Harald Kappel: der Fährmann

Das Ufer ist in ein fahles, silbriges Mondlicht getaucht.
Du bist bereit, bereit für die letzte Fahrt.
Es ist still, so still, so ruhig, so endgültig. Vor Dir der Fluss, wie gemalt,
flüssige Farbe, zäh, tief, unüberwindlich, aber Du hast keine Angst.
Als Du Deinen Fuß hineinsetzen willst, siehst Du Ihn auf der anderen Flussseite.
Er sieht Dich an, ohne Augen, ohne Gefühl. Er ist nur ein Umriss.
Schwärzer als alle Schatten, alles Licht weicht vor Ihm zurück.
Er ist groß, größer als alles, was Du vor Ihm sahst.
Er ist klein, kleiner als alles, was Menschen sich vorstellen können.
Er lebt und Er ist tot,
und Er spricht mit gewaltiger Stimme, ohne Töne, ohne Schall.
Er dringt in Deine Gedanken. Er sagt: „Ich komme, ich bin Dein Fährmann.“
Er stößt sich ab, sich und sein Floß.
Es gleitet….nein, es schwebt über den schwarzen, glitzernden Fluss.
Es taucht nicht ein, aber es fliegt auch nicht.
Du solltest Angst bekommen, aber da ist keine Angst, nur Erwartung.
Du bist wie gefesselt. Wieder sagt Er: „Ich komme. Ich hole dich.“
Wie wird Er sein? Wie wird Es sein? Wenn Er Dich packt, mitnimmt?
Wie sieht das andere Ufer aus? Er ist so groß und so klein.
Du willst dich abwenden. Er sagt: „Bleib, ich komme.“ Und Du bleibst, ohne Angst.
Er kommt näher, und doch kannst Du die Entfernung nicht schätzen.
Sein Fährmannsstab reicht von der Hölle bis ans Licht.
Unendlich groß, unendlich klein. Er stößt sich ab, ohne sich zu bewegen.
Er kommt unendlich schnell, und unendlich langsam.
Und als Er vor Dir steht, ist Er so weit weg,
so dass Du Ihn niemals berühren könntest.
Er sagt: „Ich bin der Fährmann, ich hole Dich, Deine letzte Fähre wartet.“
Er reicht Dir seine Hand,
und alles wird anders,
ganz anders….

Harald Kappel: ohne Drachenfell

es war einmal
draußen 
im Erwachen
zogen Glasfasern gen Süden
ich rutschte auf dem Vorjahreslaub hinterher
verschluckte den Frost
mit klopfendem Herzen
ein unbedeutender Corvus
ohne Drachenfell
schnell jagte 
ich im ersten Licht
deine Silben
als ich jedoch die Daten berührte
hinterließen sie Bites
auf meiner Haut
mein Körperschatten erbleichte
zu Pfützen aus Sehnsucht
deine Silben rasten
wie Kometen ins All
uneinholbar
für einen unbedeutenden Ritter
ohne Drachenfell

Harald Kappel: Homunkulus

die willkürliche Herstellung
von Menschen und Blumen
auf chemischem Wege
ist eine Möglichkeit im System
in bizarrer Abstraktion
werden die Gebärden der Gesetzlichkeit aufgelöst
werden Muttersöhnchen erzeugt
ein realistisches Detail
aus kläglichen Menschenschemen
die digitale Körnung
ist merkwürdig
die Schwächlichkeit
ein Programmfehler
die Liniengräben wie Ackerstreifen
ein Magnet
der Lebensfunke
das Bewusstsein 
eine Matrix
die willkürliche Herstellung
von Menschen und Blumen
auf chemischem Wege
ist möglicherweise
merkwürdig

Harald Kappel: das Ende der Wünsche

Lächelnd warten
dein Haus
eine milde Kathedrale
gefüllt mit Enttäuschung
der Duft flimmernder Blätter
im moorigen Morgentau
gebiert nur Übelkeit
auf den Lippen
müder Mohn
der nichts verändern kann

Lächelnd warten
lange Tage
die Gedanken gefüllt mit Garnichts
dein feuchter Leib
flattert nicht mehr so jung
unter deiner Frau
ein Nagelbett
das Schweigen der Münder
ein letzter kleiner Tod
die Krone der Kirschbäume
dornenreich
in den Gipfeln
ein ferner Traum
unbesteigbar
die Felder blutrot
nett gewellt
in Schnaps getaucht

Lächelnd warten
lange Nächte
in der Bucht
ruft eine goldene Glocke
nach dir
du lauscht
den alten Klängen
als es das Glück noch gab
da war ihr Duft die Sonne
nun
schleichen Schatten ins Geläut
hauchen leise
unentrinnbar
das Ende der Wünsche
in deine Gedanken

nicht mehr lange
Lächelnd warten

Harald Kappel: gebeizt

in deiner Abwesenheit
mische ich den Mohn
getröstet
schreib ich am Pult
wortfreie Verse
auf der Schallplatte
kratzen meine Nägel
eine Melodie
ein keimendes Kissen
meine Nahrung

in deiner Abwesenheit
vergesse ich meine Herzkammern
arrhythmisch
bewirte ich die Unterkühlung
auf dem Bries
eiskalte Schläge
eine Melodie
aus Rammstein
und Treppenhaus

in deiner Abwesenheit
mische ich den Mohn
schreibe am Pult
stumm und todlos
beize die Haut der Katze
meine Nahrung
in deiner Abwesenheit
ungetröstet

Harald Kappel: im Labor

ich traf Dich gestern
im Labor
nachmittags
wurde der Igel überfahren
seine Mutter gefressen
Hunde und Katzen
sahen zu

ich traf Dich gestern
beim Hochsprung
nachmittags
wurde Dir die Haut abgezogen
der liebe Gott gekreuzigt
Menschen und Ratten
sahen zu

ich treffe Dich
nicht mehr
nachts
weine ich
wegen Deiner Geburt
keiner und niemand
sieht mir dabei zu

Harald Kappel: Formatierung der Festplatte

das Erwachen
gegenüber
nach einer harten Nacht
hebt ein fetter Hund
schwankend das Bein
im grauen Licht
formatiert die schöne Nachbarin
die bunten Mülltonnen
erst nach Spektralfarben
dann nach Bouquet
in der verhassten Wäschespinne
fängt sich der Wind
in Plastiktüten
und Nylonstrümpfen
und ihr Rascheln
erzeugt eine seltsame Sprache
in mir
flüchtig

fehlt mir kurz das Ich

dann formatiere ich
die bunte Luft
den grauen Hund
die fette Nachbarin
die schöne Wäschespinne
die verhasste Nacht
schlüpfe
in die Nylonstrümpfe
stecke mich
in die Plastiktüte
und warte erneut auf
das Erwachen

Harald Kappel: mumifiziert

die Stimmung ist im Keller

nichts funktioniert
an der richtigen Stelle

am Arsch der Welt
läuft man sein Leben lang herum

der Aufgesetzte
ist eine Sternstunde

die Köpfe der Revolution
mumifizieren in Formaldehyd

das Tasting
gar nicht mal so übel
brennt unter der Kalotte

die Erkenntnis
braucht unendlich viel Zeit
sie reicht
Gott sei Dank
für lebenslänglichen Suff

man erträgt die Sternstunden
nur solange
bis man sie begreift

Harald Kappel: Abwehrhaltung

habe genug gelitten
lasse mich ohne Gegenwehr erschlagen
weil
ich es mir verdient habe
mein Haus ist graugrün
wie letztens
der trübe Urin
was bist du nur für ein Mensch
sagte sie
mach was aus deinem Leben
sagte sie
so ein Wahn
dachte ich
ja was denn?
habe genug gelitten
dachte ich
keiner begreift
was ich will
es geht alles durcheinander
wie schmeckt ein Kuss?
ja wie denn?
was erwartest du?
lecke am Rasierwasser
weil
ich es mir verdient habe
im Totenbuch steht
dass die Möglichkeiten
verwirkt werden
irgendwann
möchte mal wissen
was das bedeutet
für mich
möchte das mal wirklich wissen
das ist doch kein Spass
das Saufen
nun mach schon
wie letztens
ohne Gegenwehr

Harald Kappel: Hochgeladen

die Leiche
meines Vaters
riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter
das Niveau am Sterbebett
wird peinlich genau protokolliert
die Fotografie
des aufgeschnittenen Herzens
zeigt an seinen Rändern
unverdauten Spinat
die sectionale Präparation
vermittelt den Eindruck
als wär er noch da
fieberhaft knacken Schädelknochen
intensives Denken setzt ein
die Augennerven kratzen von innen heraus
am Klavier wird ein läppisches Lied gespielt
ich lade seine Facebookseite hoch
und zeige sie
am offenen Sarg
seine Freunde sind drei
er hat zwei Likes
in viertausend Stunden
ich hatte ihn blockiert
die Leiche meines Vaters
wird peinlich genau hochgeladen
sie riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter