Wenn wir unter unseren Hörern oder in einer beliebigen anderen Gruppe von Menschen nach Autoren fragen würden, die sie mit dem Begriff ‚Weimarer Klassik‘ verbinden, einer Epoche, die wir einmal so präzise wie ungenau in die Zeit zwischen 1780 und 1830 legen wollen, die allermeisten würden wohl ohne Zögern die Namen Schiller und Goethe nennen. Nach kurzem Zögern käme wohl Lessing – irgendetwas mit einem Ring, nich? Gut, der fällt als fast eine Generation früher Geborener eher in die Zeit der Aufklärung, ragt aber ganz knapp noch in diese ominöse Klassik hinein. Schon die Namen Herder und Wieland jedoch werden vielen nur noch als Straßennamen geläufig sein, dabei bilden gerade diese beiden mit Goethe und Schiller das Kernquartett der Epoche: Herder als Theoretiker, der Philosophie, Politik, Kulturgeschichte und vieles andere bis weit in die Zukunft beeinflussen sollte und dessen ‚Stimmen der Völker in Liedern‘ – eine Art von Ethno-Poetry – die Bahnen für die Sammlungen der Brüder Grimm und der Romantik bereiten. Und Christoph Martin Wieland, eleganter Erbe Rousseaus und Voltaires, heute kaum noch gelesen, überstrahlte sein Ruhm zeitlebens selbst den Goethes. Und Freimaurer sind sie sie auch alle gewesen …
Sie alle haben einander gekannt, geschätzt, beeinflusst, bei Banketten und in Salons zugeprostet, zuweilen auch auf manierliche Weise bekriegt; und dann gibt noch drei weitere, nachgeborene, die mehr oder weniger vergeblich an die Türen dieses erlauchten Kreises geklopft haben, und von denen doch zwei im Nachleben und –wirken heute mindestens so präsent sind wie der Weimarer Grand mit Vieren spielt fünf: Die Rede ist von Friedrich Hölderlin (ah!), Heinrich von Kleist (ah!) und – Jean Paul Friedrich Richter, kurz genannt: Jean Paul (kennichnich). Hölderlin, der als Schiller-Epigone begann, und dessen Dichtung dann binnen eines Jahrzehnts in den Orbit abhob, wo sie den armen Kerl für den Rest seines Lebens ausgebrannt in der Obhut eines Tübinger Schreinermeisters zurückließ; Kleist, dessen grausamen Dramen und mal kühlen, mal drastischen Erzählungen den alten Goethe gänzlich befremdet zurückließen und der schon früh sein Heil im Freitod suchte („Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“). Und dann eben dieser Jean Paul, ein bierseliger Oberfranke aus Wunsiedel, der seine Heimatregion zeitlebens kaum verlassen hat und der es doch wie selten einer verstanden hat, die ganze Welt aus Büchern zu ziehen und durcheinandergewirbelt und neu angeordnet auf’s Papier zu bannen, ein Dompteur der Fußnoten, ja er selbst eine einzige Fußnote zu einer Welt, in der Närrisches neben Empfindsamem liegt, das Gelehrte neben dem Kalauer, späte Aufklärung neben früher Romantik, Erschaffer einer dekonstruierten Universalenzyklopädie – unter allen Genannten vielleicht der modernste und zugleich der Verstaubteste. Der allergrößten Mehrzahl der Leser, die wenigstens noch ihr Verslein Faust aufsagen können oder Schillers ‚Ode an die Freude‘ beim Neujahrskonzert beethovenunterstützt bis zur vierten Zeile textsicher mitsingen jedenfalls ist er als gestorben zu betrachten. Wie überaus bedauerlich.
Wo anfangen, was ist wichtig auf unserem kurzen Rundgang durch dieses Curiositäten-Kabinett? 1763 wird er am ersten Frühlingstag (was ihm selbst stets als schicksalprägend erschien) als Sohn eines Lehrers und Pfarrers geboren. Umzug der Familie nach Schwarzenbach, Besuch des Gymnasiums in Hof, und damit ist ein Gutteil seiner Lebensgeographie bereits abgesteckt. Der Vater stirbt, als Jean Paul 16 ist. 1781 Beginn eines Alibistudiums der Theologie in Leipzig, doch zu diesem Zeitpunkt steht für ihn bereits fest, dass er Schriftsteller werden wird. Und er liest buchstäblich alles, was er in die Finger bekommt, füllt unzählige Notizkladden mit Zusammentragungen von Absonderlichem und Wissenswertem, seine erste Satirensammlung, die ‚Grönländischen Prozesse‘ werden 1783 verlegt (nicht gerade das, was man einen Chartstürmer nennen würde) und 1784 ist er bankrott, worauf er für einige überaus magere Jahre nach Hof zur verwitweten Mutter zurückkehrt. Und weiterhin liest, sammelt und schreibt er unablässig, bis ihm dann als 30jährigem (nicht mehr ganz jung für diese Zeit) der Durchbruch mit dem äußerst verwickelten Fragment eines Bildungsromans gelingt: ‚Die unsichtbare Loge‘ ist so völlig anders als die literarische Produktion ihrer Zeit, dass sie, trotz der Tatsache, dass sie weit vor einem befriedigenden Schluss abbricht, auf zum Teil begeisterte Aufnahme stößt. So auch bei den vorgenannten Wieland und Herder. Goethe und Schiller hingegen rümpfen die schönen Näschen und werden es so zeitlebens halten. Beispielgebend, nicht nur für diesen Romanerstling sondern für Jean Pauls ganze, bis heute modern gebliebene Erzählweise ist, was er über eine der Personen, eine Schäferin, schreibt: „Wir werden nichts mehr von ihr hören. – So wird es durch das ganze Buch fortgehen….“
Auch seine Bücher der folgenden Jahre werden große Erfolge, etwa die Romane ‚Hesperus oder Hundsposttage‘ oder eines der heute noch zugänglichste Werke, die Ehe- und vieles mehr- Geschichte des Siebenkäs, mit ganzem Titel: „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, kurz Siebenkäs“. Doch dann lässt, nach gerade einmal zehn Jahren, der Ruhm wieder nach: Der in mehreren Lieferungen zwischen 1800 und 1803 erschienene ‚Titan‘, den er als sein Hauptwerk ansieht, wird ein ziemlicher Flop, obwohl oder gerade weil er hier einen kühnen Spagat zwischen allen von ihm bespielten Stilen und Theorien, Konstellationen und Anschauungen versucht: Vor der Folie eines zuweilen etwas blutarm agierenden Personals breitet er eine Kritik des Idealismus wie des Nihilismus und aller Zwischenstufen aus gesellt melodramatischen Liebeshändeln eine beißend kühle Beschreibung einer Ballonfahrt bei: Gerade dieser ‚Luftschiffer Gianozzo‘ hat mit seiner damals noch neuartigen Vogelperspektive aus einem Ballon noch das meiste Nachleben dieses Werks entfaltet. Und auch die danach veröffentlichten ‚Flegeljahre‘ fallen weitgehend durch, dabei ist diese wie so vieles bei Jean Paul in Franken spielende Geschichte um Walt und Vult bis heute eine der schönsten und heitersten Zwillingsgeschichten der Literatur. Wenn man nur eines seiner Werke lesen könnte oder wollte, meine Empfehlung ginge darauf. Kurz, Jean Paul schreibt weiter unter zunehmend sinkendem Stern, er wohnt inzwischen in Bayreuth, sein Bierkonsum wie auch sein Leibesumfang nehmen ungeheuerliche Maße an. Sein letzter Roman ‚Der Komet‘, der vielsprechend die Reisen eines durchgeknallten Apothekers, der mit der Erfindung künstlicher Diamanten zu märchenhaftem Reichtum kommt und einen ganzen Tross an nicht minder kauzigem Personal hinter sich versammelt, bleibt, ewig schade, unvollendet. Ein Zitat hieraus zeigt sprechend, dass Jean Pauls Liebe zwar wohl stets den Büchern gehört hat, er diese Liebe jedoch hochgeschätzt auch in und für andere denken konnte: „Das Lieben ist ja das einzige oder Beste, was der Mensch sich nicht einbildet.“ 1825 stirbt Jean Paul, nahezu blind. Das Publikum ist inzwischen längst weitergegangen, in der Mehrzahl in die Arme des großen romantischen Märchenbuchs.
