Matt S. Bakausky: Wirtschaft als Chance

Ich kaufe am Bahnhof einen Big Mac für die Fahrt. Wussten Sie, dass der Big Mac verwendet wird, um die Kaufkraft in verschiedenen Ländern zu vergleichen? Das habe ich von Herrn Huber gelernt. Ein letzter Bissen vom Burger und der Zug fährt ab. Weg von der Zivilisation, raus in den Wald. Für ein paar Tage werden sie Herrn Huber nicht finden. Ich habe einen Vorsprung.

Ich putze mir die Zähne morgens mit Elmex und abends mit Aronal. Mittags bin ich in der Schule und putze sie nicht. Noch acht mal Zähne putzen bis zum Referat in Wirtschaft. Ich stehe auf einer fünf in diesem Fach. Kombiniert mit der fünf in Französisch würde das eine Wiederholung der Stufe bedeuten.

Noch zwei mal Aronal und einmal Elmex, dann muss ich das Referat halten. Ich habe mir ein wenig Ritalin rein gefahren. Ich habe zwar kein ADHS, jedoch hilft es mir wach zu bleiben. Dazu trinke ich Coca Cola und esse Pringles. Ich hoffe, dass ich mit dem Referat diese Nacht durchkomme.

Herr Huber betritt den Raum. Er stellt seine braune Ledertasche ab. Meine Mitschüler hören auf zu reden. Ich hole die gekritzelten Notizen auf Leitz Karteikarten aus meinem Eastpack-Rucksack. Mein Kopf hämmert leicht, außerdem bin ich übermüdet. Die zwei Aspirin-Tabletten wirken noch nicht. Nach den tagesaktuellen Themen zum Leitzins und der Eurokrise, wendet sich der Wirtschaftslehrer mir zu und fragt ob ich bereit sei. Ja, sage ich wie von selbst.

Herr Huber sitzt an einem Stuhl gefesselt in einem geräumigen Keller. In seinem Mund steckt ein Knebel. Das war nicht Teil seines Studiums gewesen. Nicht Teil seines bisherigen Lebens. Bisher schaute er nur gerne RTL-Krimiserien auf seinem Samsung-Fernseher. Jetzt war er selbst Teil eines Krimis. Er dachte sich, dass das gar nicht mal so schlecht sei.

„Das Referat heute, das war nicht so toll.“, sagte Herr Huber. Das war übertrieben positiv, denn ich verhaspelte mich die meiste Zeit und hatte das Thema kaum verstanden. Außerdem hatte ich die Karteikarten durcheinander gebracht. Ich fragte nach der Note. Eine Vier. Ich fragte ob sich nicht was machen ließe. Leider nicht. Mein H&M-Shirt fühlt sich auf einmal zu eng an. Diese Schuljahr war damit für mich gelaufen.

Ich betrat den Raum. Sagte: „Nicht schreien“. Herr Huber nickte. Ich entfernte den Knebel. „Bitte tu mir nichts, Matt“ sagte der Lehrer, „Lass mich gehen, ich sage niemanden was und du kannst das Jahr wiederholen.“ Das Wort Wiederholen ließ aufgestaute Wut in mir hochkommen, ich griff in die Seitentasche meiner Goretex-Jacke und holte einen spitzen Gegenstand hervor.

Irgendwo in der Pampa in der Nähe von Freiburg im Breisgau, laufe ich durch den Wald. Hexenwald steht auf einem Schild. Die Zähne habe ich seit gestern Abend nicht geputzt. Mein Ziel ist ungewiss, jedoch weiß ich, dass sie mich nicht finden werden. Das meine Schulpflicht getan ist.

Aus der anderen Jackentasche holte ich die Karteikarten mit meinen Notizen. „Lieber Herr Huber ich halte heute ein Referat über die Bilanzanalyse.“ Ich startete den Liesegang-Overhead-Projektor und zeigte mit dem spitzen Teleskopzeigestab auf die an die Wand  geworfenen Diagramme. Ich war komplett in Form. Herr Huber saß nur da und versuchte seine Hände frei zu bekommen, doch der Kabelbinder hielt ihn davon ab. Er kerbte sich in seine Haut.

Noch vierzehn Mal Zähneputzen, dann steht mein Wirtschaftsreferat an. Ich habe mega Schiss vor Referaten. Dieser Druck. Ich komme damit nicht klar. Und dann bereite ich mich auch noch schlecht vor, weil ich schon vorher Angst vor der Angst habe. Ein Valium half anfangs, mittlerweile nicht mehr.

„Und wie war mein Referat?“, fragte ich gespannt. „Du hast… das Thema… nicht verstanden.“, keuchte Herr Huber. „Du hast.. es.. wirklich nicht verstanden.“ „Das hier.. war… schlechter als dein vorheriges Referat! Du hast Fachbegriffe falsch verwendet, der Aufbau war einfach verwirrend und auch rein sprachlich warst du dem Thema nicht gewachsen. Du hast deinem Publikum nicht in die Augen geschaut… Alles was wir besprochen hatten, was ein gutes Referat ausmacht hast du missachtet. Nicht mal meine Fragen konntest du zusammenhängend beantworten. Das war eindeutig… eine sechs“ … Ich kann Herrn Huber nicht in die Augen blicken, sehe nur das kleine Krokodil auf seinem Hemd von Lacoste. Ich nicke, schalte den Overhead-Projektor ab und verlasse den Raum.

Im Wald außerhalb der Zivilisation fühle ich mich wie in einer anderen Zeit. Die Bäume überragen mich, passen auf das mir nichts passiert. An einer Quelle forme ich mit meinen Händen eine Schale und trinke etwas. Ich laufe über die gefallenen Blätter. Es weht ein heftiger Wind. Ich beobachte einen Ast, wie er sich erst biegt, bis er sich nicht mehr biegen lässt und bricht und zu Boden fällt. Ich nehme den Ast als Spazierstock und setze meine Reise fort.

Matt S. Bakausky: Nichtszuverlieren, außer

Im Psychiaterwartezimmer eine Art Stuhlkreis, nur dass die Stühle direkt an den Wänden stehen. Menschenbepackter Raum, ich fühle mich beobachtet. Schweiß, Herzrasen, Zitttern. Gedanken, was die Patienten über mich denken.

Herr Meier wird aufgerufen.

Herr Thomas wird aufgerufen.

Ein neuer Patient kommt hinzu. Draußen die Sprechstundenhilfen am Tippen und Telefonieren. Eine Patientin betritt den Raum. Und noch eine. Schreckliche Augen von überall auf mich gerichtet.

Frau Mühlen wird aufgerufen.

Zwei weitere Patienten betreten den Raum. Circa ein dutzen aufgerufener Patienten und zwanzig neuer Patienten später wird die Stimme in meinem Kopf kurz leiser.

„Herr Bakausky“ tönt es durch den Lautsprecher. Der Arzt zu gut gelaunt, ich vermute er kokst. Ich bekomme Beta-Blocker verschrieben. Der heiße Scheiß gegen soziale Ängste. Vielleicht. Eigentlich zur Senkung des Blutdrucks, können sie auch entspannend wirken. Off-Label, also anders als auf dem Beipackzetttel verschrieben, heißt das.

Große Erleichterung als ich die Tür der Praxis hinter mir schließe. Das ist der beste Moment, das beste an den Arztbesuchen. Nach dem größer und kleiner werdenden Stuhlkreis, kurze Pause vom Stress.

Der nächste Stuhlkreis in der Straßenbahn. Ich fühle mich im Mittelpunkt, denke dass es jedem auffällt, wie ich schwitze, zittere und schaue auf den Boden. Selbsthilfegruppe – der finale Endboss der Stuhlkreise für heute. Ich gehe nicht hin, lieber nach Hause. Vermeiden ist gut. Führt zwar zur Verschlechterung der Symptome, ist aber gut.

Am Abendessentisch fragt mich meine Oma, warum ich sowenig rede. Scheinwerferlicht auf mich. Der ganze Stuhlkreis wendet seine Augen auf mein schwitzendes Gesicht. „Äh, ich weiß nicht“ sage ich kleinlaut. Und schon ist das Thema gegessen und meine Mutter kommt mit dem Nachtisch rein. Warum habe ich solche Angst vor Fremden? Wahrscheinlich habe ich nicht vergessen, dass ich einst von zwei solchen groß gezogen worden bin.

In meinem Zimmer schalte ich den Monitor an und gehe in den Chat. Entspannt auf meinem Stuhl, ohne Kreis, ohne Augen die auf mich schauen. Ich bin der Boss, ich bin es der den Chat lenkt. Kein Zittern, kein Schwitzen, sanft gleiten meine Finger über die Tastatur. Menschen sind gleichzeitig Freund und Feind, hier bin ich jedoch pseudonym, hier kann ich sein.

Zerocool verlässte den Raum.

Hexe verlässt den Raum.

Wursthans betritt den Raum.

Der Bot kickt und bannt Wursthans, weil er spamt.

SevenEleven verlässt den Raum.

EvilSanta, Hackbert und Tiny sind afk.

Zeit herunterzufahren.

Matt S. Bakausky: Das sechste Ei

Peinlich wäre es mir einen Bekannten zu fragen.

Nur noch wenige Tage bis Ostern. Ich hatte bereits ein Sechserpack Ü-Eier gekauft. Sie schauten mich vom Tisch aus an und es kam mir so vor als würden sie meine Lage belustigend finden. „Der ist 33 und will noch Ostereier suchen!“ … „Der kennt niemanden der uns für ihn verstecken will!“…“Voll der Versager!“

Ich steckte mir Kopfhörer in meine Ohren und stellte die Geräuschunterdrückung an. Dämliche Eier, kennen mich doch gar nicht. Ich wollte nur Ostereier suchen, wie ich es als Kind getan hatte.

Karfreitag war ich so frustriert, dass ich im Supermarkt neben einer Dose Bratheringe zwei Flaschen Wodka aufs Band legte. Die Kassiererin wünschte mir frohe Ostern. „Für Sie vielleicht!“, dachte ich mir, sagte jedoch nichts und packte die Waren schnell ein. Eine schöne Scheiße.

Zu Hause verhöhnten mich die Überraschungseier wieder. „Versager, Versager, Versager“. Ich nahm die Packung und steckte sie in den Schrank. Elendige Dreckseier, ihr habt doch keine Ahnung, dachte ich mir während ich das erste Glas mit Wodka füllte.

Dann startete ich die Passion Christi auf Netflix. Eine Wodkaflasche leistete mir Gesellschaft vor dem Schirm, die andere wartete im Kühlschrank auf mich.
Nach dem dritten Glas fühlte ich mich besser und hatte Lust raus zugehen. Ich schrieb einen Bekannten an und verabredete mich mit ihm in einer Bar. Während ich auf ihn wartete, trank ich schon mal ein Bier. Die Stimmung musste aufrecht gehalten werden.

Als ich am nächsten Tag  voll bekleidet inklusive Schuhen auf dem Boden liegend in meiner Wohnung aufwachte, wusste ich nicht mehr wie ich nach Hause kam oder was sonst in der letzten Nacht passiert war. Ich fühlte mich grauenhaft.

Nach drei bis vier Gläsern Wasser war es Zeit für ein Katerfrühstück. Ich hatte doch noch Brathering von gestern! Auf der Suche nach der Dose, fand ich die Ü-Eier-Schachtel. Sie war leer. Hatte ich sie gegessen? Ich schaute mich um, fand den Fisch und zwei leere Wodkaflaschen. Keine Spur von diesen gelben Plastikbehältern oder diesen Plastikfiguren und so weiter. Die Ü-Eier waren einfach verschwunden. Ich machte mich über den Hering her.

Den Rest des Tages verbrachte ich Abschnittsweise im Bett, in der Küche beim Wasserhahn und auf dem Klo.

Nach einer schlecht geschlafenen Nacht kam der Ostersonntag. Frisch aus der Dusche griff ich in den Kleiderschrank und wühlte nach einer Unterhose. Dabei fühlte ich plötzlich etwas ovales. Ich zog es heraus und siehe da: Ein Überraschungsei. Ein Flashback im Gehirn: Ich, wie ich im Vollrausch auf die geniale Idee komme Ostereier zu verstecken. Gute Arbeit, betrunkenes Selbst.

Eins von sechs habe ich schon. Was für ein Spaß. Nach und nach fand ich die anderen und sammelte meine Trophäen auf dem Tisch. Eins in der Abstellkammer hinter den Staubsaugerbeuteln, eins im Nescafé-Glas, eins in den Winterstiefeln im Flur. „Na, was sagt ihr jetzt, Eier?“ Sie jubelten mir zu. „Du bist der Größte!“, „Echt stark!“, „Was für ein geiler Typ!“

Das fünfte fand ich unter dem Bett. Dann vergingen Minuten, die zu Stunden wurden. Das sechste Ei wollte nicht auftauchen. Die anderen fünf fingen an immer mehr zu kichern, desto mehr Zeit verging.

In meiner Bude sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Irgendwann brach ich erschöpft zusammen in Mitten von den auf dem Boden verteilen Gegenständen.  
Das war das schönste Ostern seit langem! Seit meiner frühen Kindheit wahrscheinlich!

Die Überraschungen aus den Eiern stellte ich auf das leergefegte Bücherregal über dem Bett. Jede Nacht ruft von da oben der kleine Plastikzwerg herunter: „Na, wo ist das sechste Ei?“ Und das zusammengebastelte Auto hupt daraufhin schallend. Spätestens wenn dann der Plastikhelikopter hämisch den Propeller rotieren lässt, steige ich wieder aus dem Bett und setze meine Suche fort.

Jeder Mensch braucht eine Aufgabe im Leben. Viele suchen ihr Leben lang nach ihr. Ich hatte meine gefunden.

Matt S. Bakausky: Die Person, die beim Spiel des Lebens schummelte

Die meiste Zeit verbringt man also in diesen Casinos und spielt darum am großen Rennen teilzunehmen. Doch man muss auch Zeit im Becken verbringen, um Schwimmen zu üben. Und mit viel Glück gewinnt man dann das goldene Ticket und darf an einem Rennen teilnehmen.
Jaja, das Licht am Ende des Tunnels – das sind die Glühlampen der großen Casinos. Wissen nur die wenigstens, aber ich weiß es, denn ich erinnere mich noch genau daran, als wäre es gestern gewesen.
Die Zeit vergisst man dabei, dafür sorgen die großen Casinobetreiber schon. Nirgendwo gibt es eine Uhr oder einen Hinweis darauf, ob es gerade Tag oder Nacht ist.
Wenn man dann am Rennen teilnimmt ist das was ganz großes. Aber wie gesagt, man muss auch das Schwimmen trainieren. Denn die Chance beim Rennen zu gewinnen ist gering. Zu viele Teilnehmer – manchmal gar über 100 Millionen. Man muss also eventuell tricksen.
Also ich hatte nach all der Zeit im Casino und im Schwimmbecken keinen Bock mehr darauf das Rennen zu verlieren und machte einen Deal. Ja ich weiß, nicht ganz die feine englische Art, doch wer würde sich nicht einen Vorteil verschaffen, um aus diesem öden Alltag herauszukommen? Vor allem gibt es viele Rennen bei denen man gar nicht gewinnt, wenn man der Beste ist. Da gewinnt keiner – der große Preis bleibt aus.Ich lernte einen Hacker kennen, der mir das ideale Rennen heraussuchen sollte. Ich schloss einen Pakt mit ihm. Alles Beginner außer mir und so schaffte ich es auf den ersten Platz.
Nach wie vielen Rennen? Tausenden? Nach wie vielen Stunden im Casino? Milliarden? Doch ich war noch nicht bereit ein Rennen zu gewinnen, das merkte ich erst später.
Man kann nicht wirklich betrügen. Klar ich hatte das große Rennen gewonnen, jedoch fehlt mir nun jeglicher Ehrgeiz. Hätte ich mir den im Schwimmbad erarbeitet, wäre ich in dieser Welt vielleicht erfolgreich.
Hätte mich nur jemand gewarnt, wäre ich im Schwimmbad geblieben. Ich bin einer von Milliarden Siegern und sehne mich zurück in die Stadt mit den hellen Lichtern. Doch diesmal würde ich es anders machen. Keine Rennen mehr, keine Casinos und im Schwimmbad lieber Pommes essen.

