Theobald Fuchs: Fernsehen

Der Mann, der uns den Fernseher installierte, tauchte an einem Donnerstagabend im Juni 1974 auf. Ohne Voranmeldung stand er in der Uniform des Fernsehministeriums vor der Tür. Wir wussten, dass Widerstand zwecklos war. Er ging, ohne Zeit mit Ritualen der Höflichkeit zu vergeuden, direkt ins Wohnzimmer und sagte, dass das Tischchen, auf dem meine Mutter vier oder fünf Steingutschüsseln mit Kakteen errichtet hatte, perfekt geeignet sei. Er stellte die Schüsseln auf den Boden und baute das Gerät auf.

Kraft seines Amtes ernannte er meine Oma zur Zuständigen für den Fernseher. Sie hatte das alleinige Recht, ihn ein- und auszuschalten und das Programm zu wählen. Es gab das erste Programm, das zweite, das allerdings nur schlecht zu empfangen war, und das dritte, das ab sechzehn Uhr Bildungssendungen ausstrahlte. Oma interessierte sich nicht für Tierfilme oder Berichte über moderne Methoden der Landwirtschaft. Sie lehnte auch ab, sich durch das Schneetreiben und Flimmern auf dem Bildschirm mit den Quizzen und Musikrevuen im ZDF abzuquälen, so dass der Drehknopf zur Wahl des Senders praktisch unberührt auf ARD stehenblieb. Zwanzig Stunden pro Woche müsse das Gerät laufen, erklärte der Techniker, sonst würden wir Schwierigkeiten mit der Behörde für Fernsehkonsum bekommen.

Meine Mutter achtete peinlich genau darauf, dass wir die vorgeschriebenen Soll-Stunden vor dem Fernseher verbrachten. Wir versuchten natürlich, uns irgendwie zu drücken. Doch so gerne wir unsere Hausaufgaben gemacht, unsere Zimmer aufgeräumt oder beim Abwasch geholfen hätten – Mutter kannte keine Gnade. Da half uns kein Bitten und Betteln. Unerbittlich wurde die Mattscheibe Punkt vier Uhr eingeschalten. Wir mussten Heidi, Wickie und die starken Männer und Bugs Bunny ansehen, bis uns schlecht wurde. Dick und Doof und die Schlümpfe waren noch halbwegs zu ertragen, aber als später auch noch endlose Folgen von Luis des Funes, Bud Spencer und Unsere kleine Farm das Pensum erweiterten, wurde es oft zur Qual, bis 10 Uhr Abends in die Röhre zu gucken.

Oma erwies sich als die Tapferste. Sie hatte Krieg und Wiederaufbau durchgestanden und währenddessen drei Kinder großgezogen, da würde sie wohl nicht an dieser Aufgabe scheitern. Mit eisernem Willen verfolgte sie Derrick und den Alten, die Quiz-Shows mit Rudi Carrell, Wim Thoelke und Hans Rosenthal, Klimbim mit Ingrid Steeger und die großen Shows mit Harald Juhnke und dem James Last Orchester. Wir bewunderten Oma für ihre Willensstärke und Ausdauer. Typisch Kriegsgeneration: sie hielt einfach alles aus. Bis ihr die Augen zu und die Stricknadeln aus der Hand fielen. Sie erwachte zur Nationalhymne um Mitternacht. Danach gab das Gerät nur noch Rauschen von sich, ein weiterer erfolgreicher Tag vor dem Fernseher war absolviert. Oma legte die Stricknadeln für den nächsten harten Fernsehtag griffbereit auf die Ablage unter dem Fernsehtisch, erhob sich mühsam aus dem Fernsehsessel und ging ins Bett. Am Morgen klagte sie regelmäßig, dass sie nicht schlafen gekonnt habe und schon um fünf Uhr wach gewesen sei. Da waren dann noch endlose sieben Stunden bis zum Mittagessen zu überbrücken und zwei weitere, bis sie ihren Posten vor der Glotze wieder besetzen konnte.

Als um 1980 herum alle Haushalte gesetzlich verpflichtet wurden, für störungsfreien Empfang aller Kanäle zu sorgen und mein Vater einen Fünfzehn-Meter-Masten auf dem Berg hinter dem Haus errichtete, erweiterte sich das Pflichtprogramm noch einmal gewaltig, doch Oma wuchs mit der Aufgabe über sich selbst hinaus.

Mutter achtete sehr darauf, dass wir die Regeln einhielten, weil sie wusste, welchen Ärger es der Familie bereiten würde, wenn wir bei den Behörden als Fernsehverweigerer gegolten hätten. Gerade mein Vater durfte sich als Beamter unter keinen Umständen gegen die Fernsehpflicht aussprechen, und wir Kinder wären von der Schule geflogen, wenn wir nicht die montäglichen Abfragen zum Inhalt des Programms der vergangenen Woche bestanden hätten.

Erst viele Jahre später wurde mir aber auch bewusst, dass meine Mutter eine Rebellin war, eine, die sich dem Druck der staatlichen Vorschriften nicht so einfach beugte. Sie war es, die jeden Abend bald nach den Nachrichten ausrief, dass sie diesen Schwachsinn nicht mehr ertragen können und sich in die Küche setzen würde, um ein Buch zu lesen. Heute bin ich stolz auf meine Mutter, damals allerdings schämte ich mich für sie, weil sie sich Didi Hallervorden, der Schwarzwaldklinik, der Lindenstraße, dem großen Preis und Wetten daß…? hartnäckig verweigerte. Was nur die Nachbarn über uns gedacht hätten, wenn es sich im Dorf herumgesprochen hätte, dass unsere Mutter nicht gern fernsah? Dass bei uns täglich das Gesetz gebrochen wurde, als lebten wir wie die Todfeinde im Ostblock, die das Fernsehen aus ideologischen Gründen ablehnten und erst gar keine Geräte produzierten? Nicht nur gesellschaftlich wären wir mit Sicherheit erledigt gewesen, auch die Justiz ging damals gegen Verweigerer mit voller Härte ins Gericht.

Doch dann, im Jahr 1998 bekamen wir den Brief von der Regierung, dass wir den Fernseher jetzt ausschalten durften, wann immer wir wollten. Die Fernsehpflicht war abgeschafft – wir waren frei! Noch heute erinnere ich mich an diesen Tag als einen der schönsten in meinem Leben. Ich glaube, ich habe meine Mutter nie glücklicher gesehen als damals, als wir alle zusammen das Fernsehgerät zur Schlucht am Ende des Tals schleppten und in die finstere Felsspalte hinabwarfen.

Zwei Wochen später erreichten die Bautrupps mit dem Glasfaserkabel das Dorf und ein Kommissar ging von Tür zu Tür, um jeder Familie unmissverständlich klar zu machen, wie lange wir alle täglich im Internet zu surfen hatten.

Lea Schlenker: Tagesschau bleibt statisch

Zwei blaue Augen  
klar wie Gletscherwasser 
ich habe schon Messerstiche gefühlt  
während ich auf deinen Ruf wartete 
Die Sonne ist kostenlos 
Die daraus resultierenden Geschehnisse  
eher kostspielig  

Ich möchte nachts draussen sein  
Treffe dort alle Barkeeper und Dealer und Geschöpfe der Nacht 
Und höre dein Rufen nicht mehr  
Wenn ich dich nicht vergessen möchte 
und das werde ich  
eher früher als später 
dann kratze ich jeden Morgen alle Erinnerungen an dich zusammen 
was ich trug was ich sagte was du wolltest was ich nicht habe 
und dass ich nie wieder die Bücher lese die du mir empfohlen hast 
während ich Koffein auf schlechtem Magen trinke 

ich sehe mich selber 
den ganzen Tag im Pyjama und ohne Schokolade zuhause 
schreibe in mein Motivationsschreiben 
dass mich die Menschenrechtssituation in China ankotzt 
Heute soll angeblich der heisseste Tag des Sommers sein 
Ich mache die Augen zu und wenn ich wieder wach werde 
Dann ist der Sommer verschwunden 
Frank Zappa macht niemandem mehr Angst 
Ich schreibe ein Gedicht 
während im Hintergrund der Fernseher läuft  

Ich wurde zwar einmal von einem Auto angefahren 
aber was ich so aus den Nachrichten mitbekomme 
ist schlimmer als alles was ich jemals erleben werde