Franz Walser: Den Wald verlassen

Die Struktur ist lose, offen, die Dramaturgie entspricht den Konzepten des epischen Theaters – direkte Publikumsansprache, die Dialoge sollen weniger eine Geschichte transportieren als Meinungen vermitteln und den Zuschauer zum Nachdenken und Reflektieren bringen – bin ich dieser Henry oder diese Verena?

Akt 1

Die Figuren werden Szene für Szene vorgestellt. Sie transportieren keine Geschichte, sondern entsprechen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen.

Szene 1
Christian betritt die halbherzig als Wald dekorierte Bühne. Er wendet sich an das Publikum, stellt fest, dass er sich hier in einem Wald befindet, bleibt ruhig und sachlich, er findet es hier zwar sehr schön, jetzt reicht es ihm aber, er wird sich nun auf die Suche nach einem Weg aus dem Wald heraus machen. Er geht ab.

Szene 2
Verena betritt die Bühne, sie wirkt panisch, verstört, schreit mehr, als dass sie redet, halb in Richtung Publikum, dieser verdammte Wald macht ihr Angst, sie will hier sofort raus. Sie geht ab.

Szene 3
Henry betritt die Bühne. Er wendet sich mit großer, fast gönnerhafter Geste an das Publikum, der Mann hat offensichtlich was zu sagen. Er erklärt detailreich, dass dies ein Wald ist, was dies für ein Wald ist, dass er Immobilienmakler ist, was an diesem Job so spannend ist, und übrigens ist er hier aus freien Stücken und bereit, jedem gerne zu zeigen, wie man aus diesem Wald wieder herauskommt. Er kennt sich aus. Er geht jetzt noch ein bisschen spazieren, man soll ihn einfach rufen, wenn man eine Frage hat. Er geht ab.

Szene 4
Eine Gruppe von 5-8 Leuten läuft über die Bühne, ihre Blicke sind auf Handys und Landkarten gerichtet. Sie ignorieren das Publikum, man hört allerdings, dass sie schwer damit beschäftigt sind, heraus zu finden, wer geographisch am besten bewandert ist. Einige diskutieren auch, ob es effektiver wäre, das GPS auf nur einem Handy zu aktivieren. Sie gehen ab.

Szene 5
Anna betritt die Bühne. Sie entschuldigt sich für die Verspätung, für das Chaos, für die Dunkelheit (es ist überraschend hell für einen Wald, aber das ändert nichts für Anna), für ihre leichte Verwirrtheit, außerdem würde sie hier gerne raus, das tut ihr auch Leid, weil eigentlich wollte sie ja kommen, aber jetzt möchte sie gerne wieder gehen, blöderweise weiß sie den Weg aus dem Wald nicht, dafür bittet sie auch um Verzeihung, und dafür, dass sie jetzt weiter muss. Sie geht ab.

Akt 2

Die Figuren treffen sich, ihre Handlungen, die durch ihre Rollen geprägt werden, überschneiden sich und sorgen für Konfliktsituationen. Die zu vermittelnden Rollenbilder werden vertieft, indem die Reaktionen aufeinander gezeigt werden.

Szene 1
Verena und Anna kommen gemeinsam auf die Bühne, Verena schreit immer noch panisch. Es ist richtig anstrengend und Anna sagt ihr das auch, entschuldigt sich wortreich beim Publikum für das hysterische Geschrei, Verena schreit, dass sie die Klappe halten soll, dieser verdammte Wald! Sie gehen schreiend und sich entschuldigend ab.

Szene 2
Christian und Henry betreten die Bühne. Christian ist sichtlich genervt, Henry erklärt ihm gerade, warum die Tannen ihre Blätter nicht verlieren und dass es gar nicht Blätter heißt, sondern Nadeln. Christian will etwas sagen, aber Henry lässt ihn nicht zu Wort kommen, weil er Christian sagt, wenn Christian etwas sagen will, nur raus damit. Christian schaut kurz flehend ins Publikum, aber was soll er machen, besser als Henry kennt er den Weg aus dem Wald auch nicht. Sie gehen ab.

Szene 3
Die Gruppe kommt wieder auf die Bühne, es haben sich zwei kleine Grüppchen gebildet, sie wenden sich ans Publikum, deuten auf die jeweils andere Gruppe und beschuldigen sich gegenseitig, im Chor, der Inkompetenz. Sie gehen ab.

Akt 3

Der polarisierende Antagonist tritt alleine auf und beendet die „Vorstellungsrunde“. Es entwickelt sich so etwas wie eine Handlung oder Spannung, weil Henry alleine im Mittelpunkt steht, das Bühnenbild kontextualisiert und am Ende der Szene auf der Bühne bleibt.
Henry kommt auf die Bühne und erklärt wortreich, dass das gar kein Wald ist, sondern ein Spiegelbild der Gesellschaft und die Bäume sind die vielen Menschen, zwischen denen man sich nicht zurecht findet. Er hat Verständnis dafür, dass man das nicht sofort versteht. Nachdem das jetzt gesagt ist, kann man das Ganze jetzt abbrechen, meint er, ist ja alles nur ein Spiel und eine Bühne, hat ja Shakespeare schon gesagt. Anstatt abzugehen, setzt er sich auf den Boden und redet weiter, bleibt aber in der Waldmetapher und klärt das Publikum über Flora und Fauna des Waldes auf. Es wird dunkel.

Akt 4

Die anderen Figuren treten zu Henry und bauen die Handlung weiter aus; die Spannung, die in Akt 3 entsteht, wird kurz aufgenommen und dann fallen gelassen. Eine Publikumsansprache beendet das Stück und fordert die Zuschauer*innen indirekt dazu auf, die Rolle des Henry und dessen Wertvorstellungen in sich selbst zu suchen. Die Waldmetapher wird ironisiert, um das Publikum mit dessen Kopplung an den gesellschaftlichen Diskurs zu konfrontieren.
Henry sitzt immer noch am Boden und redet wie ein Wasserfall. Er hat alles verstanden, aber die anderen nicht. Fast niemand, eigentlich. Er versucht, alles zu erklären, scheinbar hat er nicht mehr viel Zeit. Die anderen Personen kommen auf die Bühne und umringen Henry. Sie hören ihm eine Weile zu, dann packen sie ihn – sanft, aber bestimmt – und tragen ihn, während er immer weiter redet, von der Bühne. Zurück bleibt nur Verena. Sie entschuldigt sich beim Publikum, es sei immer das selbe mit Henry, sie haben einfach noch keinen Weg gefunden, um mit ihm zurecht zu kommen, außer ihn am Ende des Stücks von der Bühne zu tragen. Es tut ihr leid, dass alles so kommen musste, aber das Stück ist jetzt leider vorbei, und ja, die Sache mit dem Wald und der Gesellschaft, da hatte Henry schon Recht. Aber das war ja auch offensichtlich.

Christine Wiesel: Kurzschluss

Du machst Schluss sagt die Morgenluft oder die Wienerluft,
die den Prater mit der wilden Maus
von Hader und Braunschlag zugleich betupft.

So hüpft die Luft langsam zum Autobahnbegrenzungsdutt und sagt matt:
ich habe Durst meine liebe Lust.

Bleib mir vom Hals du alte Musch,
hole mir jetzt einen anderen Duft.

Anna Hofmann: Etwas

Immer wieder sehe ich auf den Tankstand und vergewissere mich, ob genügend Sprit bleibt. Seit eineinhalb Stunden lenke ich das Auto über eine völlig unbefahrene Straße, es verändert sich nichts an der Kulisse um die Windschutzscheibe. Bäume ziehen groß und dunkel an uns vorbei. Türme aus Samt oder aus Stahl, ich weiß es nicht. Ich versuche sie nicht anzusehen. Die Dunkelheit umschließt uns schon seit die Sonne unspektakulär und schnell irgendwo hinter uns untergegangen ist.
Er sitzt auf dem Rücksitz und ist eingeschlafen, kostbar liegt er ganz matt in seiner Schale. Ich sehe oft in den Rückspiegel, ob er noch da ist. Es kommt mir noch immer so vor, als könnte er einfach verschwinden.
Das Autoradio rauscht Störgeräusche in unsere Kapsel, ich suche nach einem Sender und tatsächlich schafft es einer und rastet ein. Klassik perlt leise auf den Beifahrersitz. Ich denke an Autofahrten mit meinen Eltern, an Klassik, die ihre Streitigkeiten untermalt. Ich saß immer auf dem linken Rücksitz und schaute aus dem Fenster. Dann stellte ich mir vor, taub zu werden. Es war nicht so einfach, aber wenn ich mir ausmalte, meine Ohren würden von innen zuwachsen, musste ich das Geschrei nicht mehr hören. Manchmal klappte es, dann war Ruhe. Am Ende schrie mein Vater sie immer an: Jetzt beruhige dich doch, verdammt nochmal!
Meine Augen werden müde, aber ich konzentriere mich auf den Lichtkegel vor mir: ein beständiges Immer an Straße und Bäumen. Wir müssten das Haus ungefähr in einer Stunde erreichen. Als Erstes trage ich ihn aus dem Auto und bringe ihn ins Haus, werde ihn ins Bett legen, dann noch einmal kurz rausgehen und die Taschen nach Innen tragen. So mache ich es. Und morgen früh holen wir dann zusammen im Dorf Brötchen. Es gibt nur einen Bäcker in der Ortschaft, aber die Frau hinter dem Tresen ist freundlich und freut sich immer uns zu sehen.
Aus dem Nichts kommt etwas von links. Ich kann nicht sagen, was passiert, ich weiß nicht, was es ist. Etwas Großes, dünnes. Blitzschnell bewegt es sich auf die Straße und ich drücke auf die Bremse, ich drücke sie ganz durch, und dann sehe ich zwei leuchtende Augen. Das Auto quietscht, es schlingert, ich beginne die Kontrolle zu verlieren. Dann knallt es. Es macht einen Ruck durchs ganze Auto, ich schreie, er wacht auf und stöhnt.
„Mama“, sagt er.
Und ich sage noch:
„Ja!“
da kommt das Auto zum Stehen und ich höre ihn atmen und mich atmen. Ich drehe mich um und frage panisch, ob ihm was weh tut.
„Bist du ok? Oh Gott, alles wird gut. Alles wird gut.“
Am Beifahrersitz stütze ich mich so ungelenk ab, als ich mich versuche zu ihm umzudrehen, dass etwas in meiner Schulter knackt und ich greife nach seiner Hand. Was ist passiert? Ich will die Zeit zurückdrehen. Nur ein paar Sekunden.
„Mama, was war das? Ich hab geträumt, …“
„Ist gut, alles ist ok! Wir können gleich weiter, ja?“
Mir wird schlecht. Ich steige aus und gehe ums Auto herum.
Alles ist ok.
Alles ist ok.
Ich öffne seine Tür, er sieht mich mit dem verwirrten Blick an, der mich am meisten schmerzt. Vorsichtig taste ich ihn ab, kein Blut. Er ist ok.
Alles ist gut.
„Mama, du hast da was im Gesicht“, sagt er und ich fasse mir an die Stirn. Ok, hier ist Blut, das muss warten. Ich küsse ihn auf den Kopf und sage:
„Schlaf ruhig weiter, ich bin gleich wieder da!“
Vorsichtig schließe ich die Autotür und drehe mich um. Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und schalte die Lampe darauf ein. In kleinen Schritten laufe ich die drei Meter zu dem Etwas zurück und halte das Licht darauf. Das Etwas bewegt seine Lippen, es öffnet den Mund. Ich will sagen: Nein, sprich nicht. Es blutet am Bauch oder am Rücken, der Asphalt glänzt ein bisschen. Ach du Scheiße, denke ich.
Das Etwas wird vor meinen Augen zu einem Reh, es nimmt organische Gestalt an, es entwickelt sich zu einem Tier. Ein Tier, das ich angefahren habe. Was mache ich denn jetzt ? Ruft man in so einem Fall die Polizei? Den Tierarzt, Jäger oder Förster? Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es atmet, ich leuchte es erneut an und es blinzelt. Alles wird gut, sage ich und weiß in diesem Moment schon, dass das eine blöde Lüge ist. Für uns wird alles gut, für meinen Sohn wird das ein Schreck bleiben, für mich eine schlimme Nacht aber du, du wirst mir hier jetzt wegsterben und ich kann nichts dagegen tun. Plötzlich überkommt mich eine geballte Woge Schuld, ich fange an rotzend zu weinen und in der Zeit, in der ich mein Handylicht von ihm kurz abwende und es wieder darauf richte, bewegt es sich nicht mehr.
Mein Körper zittert. Ich warte darauf, dass etwas passiert, aber es bleibt dunkel und still. Ich stehe auf und sehe mich um, kein Auto ist weit und breit zu sehen. Aus dem Wagen höre ich ihn Mama rufen. Es ist ein fragender Laut, ein unsicheres Wimmern. Ich renne zu ihm und öffne die Wagentür. Er sieht mich verschlafen an und fragt:
„Was machst du?“
„Alles wird gut“, sage ich und beginne mich zu sortieren. Es gibt Dinge zu tun, denke ich.
Ich schalte das Handylicht aus und wähle die Telefonnummer der Polizei. Kurz danach meldet sich ein Mann mit erschöpfter Stimme, im Hintergrund hört man Telefone klingeln und ruhige Stimmen. Ich stelle mir vor, dass es dort warm ist und dass sie bestimmt Filterkaffee trinken und Sudokus ausfüllen. Jetzt muss ich sagen, warum ich anrufe.
Ich nenne ihm meinen Namen und die Landstraße, auf der sich mein Auto mit meinem Sohn befindet, auf der ich stehe und auf der dieses Reh liegt. Ich sage ihm, dass es mir leid tut und frage, was jetzt zu tun sei.
„Gibt es Verletzte?“, murmelt er.
„Ja, das Reh ist tot.“
„Nein, ob es Verletzte gibt? Sind Sie verletzt?“
„Uns geht es gut. Aber hören Sie, das Reh ist glaube ich gerade gestorben.“
„Dann stellen Sie ein Warndreieck auf und fahren Sie weiter. Wir schicken jemanden. Wenn Sie möchten, können Sie beantragen, dass man Ihnen ein neues Warndreieck zuschickt. Das Formular können Sie auf unserer Website downloaden.“
„Und das Reh? Was machen Sie mit ihm?“
Er schweigt und ich höre wieder Telefonläuten im Hintergrund, ein Kollege ruft einen anderen und ein Stuhl quietscht.
„Das können wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Wir schicken jemanden.“ sagt er noch einmal.
Ich will ihn fragen, was das bedeutet. Ich will wissen, wer das Reh holt und was mit ihm geschieht, aber er hat bereits aufgelegt.
Langsam gehe ich zurück zu dem Häufchen auf der Straße. Es liegt ganz still da und ich überlege, es wiederzubeatmen oder einen Krankenwagen zu rufen, aber es wird wohl zu spät sein, denke ich, es ist wohl zu spät. Ich atme tief Nachtluft ein und muss husten. Es wird ein Anfall, der sich zu einem erneuten Weinen zu entwickeln droht. Abrupt drehe ich mich zum Auto und öffne den Kofferraum. Das Warndreieck liegt da und sieht mich an
Ich habe dir doch gesagt, du würdest mich mal brauchen.
Als ich zurück laufe und versuche das Dreieck so aufzustellen, dass es vorbeifahrende Autofahrer früh genug bemerken und dann einen Bogen darum fahren können, überlege ich das Reh im Wald zu vergraben. Ich könnte versuchen es über die Leitplanke zu heben und wenigstens mit etwas Moos bedecken. Ich würde es schon schaffen, irgendwie. Ratlos sehe ich es mir an und schätze sein Gewicht.
Es gibt Dinge zu tun. Ich wende mich ab und laufe zurück zum Wagen. Langsam öffne ich die Fahrertür und setze mich. Als ich den Schlüssel in die Zündung stecke und den Wagen anlasse, leuchten die Lichter der Amatur auf, Klassik beginnt sich um uns auszubreiten. Er ist schon wieder eingeschlafen, als wir langsam beginnen die Landstraße weiter zu fahren. Ein Blick durch den Rückspiegel lässt nicht mehr erahnen, wo das Reh liegt. Ich hätte bei ihm bleiben sollen, denke ich.

Ruben Trawally: Ein Brief

Heute habe ich meinen Briefkasten geleert, und einen schönen Stapel Briefe seit gestern erhalten. Man muss wissen, ich schaue jeden Tag auf dem Weg zur Mülltonne am Briefkasten vorbei, um potentielle Friseurwerbung zu entsorgen. Aber Briefe, öffne ich gespannt. Doch was dann geschah, versetzte mich sofort in Aufgeregte Stimmung. Der Briefkasten quoll vor Goldenen, ja sogar eisernen Briefen über, die sich wie folgt lasen:

Guten Tag lieber Begünstigter
Sie erhalten diese Post von der Robert Bailey-Stiftung. Ich bin ein pensionierter Regierungsangestellter aus Harlem und ein Gewinner des Powerball Lottery Jackpot im Wert von $ 343,8 Millionen. Ich bin der größte Jackpot-Gewinner der New Yorker Lottogeschichte, United States of America. Ich habe diese Lotterie am 27. Oktober 2018 gewonnen, und ich möchte Ihnen mitteilen, dass Horst Seehofer in Verbindung mit Microsoft Ihre Postadresse auf mein Ersuchen hin übermittelt hat, dass Sie einen Spendenbetrag von 3.000.000,00 Mio. EUR erhalten.
Ich spende diesen Betrag in Höhe von 3 Millionen Euro an Sie, um den Wohltätigkeitshäusern und den Armen in Ihrer Gemeinschaft zu helfen, damit wir die Welt für alle zu einem besseren Ort machen können.

Bitte antworten Sie mir bald, damit wir weiter vorgehen können, damit die verantwortliche Bank Ihnen eine Geldautomatenkarte im Wert von 3 Mio. EUR erstellen kann, die Ihnen zusammen mit dieser Bankkarte geliefert wird den PIN-Code für den Zugriff auf die Spendengelder.

Freundliche Grüße,
Robert Bailey
* * * * * * * * * * * * * * * * *
Powerball Jackpot-Gewinner

Das erfreute mich.
Der zweite Brief, leicht mit dem Dosenöffner aufgebogen, klang aber bedrohlicher:

Kein Scherz: Das kosten neue Fenster wirklich!
Nutzen Sie schnellstmöglich unseren kostenlosen Fenster-Angebotsvergleich und profitieren Sie von staatlichen Zuschüssen und Fördermitteln von KfW und BAFA – Für den Guten Durchblick.

Oha, das wusste ich nicht.
Nummer Drei:

ieber Kunde von unsere Bank
Wir haben Ihr Abwasser aufgrund von Problemen vorübergehend gesperrt 
bei der überprüfung Ihrer Angaben.
Sie müssen Ihre Informationen überprüfen, um unseren Service weiterhin sicher nutzen zu können.
Bitte überprüfen Sie Ihre Kontodaten, indem Sie unten auf den Link drücken und uns ihre Daten und Pin zuschicken. Erst dann wird ihr Abfluss wieder freigegeben.

Ich mach das dann mal.

Lisa Neher: Braun

„So groß wie ein Fußballfeld.“ Ein Vergleich, den wohl jeder versteht, in einer Gesellschaft, in der ein Sport sich sogar auf das Kaufverhalten der Menschen im Supermarkt ausübt. Stell dir vor, es ist Weltmeisterschaft: Du hast zu viel von deinem Deutschlanddosenbier getrunken und musst auf die Toilette mit Deutschlandklositz, wo du deine Tchibo- Deutschlandunterwäsche ausziehst und deinen Hintern mit Deutschlandtoilettenpapier abwischst. Wenn es um Limited-Editions geht, ist jeder Fan. Denn es gibt Deutschlandbeutel, Deutschlandschnürsenkel, Deutschlandsüßigkeiten, Deutschlandzahnbürsten, Deutschlandshampoo, Deutschlanddeodorants, Deutschlandtaschentücher, Deutschlandkondome, Deutschlandkippen, Deutsch-land-spül-ma-schi- nen-tabs. Verbrauchen Druckereien mehr M Y und K, wenn irgendeine Meisterschaft ist? In dieser Saison würde ich gerne in die Farbschläuche der Druckmaschinen beißen wie ein Marder. Dann würden die drei Farben auf den Boden auslaufen und unten am Boden eine Pfütze bilden. Die wäre dann braun, braun braun. So wie alle Farben, die man als Kind im Wasserfarbmalkasten – welch ausgefallen kreative idee – mischen wollte, braun wurden. Und was wäre dann übrig? Alles, Bedruckbare würde Cyan. Cyan oh du Retterin des Friedens und der Freude. Klar wie ein blauer Himmel wäre dann alles ganz plötzlich. Und die Welt wäre eine bessere.

Lisa Neher: Venus

Das ist Nadja. Gerade sitzt sie an der Nummer drei von sechsundzwanzig. Die Arbeit an der Kasse mag sie sehr, das Fließband ist ihr Laufsteg, die Kassenbucht ihre Bühne. Pro Stunde rauschen rund zweihundert Kunden an ihr vorbei und allen schenkt sie ihr
spiegelgeprüftes Supermarktlächeln, gratis zum Einkauf obendrauf. Die glossy
geschminkten Lippen formt sie – nur leicht – zu einem rosa schillernden Halbmond,
gerade so, dass die Faltenbildung sich auf ein Minimum beschränkt. Würde sie lächeln
und es bei jedem dahergelaufenen Kunden auch wirklich so meinen, das ergäbe um die achthundert mal am Tag, würde die Muskelgruppe rund um ihre verlängerten Wimpern eine wichtige Hautpartie in Falten legen und das würde ihre Jugend, naja sagen wir ihr jugendliches Aussehen, versauen. Sie würde dann aussehen wie eine vierzig, aber sie ist neununddreißig. Und sie ist heiß, so heiß. Das weiß sie, weil die Blicke der richtigen Männer lüstern und die der richtigen Frauen beißend sind – wie saurer Regen sind. Doch eigentlich wird sich daran, selbst wenn sie bald vierzig ist, auch nichts ändern – spätestens dann wird sie genug Geld für notwendige Maßnahmen haben. Letztes Jahr um diese Zeit aber hat Nadja all ihr Geld und all ihre Urlaubstage auf einmal genommen.

Einfach den Winter ausblenden und dorthin fahren, wo es warm ist, davon träumen sie, die Leute in Mitteleuropa. Im Internet gab es tolle Angebote für Fernflüge in die ganze Welt. Mit Schnäppchen kennt Nadja sich aus, also hat sie die Sparangebote
durchforstet, geduldig wie die Göttin, die sie ist. Und so ließ sie sich nach Südamerika fliegen, wo sie in einem schicken Ferienresort residierte, um dort Muscheln zu essen,
Gincocktails mit Beeren zu trinken und mindestens zweihundertfünfundzwanzig Tage zu bleiben. Am Ende waren es vierundzwanzig.

„Wir öffnen Kasse vierundzwanzig für Sie.“ Endlich. Der Startschuss für den
Feuerameisenhaufen am Marktende. Nervös analysieren die Kundenköpfe die Lage der Konsumation: Lohnt es sich stehen zu bleiben, oder soll ich noch wechseln? Wie viel hat der Typ da hinter mir? Wie groß ist der Einkaufswagen der Mutti, die sich ihren Weg zum Zahlen bahnt? Ob ich wirklich richtig steh? Eins, zwei oder drei. Die Schlange an der Nummer drei, an der Nadja sitzt, war viel zu lang geworden und der Druck hoch. Egal wie schnell man das Zeug über den Scanner zieht, die Kunden haben die Kontrolle. Sie trödeln, trödeln, trödeln und schmeißen damit Nadjas Kassenproduktivität über den Haufen, der sich am Ende des Pults in Form von Wildlachsimitat und Haarspray – zum Beispiel – stapelt. Jenga, Tetris, Mikado – alles ein Witz dagegen, denn die Arbeit an der Kasse ist kein Spiel. Sie ist ein sich ständig wiederholender Zweikampf, Dienstleister gegen Käufer und am Ende muss doch immer der Kunde König bleiben. Letztes Jahr um diese Zeit war Nadja die Königin. La Reina. So wurde sie immer von den Animateuren im Hotel genannt. Die haben Bikram Hot Yoga gemacht und Komplimente und die besten Drinks im – naja, im Land kann sie nicht sagen, denn sie hat das Resort eigentlich nie verlassen – wozu auch? Auf jeden Fall besser als alles, was sie zuhause je gekostet hatte.

Erdbeeren im Dezember, denn im Supermarkt gibt es schon lange keine Jahreszeiten
mehr. Sprühsahne aus der Dose, Kuh egal. Bananen. Ein Damenrasierer. Pinkes
Markenprodukt, und für Marke muss man zahlen, für pink sowieso. Schön blöd, wo es
doch Heißwachs gibt. Das schmerzt zwar, doch sitzengelassen werden nach einem
perfekt vorbereiteten Date auch – denkt Nadja, während sie die Waren abkassiert, und
Viel Glück. Dass Erdbeeren mit Schlagsahne ein gutes Sexleben und somit den Erhalt
der Beziehung prophezeien ist ein Mythos, der schneller geschmolzen ist als ein
Eiswürfel auf nackter Haut. Aber Nadja sagt: „Vierundzwanzig, fünfundsechzig, bitte.“
Die Kundin hört das nicht, denn sie hat Kopfhörer im Ohr und glotzt auf die Preisanzeige.