In dieser Sendung jedoch soll es um ‚Abwegige Literatur‘ gehen. Das trifft einerseits auf den ganzen Jean Paul zu, dessen Werk man auch als eine einzige Abschweifung oder tollgewordene Fußnote charakterisieren könnte; man könnte auch ein Werk der reifen Jahre heranziehen, wie etwa ‚Dr. Katzenbergers Badereise‘, in der ein Anatom mit einem pathologischen Interesse für das Sammeln von Missgeburten die Heiratsbestrebungen seiner Tochter zu torpedieren bemüht ist. Um aber dem Schwer- noch das beinahe Unverständliche draufzusatteln, sei hier die ‚Auswahl aus des Teufels Papieren‘ genannt. Das Werk erschien weitgehend unbeachtet unter dem Pseudonym J. P. Hasus und versammelt unter dem Mäntelchen einer Manuskriptfiktion Satiren, Erzählungen und natürlich Abschweifungen aller Art. Ein großes Vorbild des jungen Jean Paul waren englische Humoristen, allen voran Lawrence Sternes mit seinem ironisch alle Romanfiktionen durchbrechenden ‚Tristram Shandy‘ und vor allem Jonathan Swift, der neben dem bekannten Gulliver eine Vielzahl zum Teil drastischer Satiren hinterlassen hat, man denke an seinen Vorschlag, die arme Leute von Irland mögen doch ihre eigenen Kinder essen, da so dem Hunger wie der Überbevölkerung zugleich Einhalt geboten werde. Nun ist Swift, als der junge Jean Paul wie im Rausch Satire um Satire heraushaut, bereits gut 40 Jahre tot, und den Teufelspapieren merkt man etwas von dieser Antiquiertheit an. Das ist nicht der Ton eines Goethe, der zu dieser Zeit bereits die Iphigenie und den ersten Wilhelm Meister-Roman im Sack hat, sondern ein spätbarocker, gelehrter Aufklärungsstil, bei dessen Lektüre sicher schon zeitgenössische Leser, viel mehr aber noch wir heutigen schnell und schmerzvoll merken, dass es unmöglich ist, auch nur drei Zeilen davon zu lesen, ohne nicht nach einem leider zumeist fehlenden Anmerkungsapparat zu schreien. Jean Paul schichtet Bild auf Bild, Anspielung auf Anspielung, für alle erdenklichen Gewährsleute der Bibliotheken aller Zeiten an, sodass man über dem Staunen ob der Fremdheit eines Satzes schon lange den vorherigen vergessen hat.
Und man darf die Satiren vergangener Zeiten nicht unbedingt an dem messen, was wir heute von Magazinen wie Titanic oder Charlie Hebdo kennt; oder etwa von Wiglaf Droste oder den spoken word-Satirikern von heute, die meistens als Kabarettisten segeln: In einer Zeit, in der in den meisten Winkeln der Erde an Presse- und Zensurfreiheit nicht zu denken war und eine überscharfe Attacke auf Regierende und Missstände unter Umständen nicht nur den Verlust des Druckwerks bedeuten konnte, zieht sich die Satire gerne auf den menschlichen Aspekt der Schwächen mit allenfalls behutsam-allgemeinen Ausflügen ins vergleichende Tagesgeschäft. Man kritisiert Moden und Eitelkeiten, Kollegen und Lehrmeinungen, auch der Adel wird verspottet – aber bitte keine lebenden Namen! – Jean Paul zerrt ein ganzes Naturalienkabinett ans Licht, um praktisch die gesamte risikoarm zu beschreibende Welt durch’s ins Lächerliche ziehen zu bessern, doch gerade uns Lesern der Gegenwart nimmt das oft die Chance auf einen Erkenntnisgewinn oder auch nur Lacher. Ein wenig ist es mit den Teufelssatiren wie mit den Beiträgen der Internetseite ‚Der Postillon‘ wo die eigentliche Pointe meist bereits im Titel verborgen ist, und der der darunterstehende Text mehr als Kür denn als Pflicht erscheint. Jean Paul schreibt etwa über:
– Der Edelmann nebst seinem kalten Fieber und die Unterthanen nebst ihren kalten Häusern
– Brief über die Unentbehrlichkeit unzähliger Taufzeugen
– Würde man nicht vielen Mißbräuchen der belletristischen Rezensionen steuern, wenn kein anderer ein Buch rezensieren dürfte als der, der es selbst gemacht? Vorschlag
– Der Mensch ist entweder ein lebendiger Bienenstock oder auch ein lebendiges Feldmausloch
– Der Schweinskopf als Buswecker
– Nutzen der Elektrizität für das Christenthum
– Ob die Schamhaftigkeit ohne Augengläser völlig bestehen könne?