Matt S. Bakausky: Techno, Sauerstoff und Softpornos

Ja irgendwann ist man mitten drin in der Ekstase. Wie das eine Mal als ich im Stadtpark chillte, leicht hypomanisch drauf. Hypomanie ist die Vorstufe der Manie. Sehr verbreitet in den USA, da viele der ersten Einwanderer verrückt genug waren, um eine lange, risikovolle Reise auf sich zu nehmen. In der Hypomanie ist man sehr selbstbewusst, gut gelaunt, risikobereit, kann aber noch klarer denken als in einer voll ausgewachsenen Manie. Auf jeden Fall war ich da auf einer der blauen Liegen aus Metall am Stadtparksee gelegen und lauschte der Musik vom Parkcafe. Ich trug eine Sonnenbrille obwohl Nacht war. Irgendwann bekam ich Lust ins Parkcafe zu gehen. Da war irgend so eine Softporno meets Techno Veranstaltung. Ich ging also selbst bewusst auf die Türsteher zu und der Alpha meinte, dass ich ihm zu cool wäre mit der Sonnenbrille. Da nahm ich die Brille ab, schaute ihm in die Augen. Er meinte: Schon besser. Ich fragte ob es keine Möglichkeit gäbe, dass ich heute reinkomme. Ich trug eine Lederjacke und ein T-Shirt names Kleberuniversum, dessen Abbildung wie Spermaflecken aussah. Dazu eine enge schwarze Jeans. Er schaute mich an und meinte: Pack die Sonnenbrille in die Hosentasche und du kannst rein. Und so kam ich auf diese Party namens Club Bizzarre. Innen schaute ich mich erstmal um. Geil aussehende Menschen überall und ich war mitten drin. Ich ging auf Toilette und machte erstmal Atemübungen – eigentlich zum Relaxen – doch irgendwann geriet ich in Ekstase. High vom Sauerstoff. Ich ging raus, strahlend und die Leute wichen mir aus. Der Barkeeper kam sofort zu mir und nahm die Bestellung eines Red Bulls auf. Das Portmonee hielt ich zitternd in der Hand und der Barmann musste die Münzen selbst rausnehmen. Ich stand unter Strom. Ich ging in den leereren Bereich mit vielen Sitzgelegenheiten und auf dem Weg dahin fasste mir jemand an den Hintern. So eine Party war das. Auf einem sehr bequemen Sofa setzte ich die Atemübungen fort, weiterhin weit weit oben. Über mir gegenüber waren Fernseher mit Softpornos. Die betrachtete ich ein wenig zum reinhauenden Technobeat. Während ich da so offen in Ekstase grinsend da saß beobachtete mich eine hübsche Frau. Ich hatte kein Interesse sie anzusprechen, war mein Zustand doch schon hoch genug. Sie beobachtete mich weiter, traute sich wohl nicht. Da kam eine Frau mit Cowboyhut und setzte sich zu mir. Sie sah gut aus, sagte Hallo und ich fragte sie was sie sucht. Sie sagte wie Frauen nun mal sind: Ich suche meine Freunde. Ich lachte. Irgendwann am nächsten Morgen genoß ich weiterhin die Ekstase und fragte mich wie lange sie anhalten würde. Für ein paar Tage blieb sie, die Hypomanie blieb noch einige Wochen und schwenkte dann um. Was bleibt sind schöne Erinnerungen und eine Geschichte, die ich dir erzählen kann.

Matt S. Bakausky: Fetzen

Gut, nun sitze ich also in diesem dunklen Kasten fest.
Der Duft nach verbrannten Papier ist gar nicht mal so unangenehm, nur die stickige Luft ist störend.
Leise höre ich draußen die abgemagerten Ratten durch die Dunkelheit huschen.
Als kleines Kind ekelte ich mich immer, wenn ich diese dreckigen Viecher sah.
Mittlerweile weiß ich, dass sie zwar massenhaft Krankheiten übertragen, aber nicht die
widerlichste Spezies auf diesem Planeten sind.
Gegen diese Plage gibt es genauso kein Mittel wie gegen die Ratten.
Die Nagetiere sollen mit vergifteten Futter angelockt werden, doch sozial niedrig stehende Männchen werden als Vorkoster eingesetzt und somit die anderen Ratten gewarnt.
Der Tod eines Einzelnen ist gleichgültig. Wie bei der anderen Plage auch. Es gibt nun einmal so viele davon.
Aber hier gibt es nicht mal mehr jemanden, der versucht sie zu vergiften.
Hier gibt es niemanden, der überhaupt etwas versucht.
Die Ratten selbst finden nicht genug zum Fressen und ernähren sich größtenteils von den hier verbotenerweise abgelagerten Abfällen einer dieser Billig-Schönheitskliniken. Nasen. Haut.
Und vor allem Fett. Doch diese Schuppen locken mittlerweile so gut wie keine Touristen mehr in diese Gegend.
Also werden die Ratten zu knochigen Kriechern. Sie haben keine andere Wahl. Vielleicht haben sie auch nur die Seele dieser Plastikpuppenfabriken aufgefressen und leben ihren eigenen Schönheitswahn aus. Warum sollten sie sonst gerade hier leben?
Langsam beginne ich etwas zu frieren. Die Metallwände meiner Einzimmerluxusvilla sind komplett ausgekühlt.
Luft gibt es sicher noch genug für ein paar Tage. Redet man sich zumindest ein. Ein Retter unvorstellbar. Keine Menschenseele traut sich hier her. Zumindest nicht mehr. Es ist zu gefährlich.
Nicht so gefährlich wie draußen, eigentlich. Aber das merkt anscheinend niemand.
Mittlerweile durfte der Geruch nach verbrannten Büchern dem Geruch nach meinem Eigenurin weichen. Kein angenehmer Duft, aber angenehmer als der Duft der Leute, die früher als Touristen zu den Gesichtsmetzgern kamen. Eine Geruchs-Kakophonie aus Rosen-, Lavendel, Vanille und sonstigen Parfums. Widerlich.
Aber die stickige Luft hier riecht nach Wahrheit, Aufrichtigkeit und Bahnhofstoilette.
Plötzlich höre ich ein lautes Geräusch, welches dem einer Sirene gleicht. Langsam spüre ich wie ich diesen Ort verlasse. Die Dunkelheit, der Gestank, die Luft, meine Gedanken – alles verschwindet. Ich bin frei.

Matt S. Bakausky: Weiß

Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Sie meldete sich bei mir über Facebook und fragte ob meine Schwester auch da wäre.
Meine Schwester hat kein Internet.
Dann meldete sie sich wieder ab.
Ein paar Monate später die gleiche Nummer.
Wir waren zusammen im Urlaub mit dem Betreuten Wohnen für seelisch Kranke Menschen.
Im bayerischen Wald.
Klettern, Lagerfeuer, Abenteuer.
Sie war in einem Einzelzimmer, nicht weit von mir entfernt.
Sie war still und sehr intelligent, wenn man sie traf.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.“
Dietrich Bonhoeffer
Geboren 21.09.1985. Gestorben 16.04.2017.
Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Sie fragte nach meiner Schwester bei Facebook.
Wir waren zusammen im Bayerischen Wald.
Einzelzimmer.
Still.
Intelligent.
Der Pfarrer im Betreuten Wohnen redete nicht hilfreiche Sachen.
Die Familie trauerte auf ihre Weise.
Wir zündeten Kerzen für sie an.
Bei der kirchlichen Trauerfeier wurde „I follow you“ von Lykke Li gespielt.
Am Werktag danach lief das Lied bei mir in der Arbeit im Radio.
Ich sah eine schwarze Krähe, als ich zum Rauchen runter ging.
Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Still.
Intelligent.
Jung.
Jedes Mal wenn ich „I follow you“ im Radio höre, denke ich an sie.
Weiß, dass es ihr nun besser geht.
Dass sie das weiße Licht gefunden hat.

Matt S. Bakausky: Spiel, Satz und…

Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte „Vom nächtelangen Zocken vor dem TV bekommst du noch viereckige Augen!“
Ich hielt das zu diesem Zeitpunkt noch für einen dummen Spruch. Ich betrachtete meinen Augen dennoch vorsichtshalber von nun an intensiv beim morgendlichen Zähneputzen im Spiegel – war nicht schon eine winzige kleine Vereckung wahrnehmbar?
Ich zweifelte immer noch an dieser Behauptung, hielt sie für einen mütterlichen Satz zu Erziehung, in der selben Liga wie „Wenn du eine Grimasse schneidest, bleibt dein Gesicht so“, „Wenn du deinen Teller nicht auf isst, regnet es morgen“ oder „Rauchen ist tödlich“.

Zwanzig Jahre und viele Konsolengenerationen später traue ich mich tagsüber nur noch mit Sonnenbrille aus dem Haus – denn sonst zeigen die Kinder mit ihren kleinen Fingern auf mich und sagen zu ihren Müttern: „Guck mal Mama, der Mann hat aber komische Augen“.
Zähneputzen um Zähneputzen konnte ich die fortschreitende Vereckung meiner Augen betrachten. Bis ich irgendwann alle Spiegel abgehängt habe.
Ein Augenarzt inspizierte meine Augen ungläubig: „Interessante Deformierung der Augäpfel“. Er stellte Fragen und schlug mir letztendlich vor meine Augen für die Wissenschaft zur Verfügung zu stellen – nach meinem Tod selbstverständlich.