Sehr höflich. Wahrscheinlich hört sie George Michael oder irgendeinen Kuschelrock-Klassiker, um sich schonmal auf Erotik zu polen.
Letztes Jahr um diese Zeit saß Nadja am Tresen des Club Tropicana. Die Himbeeren
am Boden der Martinigläser waren schnapsgetränkt und einer der Animateure hatte
Schichtende. Während sie da so gemeinsam allein unter den palmenförmigen
Neonlichtern schwitzten, fragte er nach ihrem Leben in Deutschland und nach ihrem
Mann. Er fragte nach Kindern und Nadja sagte „da ist keiner“. Aber sie erzählte ihm alles andere, vor allem von der Arbeit und er antwortete was von the stars … the moon … you… wow.

Bananen, Olivenöl, Kleenex-Box, Kondome. Was hast du vor, du widerliches Arschloch, denkt Nadja und sagt „Neun, siebenundachtzig, bitte.“ Der Kunde streckt ihr seine geballte Faust entgegen, ignoriert die Kleingeldablage am Kassenband und lässt Münzen mit Körpertemperatur in Nadjas notgedrungen offene Hand fallen. Dass der Betrag, wie er mit süffisantem Lächeln beteuert, passen sollte, glaubt sie sofort und schmeißt das Geld ohne zu zählen in die Schublade. So ambitioniert wie er diesen
Einkauf getätigt hat, muss er bereits zuhause zusammengerechnet haben, wie viel seine Anschaffung kosten wird. Dann hat er die Münzen aus seinem Sparschwein gekippt und sie in seiner schwitzigen Pranke durch die halbe Stadt getragen, durch die Straßen, durch die Gänge, durch die Schlange, um sie nun wie flüssiges Gold in die
wohlgecremte Hand der Kassiererin träufeln zu lassen. „Die Nummer drei schließt, bitte legen sie keine Waren mehr aufs Band.“ Nadja greift zum Desinfektionsmittel.

Letztes Jahr um diese Zeit wollte der Animateur vögeln, aber Nadja sagte „Ne ne,
Amigo“. Immer wieder hat sie seine Hand von ihrem Oberschenkel genommen und mit ihren falschen Fingernägeln einen Kreis in die Luft um ihren Körper gezeichnet, um ihre Zone klarzumachen. Dann streckte sie ihre Handflächen in seine Richtung, um seine Zone zu definieren. My place, your place. Der Animateur nickte, Nadja kicherte, er griff neckisch nach ihren Fingern und wurde nicht müde.

Pepsi Cola, Club Mate, Apfelschorle, Mineralwasser – still und spritzig. Stapelchips,
Brezen vom Backshop, Trauben – rot und grün. Die Waren der Anarchie. Die Anarchie
der Supermarktkunden. Sie nehmen sich ein Getränk aus dem Kühlschrank und trinken drauf los. Sie sprühen sich ein mit Testern und verlassen das Geschäft, in dem sie eine dicke Wolkenschicht aus Parfum hinterlassen. Sie pflücken sich Trauben – man muss ja schließlich sicher gehen, dass das, wofür man gleich sein Geld ausgeben wird, auch schmeckt – und stopfen sie sich in den Mund. Dabei fühlen sie sich wie die letzten
Revoluzzer. Oder irgendwie erhaben. „Ich darf das, ich werde das ja gleich bezahlen.“
Letztes Jahr um diese Zeit hatte Nadja plötzlich Panik. Ihr wurde mal wieder klar, dass
ihre Schönheit vergänglich ist, da würden ihr auch keine Spas und Schönheitsfarmen im All-Inclusive-Programm weiterhelfen. Dass vielleicht schon in einem Jahr kein gut
gebräunter Hotel-Animateur mehr ihre Hand am fackelumsäumten Bambustresen halten würde, machte sie traurig – war ihre Attraktivität doch alles, worauf sie sich ihr ganzes Leben lang verlassen hatte. Sie hatte weder finanzielle noch zwischenmenschliche Sicherheit zu bieten und da begann der Gin salzig durch ihre Tränenkanäle zu fließen.
Auf ihre Wangen und auf das Polohemd des Animateurs.

Hackfleisch, Joghurt, Fischstäbchen, Bourbonvanille Eiscreme. Kurz vor Feierabend
geht Nadja durch die Gänge und schmeißt weg, was nicht mehr an seinem gekühlten
Platz liegt. Den ganzen Tag über nehmen unentschlossene Einkäufer Produkte aus der
Kälte, denken dann fünf Meter weiter Nein doch nicht und legen es zu den
Herrenhemden. Oder zu den Eiern aus Bodenhaltung oder zu den Schnittblumen.
Kühlschränke, die eigentlich Kühlregale sind, weil sie keine Türen haben, kühlen ja sowieso den ganzen Raum, oder? Die Sachen schmelzen trotzdem, erst im Markt, dannim Container. Nadja und ihre Kollegen diagnostizieren eine unterbrochene Kühlkette und gehen nach Hause.

Letztes Jahr um diese Zeit war Nadja immer noch wach. Es war schon spät und sie
konnte den Sekundenzeiger der Armbanduhr hören, die ganz nah an ihrem Ohr tickte.
Der Animateur streichelte über ihre Stirn und ihr sonnengebleichtes Haar. In seinem
Schoß. Die metallischen Kettenglieder um sein Handgelenk funkelten teuer. Moment
mal. Sie hob den Kopf und musterte den Mann vor sich noch einmal genau, sein
makelloser Teint, seine starke Brust, das gestickte Logo darauf. Das waren Luxusartikel, die mit Sicherheit nicht allein vom Trinkgeld eines Hotelangestellten finanziert waren.
Was war seine Masche?

Bananen, Kokosnüsse, Granatäpfel, Mangos. Die Leute glauben immer, das
Warenangebot im Supermarkt sei ein Beweis für den Fortschritt der Welt. Aber eigentlich dreht sich das alles in die falsche Richtung. Es gibt kein richtiges Leben im Supermarkt.
Avocados wachsen in Mexico, Tomaten in Spanien. Flaschensammler geben Pfand
zurück. Salatgurken sind bio unter der Plastikfolie. Achtzehnjährige bezahlen die
Zigaretten und geben sie an irgendjemandes kleine Geschwister weiter. Die LKW-Fahrer lassen sich auf den süßen Geschmack von Automatencappuccino einladen und
schimpfen über den Stau auf der A9, wenn Nadja um fünf Uhr früh die Ware annimmt.
Sie schiebt die Pappkartons über die Edelstahlrampe und biegt an diesem Morgen
rechts ab statt links. Im Schatten eines Leerpalettenstapels öffnet sie die Bananenkisten, reißt das Plastik auf und räumt die halbreifen Früchte zur Seite. Am Boden der Schachtel liegen zehn vakuumierte Päckchen und Nadja lächelt. Sie lässt ihre Ringe über das einfolierte weiße Pulver streifen und muss richtig lachen. Die Partie um ihre braunen Augen legt sich in Falten. Jetzt wird es Geld regnen. Jetzt wird sie reich sein und für immer schön.

Carolin Wabra: Gisela und Heinz

Eine durchsichtiger Gefrierbeutel wird langsam ausgepackt. Wiederverwendbar, mit diesem Verschluss an den Enden den man wieder zusammendrücken kann. Zip nennt sich diese Technik habe ich in der Werbung gehört. Der Beutel ist ganz knittrig und schon etwas angelaufen. Wiederverwendbar. Heinz und Gisela achten auf so etwas. Haben sie immer schon. Nicht erst seit diese 16jährige Schwedin den Klimawandel prophezeit hat und der Bio-Strom nur noch 30 Cent die Kilowattstunde kostet. Nein, schon seit dem ersten gemeinsamen Ausflug in die Berge im Sommer 1982. Kurz bevor die Kinder kamen. „Toll. Umweltbewusst. So hätte ich sie gar nicht eingeschätzt“, denke ich mir, will mich schon räuspern und sie für diesen tollen Beutel loben, doch dann sehe ich Stullen in Alufolie. Doppelt gewickelt. Vermutlich also nur der Geiz der die wiederverwendbaren Beutel in die Taschen hat wandern lassen.

Meine Bewunderung nimmt schnell ein jähes Ende. Widerliches Pack, denke ich mir.
Es ist halb zwölf im Zug von Nürnberg nach Berlin und Gisela und Heinz beginnen nun ein sehr frühes Mittagessen. Das zweite Frühstück, wie es so schön heißt. Eher unschön ist aber dass ich mir das ganze nun auch ansehen muss. Viel schlimmer den ganzen Auspack-Kau-Geruch-Prozess fast hautnah mitbekomme. Es gibt: 1 rohe Krakauer für Heinz. 1 käsebrot für gisela, 1 käsebrot für heinz, 2 hartgekochte eier. 1 Packung Haribo.

Genüsslich hat heinz soeben in die wurst hineingebissen, nicht in der mitte durchgebrochen sondern sich einfach herzhaft das obere Ende in den Mund gesteckt und seine dritten drauf knallen lassen. Es riecht nach wurst. jetzt riecht dieses ganze ruheabteil nach wurst! ist geruchsbelästigung nicht noch schlimer als lärm. schließlich habe ich kopfhörer in den ungeputzten ohren. mir wäre es lieber gisela würde heinz etwas erzählen. stattdessen riecht es nun nach geräucherten wurstwaren. heinz schmatzt laut. es knistert. jetzt wird die käsestulle aus der alufolie geschält. gisela hat ihre bereits ausgepackt und halb verschlungen während sie mit leerem blick in die brandenburgerische landschaft starrt. trostlos hier. trostlos auch die geschmierten stullen. zwei scheiben körnerbrot, so helldunkel. nicht wirklich gesund aber auch kein toast. irgendwas dazwischen. ich würde sie gerne fragen welches brot sie heute morgen geschmiert hat, denn es schaut sehr weich aus aber heinz hat jetzt schon die zweite krakauer im mund und ich werde langsam wütend. zurück zu den broten. zwei scheiben brot, butter, eine scheibe butterkäse.

doch gerade als ich heinz und gisela betrauern wollte sehe ich aus giselas käsestulle eine scheibe schwarzwälderschinken unter dem butterkäse hervorlugen. sehr fein. gisela scheint eine frau von experimenteller küche zu sein. einfach mal den schwarzwälder unter den butterkäse gelegt. frech. ich frage mich ob eine saure gurke versteckt ist. würde gerne aufstehen, zu ihr rüber laufen und ihr das brot aus der hand klauen. es dann aufklappen und inmitten von speckrändern und käselöchern nach der gurke wühlen.

die dritte krakauer wandert im moment in den mund von heinz. ein speckfetzen bleibt an seiner lippe hängen, echsenglech schießt seiner zunge aus den kleinen lippen hervor und nimmt das weiße, seidene fädchen zurück in den dunklen rachenraum.
gisela trägt: dunkelblaue, rustikale schuhe aus wildleder, hellbeige schnürsenkel, eine dunkelblaue jeans, abgewetzt am oberschenkel, ein helllilaenes-weißes t-shirt, darüber eine schwarze dünne jacke aus lederimitiat, eckgie brille mit goldene rahmen und dunkelroten steinchen an den seiten, zwei silberfarbene ohrringe, kurzhaarschnitt, rotbraun gefärbt. wimperntusche

heinz trägt: schwarz-graue funktionsturnschuhe, graue schnürsenkel dunkelgraue jeans, einen karierten pullover in den farben blaugrau-hellbeige-hellbraun, schwarze ärmel, einen grau karierten schal, mit diesem klassichen knoten, einmal um den hals gelegt und die beiden offenen enden in die schlaufe geschoben die entsteht, eckige brille mit feindnen grauem rahmen und bügeln, keinen bart, kurz haarschnitt, grau-dunkelblond

nun wird das ei geköpft, mit einem beherzten griff auf die kleine tischplatte des ices geknallt. krrh macht das. ein ekliges geräusch. das brechen der harten schale matscht auf das weiche ei innere. heinz pullt jetzt. jeder kleiner schalensplitter fällt in die alufolie, kopfschütteln dabei. bin mir unklar ob die beiden nicht genervt sind von dem klappern der tastaturen meines laptops. es ist mir egal. es riecht hier nach wurst. und jetzt auch noch nach ei. ich fass es nicht. ruheabteil würde ich am liebsten schreien. aber ich bleibe natürlcih ruhig. schließlich bin ich wohlerzogen und weiblich. Und im ruheabteil.

gisela ist mittlerweile beim nachtisch angekommen. haribo colorado. mit einem kleinen gummi war die packung verschlossen. sie hat also bereits gestern oder heute morgen genascht. oder war es heinz?

mir wird schlecht. heinz hat soeben seinem ei in weniger als drei bissen dem garaus gemacht. ohne salz. ohne pfeffer. nun knuspert es weiter. die alutoflie wird zusammengerollt und in den gefrierbeutel zurück manövriert.

gisela blättert währendessen in der superillu. wo sind die colorado. es geht so schnell. mittagspause in weniger als 10min. die colorado sind wieder aufgetaucht. sind in heinzs blickfeld geraten. ein kurzer blick zu seiner gattin durch die zusammengezogenen augen. doch jetzt wird noch nicht zugegriffen, denn mittlerweile wurde das smartphone aus der tasche geholt und mit einem finger wild darauf herumgeschoben. tindert heinz?? ich meine deutlich eine wischbewegung ausgemacht zu haben. vermutlich humbug. natürlich humbug.