Hinter all diesen Überschriften verbergen sich durchaus gescheite, amüsante, haarsträubende wie –spalterische Betrachtungen, sie sind halt nur in ein Übermaß an Gelehrsamkeit eingebunden wie in einen Fettpanzer, zudem ist der schreiberische Gang des Twens Jean Paul zuweilen noch etwas schwankend. Wollte sich einer jedoch die Mühe machen und sich durch nur eine dieser Satiren ein Bild von Zeit, Gattung wie Autor machen, meine Empfehlung wäre:
Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen Frau von bloßem Holz
Um es vorweg zu sagen: Wollte heute jemand versuchen, diese Geschichte, in ein sprachlich erneuertes Gewand gekleidet, dem Publikum als Lesestoff anzubieten, er sähe sich vermutlich den wütendsten Protesten nicht nur der meisten Frauen ausgesetzt, nein, es gäbe vermutlich auch Stimmen die den Autor einer selbstredend wohlmeinenden Untersuchung auf mögliche psychopathologische Störungen ausgesetzt sehen wollten. Denn wirklich ist neben allen zeitgeistigen bis hin zu Fips Asmussen fortgeführten Klischees über Frauen wie Beautywahn und Verschwendungssucht, Kommunikationsüberfreude und Neigung zu Esoterik ein latent sadistischer Zug an dieser Geschichte, wenn Jean Paul minutiös die Zusammenfügung der einzelnen Gliedmaßen beschreibt, die fast den 30 Jahre später erscheinenden ‚Frankenstein‘ von Mary Shelley vorwegnehmen. Der Erzähler wählt als Korpus eine alte Mosesfigur aus einer Kirche (Gender und Sakrileg), bekleidet sie mit der abgezogenen Oberhaut einer Dame, die sich laut Montaigne davon einen helleren Teint erhofft hatte (Schweigen der Lämmer), unterspritzt ihr bläuliches Wachs, auf dass die so sichtbaren Adern wie bei den adligen Damen von der Zartheit ihres Teints sprächen, lobt die Vorteile einer hölzernen Nase, da so die Kosten der von Damen so geschätzten Tabaksschnupferei entfielen – und so Arbeit er sich Stück für Stück durch den weiblich-hölzernen Organismus, um so am Ende eine preiswerte, allzeit kooperative Gattin, eine Art collagierte Lovedoll zu haben. Das alles ist haarsträubend grotesk und un-pc geschrieben, wobei zu Jean Pauls Ehrenrettung gesagt werden muss: Ein Frauenhasser ist er nie gewesen. Doch ähnlich wie Thomas Mann zuweilen halb tranceartige Passagen unterlaufen, in denen seine meisterhaft routinierte Gehrockprosa plötzlich einen unverhüllt homoerotischen Zug annimmt, so lassen sich an Jean Pauls Holzweiblein die Nöte erahnen, die ihn als bankrotten unverheirateten jungen Mann umgetrieben haben müssen. Alles dies ist wie nun mehrfach erwähnt sonderbar und unverständlich geschrieben und von einer Strandlektüre so weit entfernt wie Bayreuth von Hawaii, es möge jedoch zum Beispiel dienen, wie einer der allergrößten unserer Halbvergessenen einmal das schreiberische Laufen gelernt hat: Jean Paul Friedrich Richter, Ehre seinem Andenken.