1, ein Tag im Sommer, die beiden Grazien – wie hießen sie nochmal? Ilka und Ingrid, Anja und Anette, Sabine und Sonja? -, zwei ganz unterschiedliche, frische Jungmädchen in schwarzen, nass glänzenden Badeanzügen, die eine noch flach wie ein Junge, die andere schon mit wogendem blonden Walkürebusen. So paddelten sie am Beckenrand, schauten hoch zu den horny boys, wohl wissend, dass sie Lichtjahre voraus waren in jedem Aspekt der Geschlechtlichkeit. Wie weiß doch ihre Haut war, damals, dass man meinen möchte, es habe in jenen Sommern die Sonne nie geschienen. Als wäre schon damals der Himmel über den nackten Leibern und den saftigen grünen Wiesen verdunkelt gewesen von den atomaren Wolken, deren Eintreffen wir tagtäglich aus dem Osten erwarteten, wo das Reich des Bösen unser Leben bedrohte. Als wären unsere Alpträume von der nuklearen Apokalypse nur Erinnerungen gewesen und wir hätten uns arrangiert mit allem, dem Tod, der Traurigkeit, den vergeblichen Mühen, indem wir uns außerhalb des Schwimmbades in schwarze Klamotten hüllten und uns heftig betranken so oft wir alle zusammen und ein jedes für sich einsam waren. Tanzend betranken, nie ohne die Bierflasche in der rechten Hand, mit der linken die Gitarren in den Lautsprechern dirigierend, ein Bein nach vorne, eines fest im Springerstiefel am Boden, so tanzten wir, vor und zurück, vor und zurück, jeder für sich. Und am folgenden lichtlosen Tag wieder die Begegnungen unter der nicht existierenden Sonne, am Schwimmerbecken, und auch unsere Badeklamotten waren schwarz, traumschwarze Hosen, Bikinis, Badeanzüge. Schlappen besaß noch niemand, nur die Handtücher – jeder ein anderes, ein persönliches Exemplar, und es gab keinen traurigeren Anblick als die auf die Wiese unregelmäßig hingeworfenen bunten Streifen Frottee, nichts zeigte mehr unsere absolute Hoffnungslosigkeit.
2, der Stern unseres Lebens war in rot auf eine Rakete gemalt, die vor Sonnenaufgang aus der unendlich-unerforschlichen Gegend heranflog, welche irgendwo hinter der Oberpfalz lag. Da wo sich die Amerikaner regelmäßig tage- oder wochenlang mit ihren Panzern und Kanonen austobten. Unser einziges Ziel war, die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bekommen. Endzeitschauder, nukleare Holocaust-Sehnsucht, Verliebtheitsmassensterben, Atomblitzlust, letzte Liebe im Hitzehagel. Ab ins Bad mit der Dauerkarte für die frischen Hormone. Wozu noch abwarten, dachten wir, wir fühlten uns doch eh schon so durchsichtig, als stünden wir in einer Strahlung, die uns an die Wand des Sanitärkomplexes projizierte. Der helle Tag hatte nicht die geringste Chance, das Dunkel aus unseren Köpfen zu vertreiben, aber unsere Herzen glühten, so wie das Wasser, die Luft, das Gras, die Vögel. Nichts ist trauriger als jung zu sein und schöner zugleich.
3, kalte, feuchte Haut, der Geruch nach Chlor, die feinen, beinahe durchsichtigen Härchen auf dem Unterarm, die sich aufstellten, wenn der Wind einen kriegskalten Gruß aus dem Osten schickte. Doch wie war es umgekehrt? Wie dachten sie, die da im Wasser plantschten und die wir anhimmelten, ohne es zu zeigen, wodurch wir uns natürlich noch viel mehr offenbarten, denn unsere vorgespielte Selbstsicherheit und unsere aus dem Fernsehen übernommene Arroganz waren so leicht durchschaubar wie das blassblaue Wasser, durch das sich Linien und Kanten schlängelten, wenn die Schimmer heftig aus roten Mündern prustend ihre Bahnen zogen? Vielleicht war es ganz anders und umgekehrt, und wir waren die letzte Hoffnung der Jungmädchen? Was natürlich fast ebenso traurig gewesen wäre wie überhaupt keine Hoffnung zu haben. Ohne Zweifel: jeder von uns hätte es am Ende dann doch sein können, der Gefährte, die starke Schulter, der verlässliche Partner – wenn uns nur jemand einmal verraten hätte, dass auch wir dazu in der Lage waren, tatsächlich. Was wie Selbstliebe daherkam und mit durchgedrücktem Rücken unendlich lässig am Beckenrand schlenderte oder sich gegenseitig begleitet vom unvermeidbaren stimmbrüchigen Kreischen zwischen die fluchenden Schwimmer ins Wasser schubste, war alles andere als das. Wir waren freilich nur mit uns selbst beschäftigt, hatten nicht die geringste Idee, wie man sich in die Träume von Jungmädchen hineinverliebt, selbst wenn wir es gewollt hätten, um zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu sprechen. Oder die falschen unausgesprochen wieder hinunter zu schlucken, ein Mund voll Chlorwasser schmeckte widerlicher.
4, wir waren unfähig, das Gegenüber zu erkennen, aber das lag an der unbeschreiblichen Überlastung, die es bedeutete, hier und jetzt in dieser Gestalt unter dieser Sonne an diesem Becken bei diesen Jungmädchen in diesen schwarzen Badeanzügen mit diesen gelben Locken und jenen geschmeidigen Fingern zu stehen, mit denen ein paar elegante Tropfen Chlorwasser am Hals und im Nacken verrieben wurden, so dass die buschigen Haare in der Achselhöhle einen Blick nach draußen warfen und auf einen selbst deuteten. Es war nicht haargenau so, dass wir sie enttäuschten, und sie uns, aber nahe daran kam dieses Gefühl schon, das wir erst Jahre und Jahrzehnte später in uns entdeckten, wie eine hinter dem Sofa verlorene staubige Salzstange, das Relikt einer Geburtstagsparty vor 1000 Leben. Wie komisch: wir spürten nicht die Zeit, die verlief, keiner von uns könnte sagen, wie lange damals ein Sommer dauerte – drei Monaten, fünfzehn Monate, fünf Jahre, eine ganze Schulzeit lang –, wie viele Sommer an sich es waren, wie viele Stunden, Tage, Wochen wir am Beckenrand standen und mit den Jungmädchen Blicke tauschten, weil nichts, worüber wir sprechen wollten, sich in Worte fassen ließ, und abgelenkt von der eigenen Ungelenkigkeit flutschten uns die Gefühle aus den Händen wie Fische, die dem Fänger entwischen und wieder eintauchen in das Wasser ohne Tiefe, in dem alles versinkt, die jungen Sommer, die nassen straffen Körper, kühl und fest, unsere lächerlichen Tänze und Handtücher, die Zeit der vergessenen Hoffnung. Und wer weiß, vielleicht ist der letzte Schmerz, den wir empfinden werden, die Trauer darüber, dass am Ende die Welt doch nicht unterging. Wie schön wäre es doch gewesen, jung und kraftvoll und in schwarzen Klamotten in den Tod zu tanzen.