Margit Heumann: Der Fern-Seher

Alleinstehende, Kranke, Fußlahme, Einsame, Schüchterne haben es oft nicht leicht, mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu kommen. Die einen müssen das Bett hüten, die anderen können sich nur unter Schmerzen, mit Krücken und hinkend vorwärts mühen, manche haben Phobien oder sind ohnehin Analphabeten im zwischenmenschlichen Bereich. Sehr gern benützen sie stattdessen ein Fenster zu Welt, das sich öffnen lässt, durch das sie vom Wohnzimmer, vom Esstisch, vom Krankenlager aus auf die Anderen blicken können: den Fernseher. Aus sicherer Entfernung informiert er sie über gesellschaftliche Zu-, Um- und Missstände und über aktuelle Tagesereignisse, fremde Länder und Kulturen, aber auch menschliches Glück und zwischenmenschliche Katastrophen. 

Aber großes Aber: Der Fernseher ist kein Fenster zur wirklichen Welt. Sobald man ihn einschaltet, wird einem die Welt der Anderen übergestülpt, die von wieder Anderen ausgewählt wird, für die Geld und Einschaltquoten die bestimmenden Faktoren sind. Und was für eine Welt! Nicht die reale, die normale, nicht Menschen wie du und ich. Die TV-Anbieter weltweit kippen das ab, was ihrer Meinung nach lukrativ ist. Allen voran präsentieren sie Mord und Totschlag in mehr oder weniger blutrünstigen Varianten in den unzähligen Krimis. Dancing Star serviert Adabeis aus Politik und Seitenblicke-Gesellschaft. Rosamunde Pilcher liefert die Welt der Reichen und Schönen inklusive Intrigen und Happy End ins Wohnzimmer. Das Dschungelcamp langweilt mit C- und D-Promis und Ekelprüfungen. Historische Schinken in Schwarz-Weiß sollen Nostalgie-Bedürfnisse befriedigen. Talkshows diskutieren nach inszenierten Skripten. Nichts ist irrealer als das sogenannte Reality-TV, das Fälle von Familiendramen, Liebesproblemen, Krankheiten und ihre wundersame Heilung, Berichte von Restauranttestern, Auswanderern und Schuldenberatern als wahre Geschichten verkaufen. Die Liste wäre beliebig fortzusetzen. Kurz: Was von einem Fernsehabend bleibt, ist ein Haufen Müll, unter dem die eine oder andere sehenswerte Doku oder ein vergnüglicher Film verschüttgegangen ist. 

Dem Fern-Seher wird via Fernseher eine Scheinwelt präsentiert. Das wahre Leben spielt sich live ab. Also nichts wie aktiv werden und die Nähe zu realen Menschen suchen!

Zeha Schmidtke: Es kommt ein Wetter

Achtung, Achtung. Hier ist das Letzte Deutsche Fernsehen mit einer aktuellen Wetterwarnung.

In großen Regionen des sozialen Miteinanders kommt es in Bälde zu extremen Verwirbelungen und höchst ungemütlichen Turbulenzen. Besonders betroffen sind Menschen ohne Rettungsschirm und Systemrelevanz. Die Nichtoptimierten und Unverwertbaren. Ihr irrlichternde Geister, Ihr Schlendriane, Du spielender Mensch: Ihr müsst vermehrt mit Niederschlägen rechnen.

Denn, ja, Lockdown. Ja, Krise, Du weißt ja selber, was das heißt: Krise heißt immer Krisengewinnler. Ihre Karawane zieht weiter, es muss ja voran gehen. Nun sind sie schon so weit weg, die Gewinnler, dass sie unsere Rufe gar nicht mehr hören könnten, selbst wenn sie wollten.

Und zu den Verlorenen spricht die Stimme, die noch jede Krise schadlos übersteht: Die Stimme der Abwicklung und Verwaltung. „Jetzt erst mal keine Sperenzien mehr“, spricht sie, als ob ihre Sprechenden jemals auch nur eine Sperenzie selbst erdacht hätten. „Verrücktheiten schön und gut. Ich trage privat durchaus mal einen frechen Hut. Aber dann muss auch gut sein.“

Und nun verwaltet und wickelt sie ab, so die Agentur für Arbeit: Transitionskurse für alle freien Kunstschaffenden. Umschulungen. Oboisten zu Lageristen. Deine Poesie ist erfolglos? Der Lieferdienst mit den grellbunten Taschen ist es nicht. Denn merke: Der gestalterische Geist gilt uns in unseren schmalen Breitengraden als nettes Hobby. Mit Stolz hingegen erfüllt uns unser Billiglohnsektor. Warum stirbt die SPD…eigentlich so langsam? Zu Staub sollt Ihr werden, weil Ihr es Euch verdient habt. Aus Eurem Kadaver soll wahrhaft links ein neues Blümelein sprießen, und zur linken Volkspartei soll es erblühen, Hallojulia und Hosihanna. Und nicht Annalena, ihre Partei war auch dabei. Trau, schau wem.

Und besondere Obacht, spielender Mensch. Schutz vor dem rauen Winde findest Du nimmermehr, wie noch ehemals gedacht, auf den Inseln und in den stehenden Festen der Kunst und Kultur. Denn auch dort haben die Eingesessenen und Gutgeförderten die Wetterfähnchen nach dem Wind gerichtet und sich auf ihre Fahnen die Steuerbescheide der letzten Jahre geschrieben: „Bewertet unser Malen nach Zahlen. Wir sind doch auch systemrelevant.“ Wohl wissend, dass sie damit gleichermaßen zum Ausdruck bringen: „Es gibt also Menschen, die systemirrelevant sind, denn sonst müssten wir das ja nicht betonen.“

Nu, ja. Wenn ich dort einen Sitz besäße, würde ich mich womöglich auch so sehr an seine Lehne klammern. Gleichwohl: Wenn es uns zur Kultur geworden ist, dieRelevanz der Menschen in Ja und Nein zu scheiden, dann werden wir wohl erst einmal kulturlos leben müssen, um zur Kunst zurückzufinden. Oh ja, da zieht etwas auf.

Nun machte Kunst aber schon immer Arbeit, bevor sie schön wird. Und dies ist immerhin ein Klimawandel, auf dem wir Einfluß haben. Also, Ihr spielenden Menschen aller Couleur und jedweder Geschlechter! Du prachtvoller Homo Ludens dieser und jeder Welt! Ihr, meine Liebsten! Salben wir uns mit Zuversicht. Lasst uns zärtlich zueinander sein. Auf unser Wohl in großen Schlucken.

Der kommende Sturm geht gegen uns. Doch wie es immer und bei jedem Wetter ist: Es dauert nur ein Weilchen. Und am Ende noch des weltenzerbrechendsten Wolkenbruchs wartet ein Regenbogen. Wir werden sehen. Wenn wir uns vorher nicht vom Blitz erschlagen lassen.

Theobald Fuchs: Fernsehen

Der Mann, der uns den Fernseher installierte, tauchte an einem Donnerstagabend im Juni 1974 auf. Ohne Voranmeldung stand er in der Uniform des Fernsehministeriums vor der Tür. Wir wussten, dass Widerstand zwecklos war. Er ging, ohne Zeit mit Ritualen der Höflichkeit zu vergeuden, direkt ins Wohnzimmer und sagte, dass das Tischchen, auf dem meine Mutter vier oder fünf Steingutschüsseln mit Kakteen errichtet hatte, perfekt geeignet sei. Er stellte die Schüsseln auf den Boden und baute das Gerät auf.

Kraft seines Amtes ernannte er meine Oma zur Zuständigen für den Fernseher. Sie hatte das alleinige Recht, ihn ein- und auszuschalten und das Programm zu wählen. Es gab das erste Programm, das zweite, das allerdings nur schlecht zu empfangen war, und das dritte, das ab sechzehn Uhr Bildungssendungen ausstrahlte. Oma interessierte sich nicht für Tierfilme oder Berichte über moderne Methoden der Landwirtschaft. Sie lehnte auch ab, sich durch das Schneetreiben und Flimmern auf dem Bildschirm mit den Quizzen und Musikrevuen im ZDF abzuquälen, so dass der Drehknopf zur Wahl des Senders praktisch unberührt auf ARD stehenblieb. Zwanzig Stunden pro Woche müsse das Gerät laufen, erklärte der Techniker, sonst würden wir Schwierigkeiten mit der Behörde für Fernsehkonsum bekommen.

Meine Mutter achtete peinlich genau darauf, dass wir die vorgeschriebenen Soll-Stunden vor dem Fernseher verbrachten. Wir versuchten natürlich, uns irgendwie zu drücken. Doch so gerne wir unsere Hausaufgaben gemacht, unsere Zimmer aufgeräumt oder beim Abwasch geholfen hätten – Mutter kannte keine Gnade. Da half uns kein Bitten und Betteln. Unerbittlich wurde die Mattscheibe Punkt vier Uhr eingeschalten. Wir mussten Heidi, Wickie und die starken Männer und Bugs Bunny ansehen, bis uns schlecht wurde. Dick und Doof und die Schlümpfe waren noch halbwegs zu ertragen, aber als später auch noch endlose Folgen von Luis des Funes, Bud Spencer und Unsere kleine Farm das Pensum erweiterten, wurde es oft zur Qual, bis 10 Uhr Abends in die Röhre zu gucken.

Oma erwies sich als die Tapferste. Sie hatte Krieg und Wiederaufbau durchgestanden und währenddessen drei Kinder großgezogen, da würde sie wohl nicht an dieser Aufgabe scheitern. Mit eisernem Willen verfolgte sie Derrick und den Alten, die Quiz-Shows mit Rudi Carrell, Wim Thoelke und Hans Rosenthal, Klimbim mit Ingrid Steeger und die großen Shows mit Harald Juhnke und dem James Last Orchester. Wir bewunderten Oma für ihre Willensstärke und Ausdauer. Typisch Kriegsgeneration: sie hielt einfach alles aus. Bis ihr die Augen zu und die Stricknadeln aus der Hand fielen. Sie erwachte zur Nationalhymne um Mitternacht. Danach gab das Gerät nur noch Rauschen von sich, ein weiterer erfolgreicher Tag vor dem Fernseher war absolviert. Oma legte die Stricknadeln für den nächsten harten Fernsehtag griffbereit auf die Ablage unter dem Fernsehtisch, erhob sich mühsam aus dem Fernsehsessel und ging ins Bett. Am Morgen klagte sie regelmäßig, dass sie nicht schlafen gekonnt habe und schon um fünf Uhr wach gewesen sei. Da waren dann noch endlose sieben Stunden bis zum Mittagessen zu überbrücken und zwei weitere, bis sie ihren Posten vor der Glotze wieder besetzen konnte.

Als um 1980 herum alle Haushalte gesetzlich verpflichtet wurden, für störungsfreien Empfang aller Kanäle zu sorgen und mein Vater einen Fünfzehn-Meter-Masten auf dem Berg hinter dem Haus errichtete, erweiterte sich das Pflichtprogramm noch einmal gewaltig, doch Oma wuchs mit der Aufgabe über sich selbst hinaus.

Mutter achtete sehr darauf, dass wir die Regeln einhielten, weil sie wusste, welchen Ärger es der Familie bereiten würde, wenn wir bei den Behörden als Fernsehverweigerer gegolten hätten. Gerade mein Vater durfte sich als Beamter unter keinen Umständen gegen die Fernsehpflicht aussprechen, und wir Kinder wären von der Schule geflogen, wenn wir nicht die montäglichen Abfragen zum Inhalt des Programms der vergangenen Woche bestanden hätten.

Erst viele Jahre später wurde mir aber auch bewusst, dass meine Mutter eine Rebellin war, eine, die sich dem Druck der staatlichen Vorschriften nicht so einfach beugte. Sie war es, die jeden Abend bald nach den Nachrichten ausrief, dass sie diesen Schwachsinn nicht mehr ertragen können und sich in die Küche setzen würde, um ein Buch zu lesen. Heute bin ich stolz auf meine Mutter, damals allerdings schämte ich mich für sie, weil sie sich Didi Hallervorden, der Schwarzwaldklinik, der Lindenstraße, dem großen Preis und Wetten daß…? hartnäckig verweigerte. Was nur die Nachbarn über uns gedacht hätten, wenn es sich im Dorf herumgesprochen hätte, dass unsere Mutter nicht gern fernsah? Dass bei uns täglich das Gesetz gebrochen wurde, als lebten wir wie die Todfeinde im Ostblock, die das Fernsehen aus ideologischen Gründen ablehnten und erst gar keine Geräte produzierten? Nicht nur gesellschaftlich wären wir mit Sicherheit erledigt gewesen, auch die Justiz ging damals gegen Verweigerer mit voller Härte ins Gericht.

Doch dann, im Jahr 1998 bekamen wir den Brief von der Regierung, dass wir den Fernseher jetzt ausschalten durften, wann immer wir wollten. Die Fernsehpflicht war abgeschafft – wir waren frei! Noch heute erinnere ich mich an diesen Tag als einen der schönsten in meinem Leben. Ich glaube, ich habe meine Mutter nie glücklicher gesehen als damals, als wir alle zusammen das Fernsehgerät zur Schlucht am Ende des Tals schleppten und in die finstere Felsspalte hinabwarfen.

