund die Hälfte der Wahlzähler, die heute den Planeten bevölkern, stößt beim Sprechen mit der Zunge an. Insbesondere tragisch, da im Fragebogen besonders viele »s« -Laute enthalten sind. Diese ganz besondere – und ein Stück weit irgendwie auch niedliche Eigenschaft – hat ihren Ursprung im Genom des einen Stammvaters der modernen Walzähler.
Wissenschaftler hatten zwar von Anfang an darauf hingewiesen, dass das betroffene Männchen während seiner gesamten Walzählerlaufbahn lispelte, daher von den Walen nicht ernst genommen, sondern gehänselt, gemobbt und ausgelacht wurde, ehe die Riesensäuger das Interesse verloren und den vertikalen Abgang machten, ohne sich zu entschuldigen. Dennoch gab es keine Alternative als auch dieses Walzähler-Männchen ins Zuchtprogramm aufzunehmen.
Die Gattung der Verkehrsunfallmaler ist bekanntlich vor einigen Jahren endgültig ausgestorben – allen Bemühungen des internationalen Programms zum Schutz bedrohter Berufsarten zum Trotz. Der Bestand der Walzählerei jedoch scheint heute gesichert. Ein großer Erfolg des Berufsartenzuchtprogramms, der den – viel zu vielen – anderen bedrohten Lohnerwerben wie Tunnelblickmechaniker oder Schwalbennestvergolder Mut und Hoffnung schenken kann und wird!


Arabella Block: Warum das Säugetier erfreulich ist

Das Säugetier
hat zwei bis vier
gut mit Milch gefüllte Zitzen
die an Brust und Bäuchen sitzen
um die Jungen zu ernähren
welche anders hilflos wären.
Blieb der Umstand rein privat
wäre dieses jammerschad
denn bei Ziegen, Schafen, Rindern
nützt er nicht nur deren Kindern
– also Zicklein, Kälbern, Lämmern –
nein, dem Menschen tat es dämmern.
dass Milch ja nur der Anfang ist
für jemand, der gern Pudding frisst
oder  Joghurt, Sahne, Butter
oder als Gourmetsches Futter:
Brie und Harzer, Romadur,
St. Agur und Feta pur.
Wenn das nur Geiß, Kalb, Lämmlein äße –
wär doch Käse.


Arabella Block: Labradorsonett

Man muss den schwarzen Hund auch lieben wenn er stinkt.
Wenn er sich wälzt in Mist und Kot und einer toten Ratte,
Die sommertags ein Trecker überfahren hatte.
Lieb ihn, wenn er geduscht tropfnass aufs Sofa springt.
Man muss den schweren Hund auch lieben, wenn er haart.
Wenn Staubsauger und Waschmaschine dran verrecken,
Wenn alle Wohntextilien voll schwarzer Härchen stecken
Muss man ihn lieben, denn man ist ums Haar verpaart.
Man darf dafür in schwarze Mandelaugen schmachten.
Auch wenn nicht schmachtet, wer sich früh um sechs erhebt
Und mit dem Tier pressiert dem Wald zustrebt.
Man darf die sturste, unbeirrte Treue pachten,
die stundenlang vor deiner zugesperrten Tür
ausharrt und liebt, wo du dich hasst – sogar dafür.


Arabella Block

Arabella Block ist eines von sieben Kindern einer Späthippie-Kommune in Oberbayern, deren aufsehenerregende Auflösung durch die Polizei noch immer auf einem Youtube-Video verfolgt werden kann. Obwohl die Abstammung der Kinder, über die die erwachsenen Kommunarden die Auskunft aus weltanschaulichen Gründen verweigerten, durch Gentest geklärt werden konnte, wuchs sie wie die meisten ihrer „Geschwister“ bei Pflegefamilien auf. Nach Jahren im Ausland, die sie unter anderem in einem kalifornischen Zen-Kloster verbracht haben soll, zog sie zurück in die Heimat. Nach Zwischenstationen als Putzfrau in einem Museum, Fremdenführerin und museumspädagogischer Mitarbeiterin gibt sie heute Lach-Yoga-Kurse und homöopathisches Zeichnen für behinderte Kinder. Sie lebt mit ihren Hunden und Katzen im Stadtmauerturm einer fränkischen Kleinstadt, die sie nicht genannt wissen will.


Arabella Block bei EBMD: