Mama hatte viele Jahre lang einen Schrebergarten, den sie sehr liebte. Er war ihr Paradies: Sie verbrachte soviel Zeit wie möglich dort. Er war vielen der anderen kleinbürgerlichen, pingelig veranlagten Schrebergärtnern ein Dorn im Auge, da Mama die Bepflanzungen nicht ordentlich in Reih und Glied vornahm, sondern Blumen, Kräuter und Gemüse -zwar sorgsam gehegt und gepflegt -aber dennoch recht frei und wild durcheinander und miteinander wachsen ließ. Einige der besonders vorschriftsstrengen Gartennachbarn beschwerten sich darüber und machten Mama bisweilen das Leben zu Hölle, so dass sie sich irgendwann sogar Hilfe von einem befreundeten Anwalt, Herr Dorn, nehmen musste – von da an war Ruhe. Viele waren aber auch beeindruckt und begeistert von dem wildwuchernden, verwunschenen Fleckchen Erde, das sich Mama im Laufe der Jahre herangezogen hatte:
Im vorderen Bereich gab es einen roten Ahorn, den sie besonders mochte, daneben einen kleinen, umwachsenen Teich. Ein großer, wunderschöner, knorriger Haselbaum, Akeleien, wilden Wein, ein Quittenbaum, Beerenbüsche, Oregano, Salbei, ein Feigenbaum, Kohl, Löwenzahn, Minze, Petersilie, Rosen, Bohnen, Narzissen, Tulpen und noch viel mehr – nicht zu vergessen ihr ganzer Stolz: Die Kürbisse.
Direkt außerhalb, neben dem Garten floß der Lochbach. Das Gartenhäuschen war blau – und Mamili hatte große, gelbe Bienen auf seine Fassade gemalt. Vorne am Häuschen hing ein Vogelkasten, in dem jedes Jahr mehrmals Stare brüteten, hin- und her flatterten, piepsten, riefen und einen riesigen Aufruhr um ihre Brut veranstalteten.
Wenn Mama im Sperrmüll oder Flomarkt weggeworfene Plastik- oder Porzellantiere fand, oder wenn zuhause ein Kreuz oder eine Marienstatue kaputtging, dann brachte sie sie in ihren Garten und stellte sie dort auf: In die Wiese, zwischen eine Astgabel oder in ein Blumenbeet. Die Figuren verblieben dort bei Wind und Wetter, während aller Jahreszeiten, verwitterten, verwuchsen mit den Pflanzen, gingen teilweise weiter kaputt und verliehen dem Garten einen märchenhaften, etwas morbiden, eigenartigen Charakter: Es gab ein Reh ohne Beine, zwei Schwäne mit abgebrochenen Schnäbeln, ausgebleichte Portugal- und Deutschlandfahnen, Marienstatuen mit abgefallenem Heiligenschein, violett bemalte Schaufensterpuppen mit ausgehöhlten Köpfen, Hasen ohne Ohren, Hähne, Bären, Vögel. Diese Armee der ausrangierten Plastikwesen bevölkerte den Garten, genau wie Salamander, Schnecken, Käfer, Amseln und Eichhörnchen.
Und Mama fuhr auf ihrem Dreirad meistens schon in aller Früh hin, wenn noch keiner der anderen Schrebergärtner dort war, betrachtete sich jedes Gewächs, zupfte hie und da Unkraut, sammelte Schnecken und erntete und pflegte alles mit Hingabe. Im Sommer und Herbst ernährte sie sich fast ausschließlich von den Erträgen des Gartens. Wenn sie ihre tägliche ‚Inspektionsrunde‘ erledigt hatte, setzte sie sich in einen Stuhl vor ihr Häuschen, las, betete und war einfach nur glücklich.
Am meisten Freude bereitete es ihr, die zahlreichen Tiere zu beobachten. Eines Tages rief sie mich an und berichtete von einem Abendteuer mit einer „Eintschörnschenmama“ und ihrem Baby: Sie war wohl wieder auf ihrem Stuhl gesessen, als sie ein Eichhörnchen beobachtete, das versuchte, mit ihrem Jungen im Maul über den Lochbach zu springen. Das Junge fiel herunter und konnte sich gerade noch am Rand des Baches festkrallen – schaffte es aber nicht mehr hinauf; die Mutter rannte aufgeregt hin und her und konnte scheinbar ebenfalls nichts machen. Ohne Hilfe würde das winzige Geschöpf wohl bald kraftlios ins Wasser fallen und jämmerlich ertrinken.
Sofort sprang Mama auf und raste zum Ort des Geschehens: Wildentschlossen, das arme, dem Ertrinken geweihte Eichhörnchenbaby zu retten. Sie zog es unter großen Mühen (das Ufer des Lochbachs ist recht hoch, steil und eingewachsen) heraus und legte es ins Gras.
Daraufhin muss es die Eichhörnchenmutter wieder ins Maul genommen haben, um abermals über das Wasser zu springen, wobei sie das Kleine nochmal verlor! Soviel Leichtsinn konnte Mamili beinahe nicht ertragen: „Diese Eintschörnschenmama! Sie war dumm! Dumm! Dumm!“ Sie rettete natürlich das kleine Eichhörnchen trotz dieser himmelschreienden Blödheit ein zweites Mal aus dem Wasser und brachte es dann aber vom Ufer in ihren Garten. Dort legte sie es in ein altes, verlassenes Vogelnest, das sie mit Taschentüchern polsterte: „Damit die Mutter sieht: SO geht man mit einem Baybie um!“
Die Eichhörnchenmutter nahm diese Lehre wohl an: Sie holte ihr Kleines aus dem Nest, und versuchte den gefährlichen Sprung nicht nochmal, sondern verschwand mit ihm im Wald. Vorher aber, so erzählte Mamili gerührt, muss sie vor ihren Stuhl gehüpft sein, und sie direkt angeschaut haben, so, als wolle sie sagen: „Entschuldigung, dass ich so dumm war! Danke für Deine Hilfe!“