Manchmal hat man auch Glück und schafft es in einer
Viertelstunde vom Prenzlauer Berg bis zum ICC, das sie jetzt nicht abreißen
wollen, sondern mit einer Art Haube überdachen. In München würde ja auch
niemand auf die Idee kommen, den BMW-Turm, der als zylinderförmiges Symbol die
Kraft der bayerischen Ingenieurskunst verherrlicht, einzustampfen, bloß wegen
mangelhafter Energieeffizienz oder so.
Das Auto hat mein Vater vor etlichen Jahren bei den
Franzosen gekauft und mir neulich gegeben: „Dafür krieg ich nichts mehr,
dann nimm’s doch Du, ihr braucht doch ein Auto, das geht.“ Er meinte: ein
Auto, das fährt. Und das tut es auch. Nach drei Stunden passieren wir die alte
Zonengrenze, die Brücke der Deutschen Einheit, und jubeln theatralisch:
„Hurra, wir sind in Franken.“ Ein Ritual von früheren Fahrten, als
die Kinder noch klein waren und ein bisschen Abwechslung das Durchhaltevermögen
förderte.
Ab Bayreuth zählen wir die Ausfahrten herunter: Trockau,
Pegnitz, Weidensees – wie die Ausscheider bei der Bundeswehr ihre letzten 100
Tage – und in Plech verlassen wir die Autobahn. In Ottenhof läuft ein Mann über
die Straße: es ist 22.14 Uhr. Hier habe ich noch nie jemanden auf der Straße
gesehen – ohne Auto, ohne Bulldog, ohne Panzer.
Kurz vor Betzenstein ein Warndreieck, mehrere Autos stehen
am Straßenrand, Feuerwehr ist da, Sanitäter, ein Polizeiwagen steht in einem
Feldweg. Männer starren vor sich hin, ein Auto kehrt vor uns um, fährt mit
Vollgas in die andere Richtung. Wir rollen am Unfallort vorbei, ahnen nur, dass
da unten in der Wiese ein Auto auf dem Kopf liegt. Ist da noch jemand drin?
„Du musst auf die Tiere aufpassen“, sagt Tanja. Kurz
darauf steht ein junges Reh auf der Straße, schaut in unsere Richtung,
Schrecksekunde, weiß nicht wohin, tänzelt dann auf die Seite und stolpert beim
Überqueren des Grabens. Große Aufregung im Auto. Ich fahre jetzt noch
langsamer. Meine Leute halten Ausschau nach Wild.
In der Stube ist es
noch warm. Mein Vater hat den Ofen geschürt und einige Kohlen drauf gelegt,
damit er die Wärme hält. Im Flur riecht es nach Kadaver, als wären fünf Mäuse
hinter dem Schrank verreckt. Ich suche nach Bier, es stehen aber nur einige
Weinflaschen herum. Dann lieber einen Whisky. Bowmore, schottisch, schmeckt ein
bisschen nach Erde, torfig, ist gut, um nach diesem Ritt quer durchs Land
wieder runter zu kommen. Dank der Luftheizung sind auch die Schlafzimmer
leidlich temperiert: um die 6 Grad werden es schon sein.
Es regnet. Die Wiese ist grün. Die nackten Äste der
Obstbäume zittern im Wind. Die Fassade vom Nachbarhaus – mit grauer Patina
überzogen: Algen oder Schimmel? Beide können sich im körnigen Mineralputz
hervorragend vertiefen. Beim Metzger lasse ich mich von meinen verborgenen
Gelüsten hemmungslos verführen. Kaufe Kraut- und Leberwürste, beide leicht
angeräuchert, Bauernseufzer, Pfefferbeißer, rohen Schinken und einige
Bratwürste. Wenn ich auch nur zur Hälfte katholisch bin: der Besuch einer Metzgerei
hier im Oberland ist ein Hochamt. Scheiß drauf: eine Schüssel Fleischsalat muss
auch noch sein. Wer das alles essen soll? Die Metzgerin summt während sie mich
bedient. Sie summt immer, wenn ich im Laden bin. Sie kann sogar summen, wenn
sie mit einem spricht. Hochmusikalisch. Wird man das als Metzgersfrau in
Franken?
Tanken
bei Esso. Ein Familienbetrieb seit Generationen.
Neben mir parkt ein Auto, das ich nicht kenne; aber die Besitzerin des
Autos
kennt mich. Vor einem halben Leben haben wir – mit anderen 14- bis
17-jährigen aus unserem Dorf – an den Freitag- und Samstagabenden
zusammen
saufen gelernt. Asbach-Cola, Bacardi-Orange, Persico-Apfel und natürlich
Bier
waren unsere Lieblingsgetränke. Die Mädchen mischten auch Rotwein mit
Cola. Wir
trafen uns oft in einer leerstehenden Wohnung, die ihrer Familie
gehörte. Wir knutschten damals fast bei jeder Party herum. Und heute
waren wir uns fremd. Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Es
hätte Liebe sein können. Warum vergisst man selbst solche Dinge? Gut,
dass es so ist. Wir gaben uns die Hand
zum Abschied. Keine Umarmung. Vielleicht hätten sich unsere Körper dann
erinnern können.
Im Haushalts- und Eisenwarenladen steppt
der Bär. Eine Frau mit getönter Kurzhaarfrisur, wie sie die Frauen hier
tragen, studiert Tassen und Teller in der Abteilung für Geschirr der gehobenen
Klassen. Ein Dreitagesbärtiger
lässt sich von einer der Angestellten zu Espressomaschinen beraten. Ein Mann
mit Arbeitsklamotten steht vor dem Regal mit Akkuschraubern: eine handliche
Markita mit 17mA – das ideale Geschenk für den Schwiegervater.
„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, ruft es hinter
mir. Der Chef begrüßt mich. Gut gelaunt, wortreich, leicht gehetzt wie immer.
Sein Vater, ein Flüchtling wie man hier nach dem Krieg sagte, hat den Laden
aufgebaut. Zäher Hund, Geschäftsmann durch und durch. Mir klingt noch das
feine, knarzende Näseln seiner Stimme in den Ohren, wenn er zu meinem Großvater
sagte: „Was wir nicht haben, gibt es nicht.“ Damit hat er es zu
Wohlstand gebracht.
Der Sohnemann schwärmt mir von seiner Liebe zur Hauptstadt
vor. „Sie wohnen doch in diesem Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate,
wie heißt der nochmal? Wedding?“
Zusammen
gehen wir in den Keller. In diesem Laden kriegt man alles, was man so
braucht: Messer, Sägen, Schrauben (handverlesen), verzinkte Nägel,
Gewindestangen, Scharniere, Schlösser, Schlüssel, Gartenschläuche,
Kühlschränke, Pelletsöfen, Wasch- und Spülmaschinen, Küchenherde,
Fahrräder, Sanitärmaterialien, Wasserkocher, und natürlich Ofenrohre.
Der Meister sucht mir die passenden Rohre heraus, 120mm
Durchmesser. Am Tresen schreibt seine Frau eine Quittung für die graue
Kurzhaarfrisur, die sich einen Stapel cremeweißer Teller geleistet hat.
Der Chef sagt zu seiner Frau: „Hier riecht es schrecklich nach Zwiebeln,
widerlich.“ Seine Frau fühlt sich sogleich angegriffen: „Wie kommst
Du darauf, hier hat keiner gegessen.“ Er: „Ein Zwiebelgeruch, das hab
ich vorhin schon bemerkt“. Seine Frau: „Ich weiß gar nicht, was Du
meinst.“ Sie isst gern, das ist mir schon bei früheren Besuchen
aufgefallen: mal ein belegtes Brot, oder ein Nudelgericht aus einer
Tupperdose,
die neben der Kasse stand. Er: „Das war doch die Kundin, die sich nach
dem
Laubbläser erkundigt hat. Ein Ausdünstung hat die gehabt, unglaublich.“
Seine Frau kramt in der Schublade, wo die Quittungsblöcke und Stempel
aufbewahrt werden.
„Der Mann hier kommt aus Berlin, um sich bei uns
Ofenrohre zu kaufen …“, wechselt der Chef nun das Thema. Ich lege zwei
Scheine auf den Tisch. Seine Frau schaut mich überrascht an: „Sie wohnen in
Berlin? Aber ich kenne Sie doch, Sie kommen von hier, gell?“ Ich nicke.
“ Sie sind wohl auf Besuch da? Und bleiben die Feiertage hier?“
„Ja, habe ich vor.“ Ihr Mann gibt mir das Wechselgeld und den
Kassenzettel. „Wie lange wohnen Sie denn schon in Berlin?“, fragt
mich die Frau. „Hm, das sind schon 25 Jahre.“ Sie hebt den Kopf,
zieht ihre Brauen hoch: „Ja, haben Sie dann überhaupt noch Freunde hier?
Ich meine, wegen Weihnachten.“ Ihr Mann klinkt sich ein: „Er hat doch
noch eine Familie hier, mit der wird er feiern, oder?“
Ich verabschiede mich von der Frau. Ihr Mann geht mit mir nach draußen, schließt das Holzkabuff auf, das sich zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus befindet, und holt eine 11kg-Flasche mit Propangas heraus. Ich öffne den Kofferraum. „Sie fahren doch gleich nach Hause“, sagt er zu mir. „Weil, normalerweise dürfen Sie die Gasflasche nicht in einem geschlossenen Fahrzeug transportieren. Vorschrift! Explosionsgefahr!“ „Echt, hab ich noch nie gehört.“ Er verspricht, mich zu benachrichtigen, wenn er mal wieder nach Berlin kommt. „In diesem Kuhkaff hier hält man es doch gar nicht aus.“