Frauen gab es in meinem Leben neben meiner Mutter – im Beziehungssinne – nur kurzzeitig. Also solange bis sie meine Augen sahen.
Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte: „Wahre Schönheit kommt von Innen.“ Einen Satz den man zum Aufmuntern sagt, wie „Die ersten werden die letzten sein“, „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ oder „Nur die Besten sterben jung“. Doch ich war verzweifelt. Naja, außerdem hatten die Sätze meiner Mutter schon sowas Orakelhaftes an sich.

Ich versuchte also meinen Blick für die wahre Schönheit zu schärfen. Da ich nicht wusste was dieses Innen von mir eigentlich ist, besuchte ich einen Psychologen. Dieser behandelte mich wegen meiner Minderwertigkeitskomplexe aufgrund der viereckigen Augen.
Wohl um mich aufzuheitern erzählte mir Dr. Schrank von seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen aufgrund seines kleinen Geschlechtsteils. Das wollte ich gar nicht wissen. Von nun an trug ich nicht nur eine Sonnenbrille, sondern polsterte meine Hose aus, wenn ich das Haus verließ.

Mir war nun bewusst, dass viereckige Augen nicht das einzige körperliche Manko von mir war. Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte: „Es kommt nicht auf die Größe des Werkzeugs an, sondern darauf wie man es bedient!“ „Woher zur Hölle willst du das wissen?!“, fauchte ich sie an.
Sie wurde still und wir redeten wochenlang nicht mehr miteinander.

Dann bekam ich einen Brief von ihr. Sie schrieb sie wäre beim Arzt gewesen. Weil sie Blut hustete. Krebs in der Lunge. Wenige Wochen zu leben. Tränen kullerten aus den Ecken meiner Augen.
Ich verbrachte die nächsten Wochen bei meiner Mutter im Krankenhaus, zockte immer seltener. Bis ich irgendwann die Konsole gar nicht mehr startete.

Dann Nachts wurde ich vom Telefonklingeln geweckt. Ich solle ins Krankenhaus kommen. Als ich im Taxi saß merkte ich bei einem sporadischen Blick in den Rückspiegel, dass ich in der Eile meine Sonnenbrille vergessen hatte. Ich verdeckte schnell panisch meine Augen. „Alles gut bei Ihnen?“, fragte mich die Fahrerin.
Ich schob die Hände beiseite und schaute in meinen ausgepolsterten Schoß. Als ich aus Versehen wieder in den Spiegel schaute traute ich meinen Augen nicht. Sie sahen irgendwie normal aus.

Im Krankenhaus lag meine Mutter im Sterben. Als sie die Augen öffnete sah sie in meine nicht mehr eckigen Augen und lächelte. Sie nahm einen letzten Atemzug und sagte: „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“.