Zwei Wochen später erreichten die Bautrupps mit dem Glasfaserkabel das Dorf und ein Kommissar ging von Tür zu Tür, um jeder Familie unmissverständlich klar zu machen, wie lange wir alle täglich im Internet zu surfen hatten.

Lea Schlenker: Tagesschau bleibt statisch

Zwei blaue Augen  
klar wie Gletscherwasser 
ich habe schon Messerstiche gefühlt  
während ich auf deinen Ruf wartete 
Die Sonne ist kostenlos 
Die daraus resultierenden Geschehnisse  
eher kostspielig  

Ich möchte nachts draussen sein  
Treffe dort alle Barkeeper und Dealer und Geschöpfe der Nacht 
Und höre dein Rufen nicht mehr  
Wenn ich dich nicht vergessen möchte 
und das werde ich  
eher früher als später 
dann kratze ich jeden Morgen alle Erinnerungen an dich zusammen 
was ich trug was ich sagte was du wolltest was ich nicht habe 
und dass ich nie wieder die Bücher lese die du mir empfohlen hast 
während ich Koffein auf schlechtem Magen trinke 

ich sehe mich selber 
den ganzen Tag im Pyjama und ohne Schokolade zuhause 
schreibe in mein Motivationsschreiben 
dass mich die Menschenrechtssituation in China ankotzt 
Heute soll angeblich der heisseste Tag des Sommers sein 
Ich mache die Augen zu und wenn ich wieder wach werde 
Dann ist der Sommer verschwunden 
Frank Zappa macht niemandem mehr Angst 
Ich schreibe ein Gedicht 
während im Hintergrund der Fernseher läuft  

Ich wurde zwar einmal von einem Auto angefahren 
aber was ich so aus den Nachrichten mitbekomme 
ist schlimmer als alles was ich jemals erleben werde

Anselm Neft: Horrorfreitag

„Ghostland“ (2018): Interessant, dass Filme, die in meiner Jugend indiziert worden wären (die man sich also in türkischsprachigen Raubkopien auf VHS ansehen musste) heute ein FSK 16 erhalten können. Nach „Martyrs“ präsentiert Pascal Laugier mit „Ghostland“ also einen Film für die ganze Familie. Kotztüten und Telefonnummer einer Traumatherapeutin bereithalten.

„Hounds of Love“ (2016): Brettharter australischer Psychothriller über eine 17-Jährige, die von einem perversen Paar entführt und gefangengehalten wird. Die drei Hauptdarsteller spielen so gut, dass der Film auch abgestumpfte Naturen berühren dürfte.

„Mirrors“ (2008): Will man Kiefer Sutherland als traumatisierten Ex-Cop in einem riesigen ausgebrannten Kaufhaus mit Spiegeldämonen ringen sehen? Ich durchaus! Tendenziell ein stereotyper, aber sehr effektiver Film von Alexandre Aja.

„Next Door“ (2005): Dieser kostengünstige norwegische Film erfindet das Mindfuck-Psychothriller-Rad nicht neu, ist aber sehr atmospährisch und ein fieser Einblick in die ja generell unausgegorene männliche Psyche. Runde Sache für Hartgesottene.

„When Animals dream“ (2014): Ein Independent-Film aus Dänemark, der durch eine verträumt-melancholische Atmosphäre berückt und von den Wachstumsschmerzen einer jungen Frau erzählt, deren Mutter schon nicht mit dem Patriarchat klarkam. Sehenswert, und auch weniger horroraffinen Menschen zuzumuten.

„28 Tage später“ (2002): Auch wenn ich schlurfende Zombies besser finde als die rennende Fit-for-Fun-Variante: Das ist ein toller britischer Film, mit leichten Black-Mirror-Vibes, der die Endzeit erlebbar macht. Das entvölkerte London, das Darstellerensemble und das eigenwillige Finale haben mich begeistert.

„Evil Dead“ (2013): Mutiges Remake des Kultklassikers von 1981. Viel Blut, Terror und Gewalt. Kein Kindergeburtstag. Aber an die psychotische Wirkung des Originals mit seiner genialen Tonspur kommt die Neuverfilmung nicht heran. Dennoch fetzig, auch weil die Geschichte erweitert wurde.

„Nobody sleeps in the woods tonight“ (2020): Polnischer Wald-Monster-Slasher, der viel weniger stumpf ist, als das klingen mag. Eine Gruppe junger Menschen muss zum Digital Detox in die schöne Natur und trifft auf etwas Monströses. Spannung, Dramaturgie, Charakterzeichnung, Blut, Terror, Witz – kaum ein Horrorfan dürfte enttäuscht sein. Eine Fortsetzung ist geplant.

„So finster die Nacht“ (2008): Schwedische Mischung aus Sozialdrama, poetischem Coming-of-Age und lakonischer Blutrünstigkeit. Vor allem ist das ein gerade durch seine spröde Inszenierung wirklich berührender Film über jugendliche Einsamkeit, erste Liebe und Vampirismus. Auch das US-Remake dieses Anti-Bullerbü ist keineswegs übel.

„Der Babadook“ (2014): Eine alleinerziehende Mutter ist aus Gründen, die noch ans Licht kommen, in den Gefühlen zu ihrem sechsjährigen Sohn gespalten. Er ist hyperaktiv und hat soziale Schwierigkeiten. Und dann taucht auch noch eine Schreckgestalt aus einem Kinderbuch auf: der Babadook. Großartiger, formal origineller Film von Jennifer Kent, der wie alle guten Horrorfilme auf einem ganz realen Grauen basiert und dafür eine Ausdrucksform findet. Nach dem Film hatte ich mehr Verständnis für meine Mutter. Gönnt euch!

„The Endless“ (2017): Eigenwillige Mischung aus Mystery, Drama, Horror und SF (FSK 12), die mich durch die interessant-ambivalente Darstellung einer Sekte und die nachvollziehbare Geschichte zweier in unterschiedlichen Rollen gefangenen Brüder überzeugt hat. Der Schrecken ist in diesem Film unsichtbar und kosmisch. Angenehm abseits vom Mainstream und ambitioniert ohne prätentiös zu werden.

„It follows“ (2014): Glaubwürdige, natürlich aussehende Teenager in einem US-Film? Jawohl, und was für einem! Bilder von spröder Poesie, Synth-Musik wie aus 80er-Horrorfilmen und eine ungewöhnliche Geschichte, die nur auf den ersten Blick hanebüchen wirkt. Wer nachvollziehen will, wie sich (sexuelle) Gewalt auf die Weltwahrnehmung auswirken und wie sich posttraumatische Alarmbereitschaft anfühlen kann, MUSS diesen Paranoia-Kracher sehen. Hammer!

„Lights out“ (2016): Ein Horrorfilm wie ich ihn liebe! Seine primäre Motivation: Furcht erzeugen.

Christian Ihle: Twin Peaks

Douglastannen, Kirschkuchen, verdammt guter Kaffee und die schönste Wasserleiche der Weltgeschichte: Welcome To Twin Peaks, Einwohnerzahl: 51.204

Der 10. September 1991 ist ein historisches Datum in der deutschen Fernsehgeschichte: die Erstausstrahlung von Twin Peaks auf RTLplus. Nicht nur markiert Twin Peaks einen der ersten Gehversuche der herumflegelnden Privatsender in dem Reich des Seriösen, sondern auch den ersten Medienhype um eine noch nicht gestartete Serie, der sogar so weit ging, dass Sat1 via seines eigenen Videotextes den Mörder der Hauptfigur Laura Palmer veröffentlichte, RTL strengte dagegen in der Folge ein Gerichtsverfahren an, das SAT1 auch tatsächlich verlor. In den USA lief Twin Peaks bereits ein Jahr zuvor auf ABC und war zu Beginn ein phänomenaler Erfolg. Den Piloten sahen 34 Millionen Zuschauer, was die erfolgreichste Filmausstrahlung des Jahres in den Staaten war – als kleiner Vergleich: der Pilot von Akte X drei Jahre später hatte gerade einmal ein Drittel der Twin-Peaks-Einschaltquoten.           


Twin Peaks – Wie alles begann

Aus einer relativ normalen Krimi-Exposition bildet sich über 31 Episoden der von David Lynch erfundenen Serie eine immer seltsamer werdende Welt heraus, die bis zum heutigen Tag in Film & Fernsehen oft nachgeahmt, doch nie mehr in ihrer surrealen Güte erreicht wurde.

Laura Palmer, die Ballkönigin der amerikanischen Kleinstadt Twin Peaks, wird in einen Plastiksack gewickelt als Wasserleiche gefunden. FBI Agent Dale B. Cooper, der eine Vorliebe für Kirschkuchen und „verdammt guten Kaffee“ pflegt, wird hinzugezogen und fährt in das beschauliche, von Douglas-Tannen umrahmte Twin Peaks. Nach und nach werden die liebevoll-skurril gezeichneten Bewohner des Städtchens vorgestellt, deren Lebensgeschichten auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind.
Folge um Folge wird Beziehungsgeflecht um Liebesaffäre aufgedeckt während parallel – mehr gleichberechtigt, denn im Vordergrund stehend – das FBI seine Ermittlungsarbeit aufnimmt. Diese Art des Horizontalen Erzählens, also einer Geschichte über eine Staffel hinweg und nicht nur innerhalb einer Folge, hat Twin Peaks mehr oder weniger erfunden. Das heutige Fernsehen, insbesondere Netflix & Co, sind ohne horizontales Erzählen nicht denkbar.

Die Kleinstadt als Mikrokosmos der USA

Wir Zuschauer lernen gemeinsam mit Neuankömmling Dale B. Cooper die Wunderlichkeiten und Eigenheiten der Stadt und ihrer Bewohner kennen und tauchen Stunde um Stunde tiefer in den Kosmos Twin Peaks ein. Das wahrlich meisterhafte ist die Verquickung der verschiedensten Seriengenres zu einem großen Ganzen, das in sich stimmig, obwohl voll von Subversivität, Absurdem und Surrealem ist. „Das Geheimnis von Twin Peaks“ ist nicht nur who killed Laura Palmer? sondern auch, dass jeder Zuschauer „seine“ Serie daraus macht: es gibt die Thriller-Storyline wie die Daily Soap, Mystery- wie Coming-Of-Age-Handlungsstränge, absurde Komik, familiäre Tragik, Brutalität wie Liebe, Intrigen und Beschaulichkeit.
Der rote Faden der Serie ist natürlich die Suche nach dem Mörder von Laura Palmer und für die Antwort zieht Dale B. Cooper Zen-Techniken und Beschwörungen zu Rate, träumt von tanzenden Zwergen und glatzköpfigen Riesen, die entscheidende, aber absurd kryptische Hinweise geben.

Selbst als rational veranlagter Zuschauer lässt man sich auf die surreale Twin Peak Welt ein, weil die fest in der Kleinstadtrealität verankerten anderen Handlungsstränge dafür authentischer und ungeschönter wirken als es Fernsehen sich bis dato traute.

Die Visionen werden gegen Auflösung hin häufiger und insbesondere die Figur BOB, eine der furchteinflößendsten Gestalten, die das Fernsehen geschaffen hat, dringt immer weiter in das normale Kleinstadtleben ein, das von einem undefinierbar Bösen, das schon immer in den Wäldern um Twin Peaks gehaust haben soll, tiefer erschüttert ist als es die mühsam aufrecht erhaltene Fassade des Bürgertums zeigen mag.

Eine eigene Welt, eine eigene Zeit

Twin Peaks spielt dabei in einer eigenen Zeit. Die Kleinstadt und ihre Bewohner leben in einer Art 50er-Jahre-Welt, obwohl die Serie fraglos in der Gegenwart spielt. Dieser Kunstgriff David Lynchs unterstützt einerseits bereits das surreale Gefühl, das später durch die Plotentwicklung affirmiert wird und spielt andererseits auch auf der Storyebene eine Rolle. Die 50er Jahre repräsentieren die Zeit, in der noch alles gut war und doch ist all das nur Fassade. Das Böse und Schlechte, die Verderbtheit hat längst Einzug gehalten in Twin Peaks.

David Lynch hatte einige Jahre zuvor mit dem gefeierten Film „Blue Velvet“ eine ähnliche Thematik abgehandelt: den seedy Untergrund, auf dem die Bourgeoisie lebt und den sie verzweifelt versucht unter der Oberfläche zu halten.

Die in Twin Peaks behandelten Themen machen die Serie zu transgressiven Fernsehen, das Grenzüberschreitungen erzählt und bebildert, die bis 1990 kaum Gegenstand von TV-Serien waren – insbesondere was seine Hauptfiguren anbelangt: von Inzest zu Prostitution, von Drogenmissbrauch zu häuslicher Gewalt von seriellem Ehebruch bis zu sprechenden Holzscheiten.

Gut gegen Böse, Jung gegen Alt

Das Besondere an Twin Peaks ist aber das bereits angesprochene Nebeneinander der verschiedenen Serienformen. So wird Twin Peaks auch beim x-ten Durchlauf nicht langweilig, weil immer wieder ein anderer Handlungsstrang hervortritt, der wiederum der Serie eine andere Anmutung gibt. Der erste Durchlauf beschränkt sich normalerweise auf das Wahrnehmen der Thriller- und Mysteryebene, während bei späterem Anschauen der Serie der politische, gesellschaftskritische Subtext hervortritt oder das Coming-Of-Age-Drama der Jugendlichen von Twin Peaks in den Mittelpunkt rückt. Das Böse, das in Twin Peaks von den Schönsten und Besten der Heranwachsenden Besitz ergreift? Es steht für das Erwachsenwerden, das das einfache, vielleicht naive, aber immer gute Leben der Jugend vernichtet. Selten wurde der Generationenkonflikt mit so viel Wucht im Fernsehen ausgetragen.

Daphne Elfenbein: FERNSEHEN…

.. nein, nicht Medien, nicht Internet, sondern Fernsehen! 

Das ist das Gerät, das ich neulich im Ferien Appartement vorfand, das ich für meinen Urlaub gebucht hatte, nur 150 Meter bis zum Strand. Ich bin von Natur aus neugierig, drum habe ich abends, als ich sonnenverbrannt und erfrischt vom Strand zurückkam, doch mal diese Fernbedienung in die Hand genommen, mit der ich die Welt der Sendekanäle so wundervoll beherrschen kann. Obwohl ich zu Hause keinen Fernseher habe, ich will ja im Urlaub nichts verpassen. 

Auf dem Bildschirm erschienen ein Mann und eine Frau, jung, attraktiv, modisch gekleidet, eloquent, geschminkt, totale Gewinnertypen, sogar mit leicht anarchischen Merkmalen, wie z. B. der zum Zöpfchen geflochtene Bart beim Mann und die Tattoos bei der jungen Frau. Etwas steif und verkrampft saßen sie da und unterhielten sich ganz zivilisiert. Da die beiden nichts wirklich zu sagen hatten, zappte ich weiter. Ein Rettungssanitäter gab Auskunft zu mehreren umgekippten und ineinander verkeilten Lastwagen im Hintergrund. Man habe ein Bein amputieren müssen. Aha, denke ich und zappe weiter. So lange, bis ich wieder zu den beiden Herrschaften mit den Tattoos und dem Zöpfchen Bart komme. Wie aus dem 3D-Drucker sehen die aus. Doch was sie sagen, weckt noch immer nicht mein Interesse. Ich schalte die 35 Kanäle, die rund um die Uhr für mich da sind ab und öffne das WLAN auf meinem Smartphone…. Die Zugangsdaten hängen – für jeden Feriengast sichtbar – an der Wand. Doch auch hier fand ich heute nichts von Interesse.

Wenn ich also hier etwas über das Fernsehen sagen soll, muss ich von der Vergangenheit sprechen. Unser erstes Gerät war ein SABA Schauinsland T2000 color von 1967. Ich war sechs Jahre alt. Am Samstag nach dem Baden saßen 4 saubere Kinder, mit Grießbrei und Apfelmus abgefüttert, vor dem Fernseher zur Sendezeit von Daktari. Danach kreischten und hüpften wir wie Judy der Schimpanse, oder brüllten wie Clarence der Löwe. Später kamen andere Serien dazu. Bonanza, Tarzan, Raumschiff Enterprise. Nur Fußball und Nachrichten waren das Fernseh-Monopol des Vaters. Hier herrschten klare Verhältnisse. Drum gab es wegen des Fernsehens niemals Streit. 

Eine meiner lebhaftesten Kindheitserinnerungen war Karl-Heinz-Köpcke, der unseren Vater regelmäßig derart in Rage brachte, dass er aufsprang und tobte wie Rumpelstilzchen, weil Herr Köpcke seiner politischen Meinung widersprach. Als auch die Nachrichten zu einer kommerziellen Unterhaltungsware wurde, verlor Vater sein Interesse an Politik. Fortan schlief er bierselig vor der Flimmerkiste ein. Sein allabendliches Schnarchen und Grunzen, während bewegte Bilder vergeblich um seine Aufmerksamkeit buhlten, gehörte zu den friedvollen Momenten in unserem Familienleben. Manchmal schreckte er aus dem Schlaf hoch, wenn ein Schuss fiel oder eine Frau kreischte. Das weiße Rauschen nach Sendeschluss versetzte ihn in Tiefschlaf. Wenn der durchdringende Pfeifton das nächtliche Wohnzimmer zerriss, ging er zu Bett, wenn er es fand. 

Heute wird 24/7 gesendet Die guten Sachen nach Mitternacht, wenn ohnehin keiner mehr fernsieht, denn Vater verstarb noch bevor der Flachbildschirm erfunden wurde. Vielleicht das Beste für ihn. Denn während über den Röhrenbildschirm noch Inhalte mit gedanklicher Tiefe in die Wohnzimmer gelangten, war der Flachbildschirm eine folgerichtige technische Entwicklung. 

Ich verkaufte meinen letzten Röhrenfernseher 2004 für 5 Euro an einen Nachbarn. Bis dato hatte ich schwarz gesehen und dem GEZ Mann an der Haustür kaltblütig Lügen aufgetischt. Danach habe ich nie mehr ferngesehen. Paradoxerweise zahle ich seither aber diese Gebühren. Darüber könnte ich mich jetzt auslassen. Mach ich aber nicht. Das würde die Sendung sprengen und Prof. Eisenbart und Dr. Meisendraht zur Verzweiflung bringen. Die haben es eh schwer genug. 

Zurück zu meinem Urlaub. Ich habe für den Rest der Tage die Fernbedienung nicht mehr in die Hand genommen. WLAN habe ich auch nicht mehr genutzt. Das war kein Verzicht, sondern das natürliche Wegfallen von Überflüssigem, wenn man zu sich selbst kommt. 

Fernsehen erhielt dann seine ursprüngliche Bedeutung zurück. Ich sah in die Ferne. Zum Beispiel aus dem Fenster direkt in den Himmel, wo die Wolken sind und das Wetter gemacht wird, ohne die Vermittlung des Deutschen Wetterdienstes. Oder ich sah – auf der Bank am Meer sitzend – zum Horizont, dort wo Meer und Himmel zusammenstoßen, ein Ort, den man niemals erreicht. Nichts ist im Weg, nichts versperrt die Sicht, nichts beansprucht die Informationsverarbeitung in meinem Gehirn, sodass ich anfange wirklich zu sehen, den Wind im Gesicht zu spüren und den eigenen Atem, leicht und frei. Das ist nicht nur Fernsehen, liebe Leute, das ist Großes Kino…

Arabella Block: Fernsehen

ganz nah
vor dem fern seher sitzen
der gar nichts sieht

nur meinen blick einfängt
der in vergeblicher langeweile
den horizont fokussiert

wo keine beute sich zeigt
doch hier springt es und zuckt
und ich starre dankbar 

gedankenverloren
krallen eingezogen
blutgeschmack unter der zunge

satt und lasse mich treiben
lasse für mich sehen
und lasse mich leben

Harald Kappel: BlauWeißNahsehen

irgendwo am Meer
wo’s warm ist
Bewegungen der Körper
Lampe aus
Lampe an
zwei Farben begegnen sich
blaue Tablette im Magen flau
weiße im Glas 
zusammengefügtes Warten
auf nassem Laken
im Zimmer
ein stummer Fernseher
die Wände voller geheimer Gedanken
draußen die Volksmenge
tobt
ein strömendes Grau
in Erwartung des Augenblicks
im Zimmer
Schneefall in der Wüste
draußen lärmende Mehrheiten
Bewegungen des Hauptstroms
im Zimmer
ein stummer Schrei

Harald Kappel: SchwarzWeißFernsehen

inmitten der Arbeit der Nacht
bade ich im Schwarzen Gold
die rauchigen Schlote
werfen Ungemach auf Unterwäsche und Laken
dunkle Schwerkraft
durchdringt unsere private Stille
das Dich und Mich
Käfer fallen im Novemberdunst
in die Kälte des nebligen Wassers
das letzte Grubenpferd lahmt
auf dem Heimweg
die Augen gewöhnen sich
an seine Langeweile
mein Fernseher schreit
in den meisten Ohren wächst wildes Grün
ich will es nicht hören
verdammter Mond
halbfertige Novembernacht
in den Kanälen rauschen Worte
erwartet 
und blöd 
ein dünner Draht 
verbindet die Unterwelt
mit der katholischen Messe
in eigenen Binnenmeer
sprechen Fische
unerwartet
der Neubau der Sprache
hellt die seltsame Befindlichkeit auf 
und ich sehe
in der Arbeit der Nacht
ungestrichene Sinnlosigkeit
nur
wer hilft dem Grubenpferd
auf dem Heimweg
zu sich selbst?
Du?
Ich?
nicht