das handy wurde weggelegt. heinz hat nun die colorado packung in der hand und sucht sich seine lieblinge heraus. legt sie vor sich auf den tisch. die grünen frösche mag er scheinbar gerne. ich muss auf die toilette. im nachbarabteil wird die zeit gelesen. hier wäre ich gerne. in der intellektuellen blubberblase der ice fahrten. stattdessen vesperpause mit bärchen und mausi. die bildzeitung wird bei mir aufgeklappt. schumi mit familie auf mallorca. toll der schuhmacher. gehts ihm wieder gut? ich kann nur die schlagzeile lesen, heinz hält die zeitung mit seinen wurstfingern zu schräg und scheint auch sichtlich genervt zu sein, dass mein laptop eine tischhälfte belegt. wissen braucht platz.

ich würde gerne wissen, wie es michael geht.

Theobald O.J. Fuchs: Waldlagebericht

Während die Lage bei den Räubern seit Jahren stabil ist, stellen die Jäger für Anlieger wie Forstwirte unvermindert ein ernstes Problem dar. Insbesondere zur Balzzeit im Frühjahr durchbrechen immer wieder einzelne Exemplare den Jägerschutzzaun und durchwühlen Schuppen, Garagen und Altglascontainer nach Schnapsresten und Baumaterialien für den rituellen Hochstand. Eine vertrauliche Studie des Ministeriums für Bildungsbürger, Illusionisten und Märchen prognostiziert, dass alleine in Süddeutschland jährlich ein Schaden von neun Festmillimetern entsteht. Eine beachtliche Menge Unterholz also.
Die Dunkelziffern sind hoch wie nie, weil sich viele Geschädigte aus Scham oder auf Grund von tödlichen Verletzungen weigern, bei der Polizei Meldung zu erstatten. Die Waldforschung steckt tiefer denn je in der demoskopischen Krise, so dass allen Anstrengungen zum Trotz bis heute nicht zuverlässig ermittelt wurde, wie viele Jäger genau sich in deutschen Forsten versteckt halten. Mehr als ein Drittel aller bayerischen Wälder sind schlechter erforscht als die Rückseite des Mondes, wie der Städte- und Gebrüder-Grimm-Tag alljährlich anprangert.
Die Population der Frauenmörder scheint sich hingegen auf einem niedrigen Niveau eingependelt zu haben. Stand vor 20 Jahren noch hinter jedem zweiten Baum ein Sexualstraftäter, der nach Einbruch der Dunkelheit auf alleine im Wald spazierende Frauen wartete, so dürfte es heute schätzungsweise nur hinter einem von zehn sein. Experten sind sich weitestgehend darin einig, dass sich die meisten  Sittlichkeitsverbrecher schlicht gegenseitig umbrachten. Irrtümlich freilich, wie das in überbevölkerten Habitaten des Öfteren vorkommt.
Als angespannt, wenn nicht kritisch gilt nach wie vor die Situation bei den Werwölfen. Zahlreiche Berichte über Schwarzschlachtungen wurden zwar bisher in keinem einzigen Fall offiziell bestätigt. Andererseits liegen die Zeugenaussagen verschiedener Rehe und Wildschweine vor, die nur knapp dem Angriff eines verwilderten Werwolfs entkommen konnten. Hierbei kann die Beurteilung der Lage nicht unabhängig vom Hexen-Vorkommen geschehen. Als natürliche Kulturfolger sind Untote, Wiedergänger und andere Teufelsbündprinzipiell im Umfeld von Hexen-Populationen zu finden, die wiederum schon vor Jahren von der UNESCO auf die rote Liste des aussterbenden Schauermärchenpersonals gesetzt wurden.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: unabhängig voneinander ist es den Schutzverbänden im Sächsischen Ostzaubererzgebirge als auch im tiefen, tiefen Bayerischen Wald gelungen, Zigeuner-Sippen erfolgreich auszuwildern. Gerade bei den Sommertouristen ist die Beobachtung eines Lagers des »fahrenden Volkes« tief im Wald während der frühen Abendstunden, das sogenannte »gypsy watching« zur beliebten Attraktion avanciert. So gibt es mittlerweile diverse Anbieter, die mit Dämmertouren und garantierter Sichtung eines Stammeshäuptlings werben. Prospekte zeigen unscharfe, mit Restlichtverstärker geschossene Aufnahmen, auf denen jüngere Männchen und Weibchen in scheinbar grünlichen, vermutlich aber farbenfrohen Kostümen um ein Lagerfeuer tanzen. Vereinzelt werde selbst Wahrsagerei wieder in der freien Wildbahn beobachtet. Der sächsische Landesverband für Mittelalterpflege erklärte, dieser Erfolg sei ein ermutigendes Zeichen für die in nächster Zeit geplante Wiederansiedlung des gemeinen Gauklers, des trügerischen Quacksalbers, des Landsknechts sowie des nostalgischen Zonengrenzsoldaten.
Doch abgesehen von diesen sicherlich beachtlichen Fortschritten, herrscht insgesamt die Besorgnis vor, dass spätestens unsere Enkel keine Chance mehr haben werden, im Deutschen Wald ordentlich ausgeraubt, verhext oder erschossen zu werden. Es fehle, so der Sprecher des Landesverbandes, nach wie vor der politische Wille, ausreichend Kinder im finsteren Wald auszusetzen. Dies würde, wie auch in ähnlich gearteten Fällen, stets mit begrenzten personellen Ressourcen begründet. Alleine im Landesbezirk Oberpfalz, der für den bayerischen Wald diesseits der tschechischen Grenze verantwortlich ist, sind seit Jahren gut ein Dutzend Planstellen für böse Schwiegermütter unbesetzt, lediglich ein buckliger Eremit, ein Däumling und zwei Gnome sind für das gesamte Gebiet zuständig. Der Dämon »Nachwuchsmangel« schlägt auch hier gnadenlos zu. Die alte Weisheit, dass, was das Teufelchen nicht lernt, auch der Satan nimmermehr lernt, ist unverändert gültig. Als weitere Ursache nennen die Experten einstimmig den besorgniserregenden Rückgang verarmter Holzfällerfamilien mit Stiefmutterhintergrund.
Eine Stellungnahme des Bundesverbandes der Gehenkten zum Thema nachhaltiger Ansiedlung von Gespenstern lag bis Redaktionsschluss leider nicht vor. Die Geschäftsstelle des BdG ist derzeit wegen eines Trauerfalls vorübergehend nicht besetzt. Eventuell aber auch bis in alle Ewigkeit.

Andreas Lugauer: Die Zerstörung der Martin Suter’schen Twitterlyrik

Wer einmal wirklich ~grauenvolle~ Lyrik lesen will, besuche den Twitter-Account des Schweizer Schriftstellers Martin Suter: twitter.com/martinsutercom. Suter, dem Publikum in erster Linie bekannt als Romancier, nicht aber als Lyriker, twittert dort ausschließlich und fast täglich Gedichte. Dies jedoch allem Anschein nach ohne besondere Qualitätsansprüche.

Nach ein wenig Durchgescrolle frage ich mich ernsthaft, ob Suter seine ›Gedichte‹ voller dichterischer Selbstüberzeugung twittert, oder ob ich einen oder gar mehrere Ironielayer nicht gette. Ein erstes Beispiel:

»Die US Präsidentenwahl
Hat der Welt den Nerv getötet.
Sogar der Mond ist vom Skandal
Deutlich sichtbar leicht errötet.«

Gemeint ist in diesem Gedicht vom 21. Januar 2019 der an diesem Datum aufgrund einer totalen Sonnenfinsternis rot erscheinende, sogenannte »Blutmond«. Dass der Mond mit dem Erröten fast genau zwei Jahre zu spät dran ist – Trump wurde am 20.01.2017 inauguriert – und dass sich seit Trumps Amtseinführung vier weitere Mondfinsternisse ergeben haben, ja mei, was soll’s, wenn’s uns halt grad so ein schönes Gedichtlein zum Twittern hergibt.

Zumal Suter ja jeden Mondschmarrn zu verarbeiten scheint, noch so einen, der monatlich auftritt wie etwa ein fast (!) voller Mond: Ich zitiere:

»Eine stille Winternacht,
Die Welt wie unbewohnt.
Und über diese Stille wacht
Ein fast voller Mond.«

Gehen wir einmal davon aus, dass es ihm ernst ist mit seinen ›Gedichten‹: Dann handelt sich nicht nur um Banalitäten ersten Ranges, die nur aufgrund der Reimwörter aneinandergeleimt werden können, sondern, was noch vorher wehtut, um Gedichte, die mindestens in jedem dritten Vers derart holpern, wie man es allerhöchstens Onkel Erwin bei Gelegenheitsgedichten zum Geburtstag oder ähnlichem nachsehen würde; zumindest dann, wenn man schon vier Bier getrunken hat. Ich zitiere Suter vom 19. Januar dieses Jahres:

»Ich bin auf einem weissen Berg.
So hoch liegt überall der Schnee,
Dass ich gar nicht darüber seh.
Bin wieder wie als Kind ein Zwerg.«

Martin Suter also, hoch oben aufm Berg, noch höher nur der Schnee, der ihn ringsum überragt, so dass er nicht mehr »darüber« sieht (der dritte Vers passt wieder nicht, quod erat demonstrandum). Wahrscheinlich hat ihm jemand eine Schneise durch die Schneemassen geschaufelt, durch die er jetzt durchlatscht. Weil wenn der Herr Dichter auf dem meterhoch eingeschneiten Berg umherwandeln will, soll er das natürlich tun können müssen. Wo kämen wir schließlich hin, wenn er, wie jeder andere Mensch auch, einfach vernünftigerweise im Tal bleiben müsste. Was, wenn ihm eine Winterwanderung wie diejenige Goethes auf den Brocken im Harz verwehrt bliebe, aus der immerhin dessen Gedicht »Harzreise im Winter« hervorging, das Goethes Dichterruhm ja wohl nunmal endgültig besiegelte? Nein, das kann niemand wollen, und deswegen schicken wir die Schneekatze hoch, metertiefe Schneisen zu pflügen. Und dass Suter sich darin dann fühlt nicht wie ein Halbgott, sondern wieder zwergenhaft wie ein Kind (richtig wäre hier: Kleinkind), damit muss er entweder selber klarkommen, oder er dreht selbst das noch ins Poetische rüber.
Anderntweets macht er sich manchmal Sorgen:

»Wenn wir uns bereits am Morgen
Schon auf den Abend freuen,
Mache ich mir manchmal Sorgen,
Dass wir es einst bereuen.
Denn viel länger wirkt das Leben,
Wenn wir von dem dazwischen,
Uns ein wenig Mühe geben,
Auch etwas zu erwischen.«

Von der grauenvoll stümperhaften Form abgesehen: Da macht er sich also manchmal, während er sich am Morgen so richtig schön auf den Abend freut, Sorgen, eben dies irgendwann mal zu bereuen. Freilich macht er sich dabei nicht immer Sorgen, oder hört gar einfach auf, sich am Morgen auf den Abend zu freuen. Denn so tief scheint die ›Erkenntnis‹ nicht zu rühren, dass das Leben »viel länger wirkt« (?!), wenn er sich den ganzen Tag über, von morgens bis abends, nur »ein wenig Mühe« gibt, »etwas« davon »zu erwischen«, dass es ihn beim Sich-Sorgen-Machen immer aus der Sorgenbahn trägt oder er es halt gleich ganz bleiben lässt und stattdessen versucht, was vom Leben – das sich verhuschelt-wuzelig zu entziehen scheint wie ein Eichhörnchen – zu erwischen.

Und worauf freut er sich eigentlich, unser Herr Dichter? Auf den Flug der Minerva etwa, die diesen laut Hegel bekanntlich erst abends startet? Ohne die Antwort apodiktisch vorwegnehmen zu wollen, stelle ich sachte zur Diskussion: Wohl kaum.
Jetzt mag natürlich jemand einwenden: »Freilich, hier mords rumkritisieren, aber selber wieder keinen geraden Vers zusammendichten können!« Dieser Vorwurf wäre zwar Quatsch, aber dennoch stehe ich nicht an, hier meine kleine Martin-Suter-Huldigung vorzutragen:

Lieber Martin Suter,
Hör bitte auf zu dichten,
Denn du bist kein Guter.
Es reicht halt nicht mit Reimen
Zeilen zusammenzuleimen.
Und von den Metren zum Beispiel
– Hier passt was mit Freistiel! –
Beherrscht du nicht mal die schlichten. [das reimt jetzt auf »dichten« im zweiten Vers!]
Drum sage bitte »auf Wiederschaun«,
Und produziere nicht mehr so einen Schaum.
Vielen Dank!
Dein Andreank