Jörg Hilse: Helmuth- Ein Bericht

Es gibt Tage, da glaubt man das Gott schläft, längst in Rente gegangen ist, oder man kommt wie ich zu dem Schluss, das er wohl gar nicht existiert. 

Während des zweiten Weltkriegs gab es in Deutschland einen Jugendlichen , dem sein Glaube  zum letzten Halt wurde . Trotz der Tatsache, dass ihn  seine eigene Gemeinschaft für das was er getan hatte hinauswarf. Aber er konnte eben nicht anders, als seinen Mitmenschen sagen, das dieser „ Führer“ Adolf Hitler und seine Paladine Verbrechen begingen. Angeklagt, mit zwei Freunden selbst verfasste Flugblätter gegen das Regime verbreitet zu haben, wartete er nun in der Haftanstalt Berlin Plötzensee auf die Vollstreckung seines Todesurteils. 

Der letzte von ihm erhaltener  Brief , ging an die Familie Sommerfeld aus seiner Hamburger Gemeinde. 

Früher, wenn an den Sonntagen die Kirchenglocken zum Gottesdienst riefen, traf Helmuth die Sommerfelds bei den Versammlungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage wie sich die Gemeinschaft der Mormonen bis heute offiziell nennt. Auch seine Freunde Rudi und Karl Heinz kamen jeden Sonntag her. 

 Ohne leiblichen Vater aufgewachsen, fühlte sich Helmuth hier wie in einer Art Familie. Doch eines Tages, so um das Jahr 1938 herum begannen sich die Dinge zu ändern. Gemeindepräsident Arthur Zander strebte  nicht nur danach ein treuer Diener Gottes zu sein. Als gutes NSDAP   Mitglied wollte er selbstverständlich auch alle Weisungen seines  „ Führers“ pflichttreu befolgen. Und so hing eines Tages an der Tür des Hamburger Gemeindehauses ein Schild. „ Juden ist der Zutritt strengstens verboten“. Fassungslos und mit Tränen in den Augen stand der junge Solomon Schwarz vor dem Eingang. Warum spielte plötzlich die Religion seiner Eltern  eine Rolle , das man ihn nicht mehr zu den Versammlungen seiner Gemeinde ließ. Helmuth sah es und  begann nachzudenken. Nachdem der Krieg ausgebrochen war brachte sein Bruder Gerhard aus Frankreich ein Radio mit. Eigentlich war das Ding kaputt. Aber Helmuth reparierte es und suchte neugierig nach anderen Sendern als den drei üblichen im Volksempfänger. Auf ein Mal, relativ schwach hörte man etwas. Bumm, Bumm, Bumm, Bumm, hier ist BBC London, wir bringen Nachrichten in deutscher Sprache. Im heimischen Volksempfänger wurde in jenen Tagen noch fleißig gesiegt. Doch hier hörten sich die Geschehnisse schon anders an. Und Helmuth rechnete. Deutschland konnte gar nicht siegen. Eine moderne Armee brauchte für ihre Panzer und Flugzeuge jede Menge Treibstoff. Und den  würde man nur bekommen, wenn man weitere  Länder überfiel und ausraubte. Er musste mit Rudi und Karl Heinz darüber reden. Irgendwas musste man doch tun können um die Menschen zum Nachdenken zu bringen. Ein paar Abende später hörten die Freunde spät abends BBC und verfassten dann auf der Gemeinde- Schreibmaschine ihr erstes Flugblatt. Rudi und Karl Heinz steckten die Durchschläge in Briefkästen in der Nähe. Nur Helmuth war etwas waghalsiger. Als Lehrling in der Hamburger Sozialbehörde, besaß er einen Dienststempel mit Adler und Hakenkreuz. Den drückte er aufs Flugblatt und hängte es in einen Schaukasten für öffentliche Bekanntmachungen. Im Allgemeinen waren sie aber sehr vorsichtig. „ Niemand kann sich heute vorstellen wie gefährlich es damals in Deutschland war“ sagte Karl Heinz, der letzte Überlebende der Gruppe, später in einem Interview. Helmuth verfasste weitere Flugblätter. Nachts zogen die Drei los und verteilten die Abzüge. Eine Zeitlang ging auch alles gut, obwohl man längst nach  ihnen suchte. Scheinbar so gut dass Helmuth einmal Sonntags Karl Heinz zurief: „ Na, haben Sie Dich noch nicht verhaftet?“ Doch dann , Helmuth wollte eins seiner Flugblätter von jemandem ins Französische übersetzen lassen, flogen Sie auf. Die Gestapo holte ihn ab. Auch Rudi und Karl Heinz wurden kurz darauf verhaftet. Gemeindepräsident Arthur Zander muss entsetzt gewesen sein, das sich inmitten seiner Schafe ein solch vaterlandsloses Geschöpf befand. Erleichtert stellte er dann fest das im 12. Glaubensartikel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage der Satz stand: „ Wir glauben, das es recht ist Königen, Präsidenten und Obrigkeiten zu gehorchen.“ Auch am Hauptsitz der Gemeinschaft im amerikanischen Salt Lake City hielt und hält man bis heute, dies  für ein unabänderliches von Gott offenbartes Prinzip. Obwohl die Welt gerade zu spüren bekam , das  Deutschlands Obrigkeit aus Massenmördern  bestand.  Arthur Zanders Antrag den Bruder  Helmuth Hübener wegen des Verstoßes gegen den 12. Glaubensartikel zu exkommunizieren wurde  angenommen und der Ausschluss bestätigt. Man weiß nicht mehr ob Helmuth während der Haft davon erfahren hat. Er selbst schrieb in seinem letzten Brief an die Sommerfelds: „ Ich weiß das Gott lebt. Er wird der gerechte Richter in dieser Sache sein.“ 

Am 27. Oktober 1942, kurz nach 20 Uhr starb der 17 jährige Helmuth Hübener unter dem Fallbeil der Nazis. Stets um eine weiße Weste bemüht hob  man Helmuths Exkommunikation erst nach 1945 in Salt Lake City wieder auf. Innerhalb seiner Gemeinschaft ist er heute vergessen. Aber eine Straße und eine Schule in Hamburg sind nach ihm benannt.

Marlene Steidele: Gött*innen

Wünscht es gäbe Gött*innen
Doch einen Gott wie euren brauch ich nicht
Will ich nicht
Der queere Menschen ablehnt
Der Femizide zulässt
Der schweigt
Trotz Hass und Leid
Rassismus, Kapitalismus
Sexismus und Ableismus
Krieg und soziale Ungleichheit
Gott schweigt
Wünscht es gäbe Gött*innen
Einfühlsam und Gerecht
Voll liebe und Gütigkeit
Die durchs Weltall schweben
Und uns beschützen
Doch einen Gott wie euren brauch ich nicht
Will ich nicht
Der Hexen verbrennen lässt
Menschen erzrinken lässt
Gott schweigt
Stille
Bis in alle Ewigkeit
Ich habe meine Gött*innen bei mir Meine Freund*innen
Und wir kämpfen zusammen
Und wir schweigen nicht

Miriam Gil: Über die Austritte aus der katholischen Kirche

Das Fräulein Mandala und Herr Reinhardt sitzen im Cafe`mit Blick auf den Hauptbahnhof.

Turbulentes Treiben am Bahnhofsplatz. Menschenmassen durchqueren die lange Halle auf dem Weg zu den schnaubenden Zügen und Grüppchen von Pfandsammlern schleichen um die Mülleimer, aus denen leere Gebäcktüten quillen. Manche von Ihnen haben Taschenlampen dabei und Baumwollhandschuhe an, wenn Sie nach Dosen oder Flaschen suchen. Sicher landet die ein oder andere Bierflasche in den Tonnen doch ist der Andrang schlicht zu groß um am großen Bahnhof noch richtig Geld zu machen.

Geht der Eine kommt der Andere ein – normaler Passant kann die Uhr danach stellen.

Herr Reinhardt und das Fräulein Mandala sitzen in ihrem Lieblingscafe` am hinteren Rande der Wartehalle auf einer Empore mit Blick auf die ankommenden und abfahrenden Züge.

Vor Ihnen zwei Gläser Pastis und ein Aschenbecher auf der Mitte des Tisches der mit einem Tischtuch aus rot-weißen Karos bedeckt ist und auf dessen Mitte eine beige Kerze steht.

Das Wachs der Kerze ist an einigen Stellen auf das Tischtuch getropft und Herr Reinhardt zündet sich eine Zigarre an, bevor er einen kleinen Schluck der milchigen Flüssigkeit seine Kehle hinabstürzen lässt.

Er nimmt die Tageszeitung in die Hände und zitiert während er immer wieder auf die Reaktionen des Fräuleins achtet:

„Immer mehr Menschen treten aus der katholischen Kirche aus. Im letzten Jahr sind so viele Menschen ausgetreten wie noch nie zuvor. Die Deutsche Bischofs-Konferenz sagt: Es sind rund 523.000 Menschen ausgetreten, im Jahr 2021 waren es rund 359.000.

Mein wertes Fräulein hätten Sie`s gedacht?“

„Das sind viele Leute.“ Setzt das Fräulein an und fährt fort: „Ein Austritt gilt als Kündigung der Mindestloyalität. Andererseits muss man keine Kirchensteuer mehr zahlen ist man aus der Kirche ausgetreten. Wie verhält es sich bei den Evangelen?“

Herr Reinhardt blickt eine halbe Minute in die Zeitung, dann seufzt er und sagt:

„Auch viele.

Mindestloyalität was soll das schon anderes sein als das Geld, welches man an die Kirche bezahlt?

Kirchenrechtler sprechen davon, dass Deutschland sich stark verändern wird, dass beispielsweise kirchlich geführte Kindergärten verschwinden werden.

Was meinen Sie? Was sind die Gründe für die Austritte von über einer halben Millionen Menschen?“

Das Fräulein zuckt mit den Schultern.

Dann nippt es ebenfalls am Pastis und antwortet:

„Ich war nie gläubig. Religion erschien mir immer als überdimensionales Angstgebäude, dass beispielsweise einem in mittelelterlichen Verhältnissen lebenden Bauern die Missernte erklärte. Im Rahmen der Religion und im Namen Gottes geschieht so viel Leid, nein das war nie was für mich. Und erst der Umgang mit Schutzbefohlenen. Ich denke die Missbrauchsskandale und die Tatsache, dass die modernen Gesellschaften von moderner Technologie nur so strotzen widersprechen den Gläubigen an den alten Strukturen festzuhalten. In Zeiten der Inflation will man sein Geld zusammenhalten und keinen Verbrechern zuschustern.“

„Ich war auch nie sonderlich gläubig.“

Erwidert Herr Reinhardt und fährt fort:

„Moralisches und Ethisches Engagement wie beispielsweise das Kirchenasyl, -war nie anerkanntes gesetzliches Mittel. Es gab den Geflüchteten nur ab und an mehr Zeit um alle Mittel auszuschöpfen doch noch in Deutschland bleiben zu können und nicht in unzumutbare Zustände zurück abgeschoben zu werden. Ich las jüngst in einer anderen Zeitung, dass diese Hintertür der Menschlichkeit nun auch geschlossen werden soll ganz heimlich, still und leise. Fräulein glauben Sie denn an einen Gott unabhängig von kirchlicher Tradition?“

„Aber Herr Reinhardt was soll dieser Unfug?“

erwidert das Fräulein Mandala und schnaubt.

„Ich möchte wissen wovon ich spreche und mag wissen woher all das Elend rührt!

Glauben Sie denn noch oder denken Sie schon?“

Herr Reinhardt lacht.

„Ach, wertes Fräulein Mandala ich glaube an Menschen. Es waren immer ganz irdische Gestalten auf diesen Erden die mir halfen war ich in Not oder brauchte Beistand. Manchmal aber wenn ich den Sternenhimmel weit weg von der Lichtverschmutzung der Stadt erblicke dann überwältigt mich dies so dermaßen, dass ich meine mit dem All zu verschmelzen so schön ist das. “

„Ja. So schön ist das.“

Sagt das Fräulein und dann lachen beide.

ChatGPT feat. Ned F. McCowski – Feuerzangenbowle und Gott​

Gott sah zu, wie der junge Mann besoffen auf dem Weihnachtsmarkt herumtorkelte und immer mehr Feuerzangenbowle trank. Er schüttelte den Kopf über die Dummheit des Menschen, der sich selbst so viel Schaden zufügen konnte. Aber er schenkte ihm trotzdem seine unendliche Liebe und Hoffnung.

Als der junge Mann schließlich zum Callcenter ging, konnte Gott seinen Willen nicht ändern. Er sah zu, wie der Mann versuchte, einen Job zu bekommen, und er wusste, dass der Mann nicht die Stärke hatte, um erfolgreich zu sein. Aber er gab ihm trotzdem seine unendliche Liebe und Hoffnung.

Als der Mann endlich seine Chance bekam und seine erste Umfrage durchführte, beobachtete Gott das Gespräch. Er sah zu, wie der Mann versuchte, freundlich und höflich zu sein, und er wusste, dass er sein Bestes gab. Aber er wusste auch, dass der Mann nicht für diesen Job geeignet war.

Gott war traurig, als der Mann seinen Job nicht bekam, aber er wusste, dass dies nicht das Ende war. Er hatte noch viele Möglichkeiten und Wege für den Mann, um sein wahres Potenzial zu entfalten. Er würde immer für ihn da sein und ihm seine unendliche Liebe und Hoffnung schenken.

Vielleicht würde der Mann irgendwann in seinem Leben noch einmal Feuerzangenbowle trinken, aber er würde es mit größerer Vorsicht tun. Vielleicht würde er auch noch viele Fehler machen, aber er würde auch viele Chancen bekommen, um daraus zu lernen. Gott würde immer an seiner Seite sein, um ihn zu führen und zu unterstützen, denn er liebte ihn trotz all seiner Fehler und Schwächen.

Frédéric Schwilden: Gott

Das Erste, was irgendeinem Halbgebildeten wie mir zu Gott einfällt, ist natürlich Nietzsche. Aber Nietzsche muss man ignorieren. Ich habe mal, als ich wieder Herzprobleme hatte, im Bett liegend innerhalb einer Woche Nietzsches Gesamtwerk gelesen. Ich fand es amüsant. Aber es las sich so, als ob ein Typ auf Crystal Meth, der all sein Wissen aus Youtube-Videos hat, deepen shit schreiben wollte. 

Nietzsche hatte Syphilis, psychische und andere Krankheiten. Da ist so viel Wut in seinen Texten. Und so wenig Liebe. So viel Wahnsinn. Aber eben kein guter Wahnsinn. 

Wahrscheinlich hinderten ihn seine Krankheiten daran, zusammenhängende und sinnvolle Texte zu schreiben.  Das sage ich als jemand, der auch psychische und andere Krankheiten hat. Allein heute Morgen habe ich sieben Tabletten geschluckt. Ich habe allen Grund, wütend zu sein. Aber ich versuche, nur aus Liebe zu schreiben. Wut ist immer falsch beim Schreiben. Wer aus Wut oder Kränkung handelt oder schreibt, endet als Diktator. Deswegen glaube ich, dass wir Nietzsches „Gott ist todt“ ignorieren müssen. Ich halte die Aussage sogar für komplett falsch. Gott lebt.

Dass Menschen aus den Kirchen austreten, ist eine banale Tatsache. Im Jahr 2022 verließen in Deutschland 380.000 Menschen die evangelische und 522.821 Menschen die katholische Kirche. Das heißt aber nicht, dass die Menschen sich nicht mehr für Gott interessieren. Gott ist nicht mehr in der Kirche. Gott ist im Bitcoin-Wallet, im Fitness-Studio, bei der Fridays-For-Future-Gruppe. Gott ist auf dem CSD, Gott fährt Tesla, Gott isst vegetarische Mühlen-Würstchen oder Nackensteak.  Gott geht zum Drug-Checking und ist, wie ich auf dem evangelischen Katholikentag lernte, auch queer.  Das hat ein Pfarrer dort in Nürnberg in der Nähe des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes im Kongresszentrum gesagt. Ich war auch da. Und die üblichen Spießer haben sich natürlich über alles aufgeregt. Über das vegetarische Essen da. Das übrigens fantastisch war. Oder eben über den Pfarrer Quinton Ceasar, der sagte: „Gott ist queer“.

Aber wenn man die Bibel ernst nimmt, und das muss man ja, wenn man über Gott redet, dann liegt nichts näher, als anzunehmen, dass Gott queer ist. „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“, heißt es im ersten Buch Mose. Und wenn es auch nur einen einzigen queeren Menschen auf der Welt gibt, dann muss Gott queer sein. 

Es gibt ja sogar mittlerweile einen Queer-Beauftragten der Bundesregierung. Also ist Gott auf jeden Fall queer. Und natürlich auch Alkoholiker. Gott ist auch Kokainist. Und Investment-Broker. Und sehr wahrscheinlich auch AfD-Wähler und Wurstfachverkäuferin. Was ich sagen will, Gott ist die Magie, die die Unergründbarkeit des Menschen geschaffen hat. Gott ist der Wahnsinn, der die Möglichkeit von Schönheit und Verderben zulässt. Weil die Möglichkeit, die einzige Realität ist. Alles andere ist nichtexistent. Nur die Möglichkeit ist real. 

In Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ ist die Antwort auf alle Fragen: 42. Und dieser literarische Kunstgriff ist genial. Denn natürlich ist diese Antwort Schwachsinn. Aber Schwachsinn ist die einzig mögliche Antwort. Es gibt keine Antwort auf die letzte Frage. Zumindest keine von Menschen denkbare. 

Ich verstehe, wie die Zeugung meiner Kinder funktioniert hat. Ich verstehe, warum ich auf der Welt bin. Ich verstehe, warum meine Eltern auf der Welt sind. Zwei Menschen, Samen, Eizelle – fertig. Und das kann man tausende von Generationen zurückrechnen. Aber woher kommen die ersten Menschen? Woher kommt das Leben? Woher kommt die Welt? 

Selbst, wenn man an so einen Unfug wie den Urknall glaubt, gibt es keine Antwort. Viele denken ja, dass der Urknall der Anfang der Entstehung unserer Welt oder unseres Sonnensystems ist. Aber tatsächlich entstehen im Urknall nicht nur unsere Planeten. Der Urknall ist der Beginn von Materie, Raum und Zeit. Und da setzt mein Vorstellungsvermögen aus. Wenn der Urknall der Moment ist, in dem die Zeit entstanden ist, was war denn vorher? Beziehungsweise ist diese Frage ja schon Quatsch. Denn ohne Zeit gibt es kein Vorher. Aber irgendwas muss ja vor dem Urknall gewesen sein.  Und da bin ich dann in der Endlosschleife meines beschränkten Denkens gefangen, die zu nichts führt.

Mein Vater war Wissenschaftler. Professor, Doktor, Doktor. Experimentelle Physik und Medizin. Ich bilde mir nichts darauf ein. Ich bin Bildungsabsteiger. Ich bin der erste in der Familie, der nicht studiert hat.  Ich bin der Junkie. Der Versager. Aber eine Sache habe ich von meinem Vater gelernt. Zumindest bilde ich mir das ein. Das war so ein Abend. Vielleicht war ich 18. Mein Vater hat gedacht, wir trinken jetzt Cognac zusammen. Am Ende war die Flasche leer. Das ist nicht wichtig. Wichtig war dieser eine Satz von ihm. Irgendwann meinte er: „Egal, wie viel wir herausfinden, irgendwann kommt der Punkt, wo es nur noch Gott gibt.“ Damals habe ich das nicht verstanden. Aber es stimmt.

Wir Menschen haben Teile Atome genannt. In der Wortbedeutung sind das: unteilbare Teilchen. Aber Atome sind teilbar, sagt die Physik.  Sie bestehen aus Elementarteilchen. Nebenbei: „Elementarteilchen“ ist einer der größten Romane der Welt. Was ich sagen will: Wir glauben, alles zu wissen und bennen zu können, und  dann ist es doch ganz anders. Das war mit dem geozentrischen Weltbild so,  es wird mit unser kompletten Gegenwart so sein. Wenn heute „die Wissenschaft“ irgendwas sagt, wird es in 150 Jahren absoluter Quatsch sein.. Heute verstehe ich das. Je mehr wir herausfinden und meinen, zu wissen, desto mehr Fragen poppen auf, die wir nicht mehr anders beantworten können als mit: Gott.

Was also war vor dem Urknall? Vor dem Raum? Vor der Materie? Vor der Zeit? Die einzig vernünftige Antwort ist: Gott.  Ich weiß bis heute nicht, was Gott ist. Schöpfer ist ja auch so ein Menschen-Wort. Ein Zustand? Klingt nach Richard David Precht. Gott ist unser innerstes ich, glaube ich. Der Ursprung von allem.

Wir Menschen wollen das Klima retten, Krankheiten besiegen. Wir Menschen konstruieren künstliche Intelligenz. Wir Menschen sind Gottes Versuch, selbst Gott zu sein. Darin können wir nur scheitern.

„If man is five then the devil is six […] and if the devil is six then God is seven“, heißt es bei den Pixies. Und das ist die größtmögliche Näherung an die Frage, was Gott eigentlich ist.

Christian Knieps: Der Mann mit der Lampe

Ein-Mann-Eine-Szene-Ein-Kurzstück.

Personen

Der Mann mit der Lampe.
Der Anrufer (nur als Stimme).

Set

Neben einem Lesesessel steht eine Lampe. Eine mit einem großen Stoff-Schirm, wie sie in den Siebzigern modern waren. Nicht zu bunt, aber auch nicht zu altbacken. Der Lampenständer sollte aus einem glänzenden Material sein, z.B. Messing. Auf der anderen Seite des Lesesessels steht ein Beistelltischchen, auf dem mehrere Bücher und ein Handy liegen.

Szene

Ein Mann sitzt in dem Lesesessel und liest ein Buch. Er ist auf einer der letzten Seiten. Neben ihm brennt die Lampe und bietet genügend Licht, um gut lesen zu können. Der Mann blättert eine Seite nach der anderen um, liest. Zwischendurch lächelt er an einer Stelle, dann wieder legt er seine Stirn in Runzeln. Am Ende des Textes hält er kurz ein und starrt auf die letzte Seite, dann klappt er das Buch zu, fährt mit der flachen Hand über das Cover, nimmt es hoch, schaut wie gebannt auf den Umschlag und küsst das Buch sanft und innig. Dann schließt er die Augen, führt das Buch an seine Brust, hält es wie eine überaus wichtige Sache fest umschlungen.
Mann indem er mit geschlossenen Augen spricht; ruhig:
Wie schön wäre es nur, solch ein erfülltes Leben zu führen! Unfassbar! Einfach unfassbar! Diese Liebe! Diese tiefempfundene Liebe! Dieses Vertrauen! Dieses unendliche Vertrauen! Warum kann es eine solche Liebe, ein solches Vertrauen, ein solches Leben nicht in Wirklichkeit geben? Warum müssen wir uns damit abfinden, dass es niemals so sein wird wie im Roman? Warum kann die Welt nicht so sein, dass wir uns gegenseitig respektieren, lieben, verstehen, achten…
Das Handy klingelt; der Mann ist im ersten Moment erschrocken, legt dann aber das Buch auf seinen Schoß, nimmt das Handy, drückt eine Taste und hält es an sein Ohr.
Mann indem er recht unsicher spricht:
Hallo?!
Anrufer dessen Stimme aus dem Hintergrund gut zu hören ist:
Nun ja! Ähm! Hallo!?
Mann verwirrt:
Hallo?!
Anrufer seinerseits verwirrt:
Ja! Ähm! Hallo?! Ist da wer? Der Mann zögert kurz, dann schaut er auf sein Handydisplay. Habe ich irgendwen in der Leitung? Hallo?!
Der Mann im Lesesessel legt auf und sein Handy auf den Beistelltisch.
Mann:
War wohl ein Verwirrter! Oder einer, der sich verwählt hat! Mich ruft doch sonst keiner an! Schüttelt den Kopf und findet das Buch auf seinem Schoß, nimmt es auf und betrachtet das Cover, als das Handy erneut klingelt. Was soll das?! Indem er sein Handy aufnimmt und erneut auf die Annahme-Taste drückt. Was wollen Sie?
Anrufer:
Nun ja! Eigentlich mit Ihnen sprechen, aber…
Mann:
Aber was?
Anrufer:
Sie scheinen nicht in der Stimmung zu sein, um mit mir zu sprechen.
Mann:
Das hat nichts mit meiner Stimmung zu tun!
Anrufer:
Nicht? Womit dann? Es kommt keine Antwort. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie…
Mann:
Wer zum Geier sind Sie eigentlich?
Anrufer:
Habe ich mich nicht vorgestellt? Ach du meine Güte! Klar, dass Sie sich nicht wohl fühlen, wenn ich… Aber ja, klar, ich kann mich Ihnen vorstellen. Also, nun ja, ich bin… na ja, ich denke, Sie würden Gott zu mir sagen! Der Mann zögert und ist wie versteinert. Hallo?! Noch in der Leitung? Ein wenig schreiend. Hallo?!
Anstatt zu antworten, nimmt der Mann das Handy vom Ohr und legt auf.
Mann sein Handy weglegend:
Was für ein Spinner! Erst will er mir nicht verraten, wer er ist und dann das! Ich… Das Handy klingelt erneut. Nicht schon wieder! Soll es doch klingeln. Das Handy klingelt mehrfach, doch der Mann reagiert nicht. Er sitzt im Lesesessel und starrt vor sich hin; ist beinahe regungslos. Das Handy klingelt immer weiter, sodass er irgendwann nervös wird, aggressiv sein Telefon ergreift und auf die Annahmetaste drückt. Was?!
Anrufer:
Auch wenn Sie aufgelegt und mich einen Spinner genannt haben, möchte ich dennoch mit Ihnen…
Mann:
Woher wissen Sie, dass ich Sie einen Spinner genannt habe?
Anrufer:
Vielleicht, weil ich Gott bin und alles weiß! Ich weiß auch, dass Sie immer noch nicht daran glauben, dass ich Gott bin!
Mann:
Wie sollte ich auch! Immerhin…
Anrufer:
Immerhin muss man an mich glauben, was vielen nicht mehr so leicht fällt, nicht wahr?
Mann:
Irgendwie so was! Ich kann mir aber immer noch nicht vorstellen, dass Sie Gott sein sollen! Ich meine, warum rufen Sie mich an? Warum schlüpfen Sie nicht in irgendeinen Körper, kommen vorbei und reden mit mir? Oder zünden sich an und kommen als brennender Dornenbusch…
Anrufer:
Sie meinen, ich soll mich so verhalten wie in den Geschichten der Menschen, an die so viele glauben? Würde Ihnen das vielleicht helfen?
Mann mit einem Mal unsicher wirkend:
Nun ja, ich denke schon.
Anrufer:
Schauen Sie zu ihrer Lampe! Indem der Mann tatsächlich seinen Kopf zur Lampe dreht, geht diese aus und wieder an. Nun, sind Sie jetzt überzeugt.
Mann:
Nicht wirklich. Ich meine, das kann auch ein billiger Trick sein, den Sie irgendwie über den Strom steuern und irgendwie so…
Anrufer:
Glauben Sie das wirklich? Sie wollen mir also sagen, dass Sie eher daran glauben, dass ich die Stromverbindung an einer Ihrer Steckdosen manipulieren kann, als dass Sie daran glauben, dass ich das bin, was Sie Gott nennen?
Mann:
Ist das eine rhetorische Frage?
Anrufer:
Glauben Sie? Beide schweigen für einen Moment. Ich könnte auch den Lampenschirm wackeln lassen. Der Lampenschirm wackelt. Oder das Licht flackern lassen. Das Licht flackert. Oder wenn Sie es verlangen, kann ich sogar die Lampe etwas singen lassen. Die Lampe bewegt sich, das Licht verändert sich und aus dem Hintergrund ertönt »I’ve Got You Under My Skin« von Frank Sinatra. Der Mann betrachtet das ganze staunend. Als die Musik endet. Glauben Sie mir jetzt?
Mann:
Ich soll Ihnen glauben, dass Sie der Gott in der Lampe sind?
Anrufer:
Von mir aus auch das! Nennen Sie mich den Gott in der Lampe! Wenn Sie damit an mich glauben!
Mann stotternd, unsicher:
Ich… Ich weiß nicht… Was wollen Sie? … Ich meine, was… Was ist der Grund… Ihres Anrufes? Ich bin doch nur ein kleines Licht! Selbst… Selbst der Schein… Der Schein dieser Lampe ist größer als mein Licht!
Anrufer:
Ich habe Sie eben beim Lesen Ihres Buches beobachtet und dachte mir, dass Sie wahrscheinlich der Richtige sind!
Mann:
Der Richtige wofür?
Anrufer:
Um wieder Liebe, Wärme, Vertrauen, Respekt und all das unter die Menschen zu bringen! Langes Schweigen. Hallo?! Sind Sie noch in der Leitung.
Mann kaum ein Wort hervorbringend:
Ja! Ich… Aber…
Anrufer:
Ich kann verstehen, dass das jetzt alles etwas zu viel für den Moment ist. Auch die anderen Propheten haben…
Mann fassungslos:
Sie wollen aus mir einen Propheten machen? Ich soll…
Anrufer:
Keine Angst. Das passiert nicht von heute auf morgen. Wir bauen das langsam auf, beginnen mit einfachen Aufgaben, ehe Sie…
Mann plötzlich aggressiv, aufstehend:
Was wollen Sie eigentlich? Wer sind Sie? Sie sind nicht Gott! Sondern irgendwer von irgendeiner Sekte, die Kontrolle über mein Stromnetz und meine Lampe… dreht sich zur Lampe Und lassen Sie meine Lampe in Ruhe! Schmeißt sein Handy auf den Lesestuhl, fasst die Lampe am Schirm, schüttelt diese. Raus aus meiner Lampe! Raus aus meinem Haus! Raus aus meiner Steckdose! So laut wie nur möglich brüllend. Einfach raus hier!
Anrufer:
Ist ja schon gut! Ich wollte doch nur…
Mann schreiend:
Raus! Sofort!
Anrufer:
Da will man den Menschen was Gutes tun und Sie zur Liebe unter den Menschen zurückführen – und was bekommt man? Unfassbar diese…
Mann schreiend:
Raus! Verlassen Sie sofort mein Haus! Sucht das Handy, stürzt sich fast auf den Lesesessel und legt auf. Ist das denn zu fassen? Was es da draußen für Irre geben muss. Hält sich die Hand vor den Mund. Ich muss aufpassen, denn nicht nur das Stromnetz scheint manipuliert worden zu sein. Auch muss es hier überall Wanzen geben. Untersucht zunächst den Tisch, dann den Lesesessel, ehe er zu der Lampe übergeht, unter dessen Schirm er sogar seinen Kopf steckt. Wo sich diese Wanzen nur verstecken? Erneut flackert das Licht und der Mann zuckt aus dem Schirm zurück. Schreiend. Das ist nicht witzig! Das ist gar nicht witzig! Aufhören! Sofort aufhören! Geht zum Schalter und schaltet die Lampe aus, doch gleich darauf schaltet sich die Lampe wieder ein. Der Mann schaltet sie noch mehrfach aus, doch jedes Mal geht die Lampe wieder an. Na warte, dir werde ich es zeigen! Indem er den Stecker zieht und beginnen will, die Glühbirne aus der Lampe zu drehen, geht die Lampe erneut an. Wundernd. Wie ist das nur möglich?
Anrufer aus dem Hintergrund; mit wohlwollender Stimme:
Ganz einfach! Weil ich dein Gott bin und nicht nur in deiner Lampe wohne! Willst du jetzt an mich glauben?
Mann für einen Moment geschockt, dann sieht er sich wie ein gehetztes Tier nach allen Seiten um und rennt aus dem Raum; dabei:
Hilfe! Hilfe! Irgendwer verfolgt mich! Hilfe!
Ab.
Anrufer aus dem Hintergrund; aufseufzend:
Noch vor wenigen Jahren wären die Menschen in Ehrfurcht erstarrt, wenn ich das mit der Lampe gemacht hätte! Wie viele haben sich vor den Ständer gekniet und den Lampenschirm als ihren Gott angebetet? Und heute? Selbst das größte Wunder bedeutet für die Menschen kaum mehr als dass sie dahinter einen Trick vermuten! Leiser, fast schon resignierend. Schöne neue Welt, in der das Wunder der Lampe kaum mehr ist als ein Trick! Leiser. Fade out. Nicht mal in einer Lampe ist Platz für mich. Ganz leise. Schöne, neue Welt, in der ich keinen Platz mehr im Leben der Menschen finde.
Alle ab.