Matt S. Bakausky: Déjà-Vu Forever

Als ich Abends nach Hause kam, fand ich einen dicken Umschlag im Briefkasten. Ohne Absenderadresse, jedoch mit Briefmarke und Stempel aus Hong Kong. In der Wohnung angekommen öffnete ich den Brief und fand darin ein kleines Fläschchen. Es war verpackt in dieser Folie mit diesen Aufplopp-Noppen. Die Flasche sah irgendwie billig aus, als wäre sie leicht zerbrechlich. Doppelt bedruckt mit dem Namen „Deja vu Forever“. Ich hatte vor kurzem in einem Onlineshop diese Flüssigkeit bestellt. Oben an der Flasche angebracht war ein Deckel mit einem Zerstäuber. Der Marketing-Text war knapp und doch aussagekräftig. „Deja vu Forever is a parfume for experiencing deja vus a lot a lot a lot…“.
Ein Deja Vu ist wahrscheinlich eine Gedächtnisstörung. Dabei kommt es einem so vor, als hätte man etwas schon mal gesehen oder erlebt. Dieses Wundermittel soll chemische Substanzen enthalten, die jene Störung öfters hervorrufen. Vorausgesetzt man verwendet es wie ein Parfüm. Ich stellte das Fläschen ins Bad, um das Parfüm am morgigen Tag auszuprobieren. Am nächsten morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen. Ich ging ins Bad, um die Zähne zu putzen. Als ich nach der Zahnbürste griff, schmiss ich beinahe das Fläschchen mit dem „Deja vu Forever“ um. „Ob es die gewünschte Wirkung haben wird?“, fragte ich mich.
Nach dem Duschen war es soweit. Ich besprühte meinen Hals drei mal mit dem Parfüm. Es roch nach einer Mischung aus Rose und diesem chemischen Geruch von Neuwagen. Ich war bereit für das erste Deja Vu, musste mich jedoch auch fertig machen für die Arbeit. Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich ein Lied im Radio, das ich schon zu kennen schien – ich wusste nur nicht woher. Da fiel mir der „Deja vu Forever“ ein. War das schon ein erstes „Deja vu“?
In der Arbeit begrüßte mich eine Frau. Diese Situation kam mir bekannt vor. „Es geht los…“, dachte ich mir. Es folgten zig Deja vus. Es war ein konstanter Zustand von bereits erlebten Dingen. Mein Chef kam an meinen Arbeitsplatz und fragte nach den TPS-Reports. Die Situation kannte ich irgendwoher. Mittagessen vom Asiaten bestellen, kenne ich schon irgendwoher. Überstunden bis zum späten Abend, kenne ich schon irgendwoher. Den Bus verpassen, kenne ich schon. Endlich zu Hause ankommen, nichts im Kühlschrank haben, kenne ich schon irgendwoher. Im Internet was von einem Lieferservice bestellen, kenne ich schon. Pizza kalt und verbrannt: bekannt. Sich in den Schlaf weinen und sich auf die Traumwelt freuen: bekannt.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen – das kannte ich schon. Ich ging ins Bad, um die Zähne zu putzen – jaja, kenn ich. Als ich nach der Zahnbürste griff, schmiss ich beinahe das Fläschchen mit dem „Deja vu Forever“ um – noch ein Dejavu! „Ob es die gewünschte Wirkung haben wird?“, fragte ich mich – nicht zum ersten Mal. Nach dem Duschen war es soweit. Ich besprühte meinen Hals drei mal mit dem Parfüm – wie oft denn noch? Es roch nach einer Mischung aus Rose und diesem chemischen Geruch von Neuwagen – seltsames Gefühl, den Geruch zu kennen. Ich war bereit für das erste Deja Vu, musste mich jedoch auch fertig machen für die Arbeit.
Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich ein Lied im Radio, das ich schon zu kennen schien – ich wusste nur nicht woher. Da fiel mir der „Deja vu Forever“ ein. War das schon ein erstes „Deja vu“? In der Arbeit begrüßte mich eine Frau. Diese Situation kam mir bekannt vor. „Es geht los…“, dachte ich mir. Es folgten zig Deja vus. Es war ein konstanter Zustand von bereits erlebten Dingen. Mein Chef kam an meinen Arbeitsplatz und fragte nach den TPS-Reports. Die Situation kannte ich irgendwoher. Mittagessen vom Asiaten bestellen, kenne ich schon irgendwoher. Überstunden bis zum späten Abend, kenne ich schon irgendwoher. Den Bus verpassen, kenne ich schon. Endlich zu Hause ankommen, nichts im Kühlschrank haben, kenne ich schon irgendwoher. Im Internet was von einem Lieferservice bestellen, kenne ich schon. Pizza kalt und verbrannt: bekannt. Sich in den Schlaf weinen und sich auf die Traumwelt freuen: bekannt.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen – hab ich schonmal erlebt. „Konnte es sein, dass das ganze Leben ein Deja Vu ist? Seit wievielen Jahren schon?“, fragte ich mich auf dem Weg ins Bad.
Kam mir bekannt vor der Gedanke.

Matt S. Bakausky

Matt S. Bakausky wurde in der Adoleszenz religiöser Wahn diagnostiziert. Wenn er nicht gerade darauf wartet der nächste Buddha zu werden, übersetzt er das Neue Testament der Lutherbibel zurück ins Altgriechische. In klaren Momenten hilft ihm das Schreiben mit der Verrücktheit der Welt umzugehen. Vielleicht.


Matt S. Bakausky bei EBMD: