Ich frage die Katze, ob sie genug gekotzt hat, ja, meint sie, aber ich noch nicht; mein Hals ist geschwollen, die Nase läuft, Hartz IV bald auch; irgendwie ist alles kaputt und angeschlagen, abgeschlagen, mit Lichtern und Raumfahrten dazwischen, Größenwahnphantasien und Existenzängsten, Beziehungswracks und unrealisierter Romantik, ich bin – so viele, dass ich es gar nicht halten kann, und draußen sind – so wenige: wer klopft an die Tür, der klopft an die Tür, ich gehe in Tangenten die Welt ab, Entropien wie Berge um mein Gehäuse, ich esse die Suppe, weil ich muss, und wache auf, weil ich nicht anders kann – nach dreißig stellt sich der Sinn plötzlich tot, und ich weiß nicht, ob das schlecht ist – am Nullpunkt ist immer Ruhe, die besser scheint, als Amplituden der langweiligen Wiederkehr: Karriere machen, fragt mich einer, nein danke, antworte ich, ich wüsste nicht, worin und wozu, zudem niese ich ständig, oder bin kopfkrank, und nur die Sonne geht unter und ist schön und wieder auf und ist noch schöner, das ist alles, was sich zu sehen lohnt, und mit den Spatzen die Krümel zu klauen, und irgendwie zuhören zu können, ohne eine Strafpredigt zu halten, da zu sein, ohne nachlässige Ignoranz oder falsche Leichtigkeit – in Armut lebt es sich schwerer, aber auch ehrlicher, das Finanzamt zieht mir den letzten Teppichboden unter den Füßen weg: wie stellen die sich das eigentlich vor, wovon du leben sollst, fragt eine Freundin, ja, sage ich, weiß ich auch nicht, gar nicht wahrscheinlich – vor mir Berge und Mondkrater, über die ich zu lugen versuche: nur nicht unsichtbar werden, zurückgeworfen ins Negativ, auf sich aufmerksam machen, auch wenn der Globus vor meinen Augen riesig erscheint, ein Kreuz setzen, in Merkels Gesicht, um ihm klar zu machen: so nicht, meine Liebe, du hast keine Ahnung davon, wie wir leben, wer wir auch immer sein mag – die Verlassenen, Geflohenen und Entstellten, die Alten und die unglückseligen Künstler, die Hebammen oder einfach die mit einem vaginalen Loch zwischen den Beinen – was auch immer du mir erzählst, du kennst das Leben nicht, wo du Dostojewski liest und mit dem Masterabschluss putzen gehst, auf halben Stellen, wie halben Stühlen sitzt, desinteressiert und krank; ich weiß doch auch nicht, was mit meinem Körper los ist, oder mit meinem Herz, aber das Leben in diesem Land hat etwas Fahles, Glanzloses, ist fluoreszent, ich sehe, wie dort die Wärme evaporiert und keine Spuren hinterlässt, nur eine Fata Morgana – als wär sie nie da gewesen; ich lecke die eingefrorenen Fenster ab – draußen ist Winter, bald, und ein Jahr ging vorbei, nichtssagend und schwer, mit Gesellschaft dazwischen und der Einsamkeit, in buntes Neonlicht getaucht, kalt und schön – ein Licht, aus dem auch die Frauen kommen, die mir so ungleich sind, Bella, Gigi Hadid, Cara Delavigne, Rihanna, manchmal auch Heidi Klum, wenn sie nicht kreischt, ausgehungert und schön, mit Reichtum behängt, den sie hin und her tragen, wie Sträflingskugeln, Frauen, die zum Verkauf stehen, und irgendwie auch nicht, mit operierten, injizierten Gesichtern, die im Blitzlichtgewitter untergehen und von denen am Ende nur (ihre) Gespenster zurückbleiben: haben sie was gesagt, was gedacht, wer weiß das schon, dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Fitschlanknhappy, wie wäre es stattdessen mit Schlappfettnkrank, beides schenkt sich doch nichts und ist nur Ausdruck des Lebens, des Sterbens; ein Kreislauf, der vor sich geht, zusammen mit der Erdrotation und den Gezeiten, und viel mehr als das ist da nicht, obwohl – gestern hat ein Penner meinen Namen gewusst, oder es hat so gehallt, als ob, es hat mich entsetzt, er – in einer Güte, die mitten aus Verzweiflung erwächst: im Leiden noch Wärme geben, geht, geht ausgerechnet da, geht, während die Mode- und Unterhaltungsindustrie Mädchen castet, nach Farbe und Form und das Arbeitsamt neue Sklaven, der Klasse I, Klasse II in seinem asozialen Bürgerklassifizierungwahn heranzüchtet; Merkel erzählt mir irgendetwas davon, wie sie die Arbeitslosigkeit halbiert hat, aber nicht um welchen Preis, und welches Leben die Menschen fristen, in den Ghettos und der Peripherie in Armut, die unterm Strich aufs Gleiche hinausläuft, wie sie dann an Wochenenden in die steuerfreien Oasen des Starbucks strömen, in modischen Billigversionen und Masken aus perfektem Makeup, zum Schaumschlürfen und Kollegenbasching – für mehr reicht das Geld nicht, und im Vergleich dazu hat es selbst Kafka noch knallen lassen, war aber auch früher tot, so läuft es nun mal – wer ehrlich lebt, muss früher sterben – / ich rauchte meine Zigarette zu Ende.
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Natalia Breininger: (My lost hometown #2)
Ich erinnere mich, an diesen Mann, wie wir nach Hause liefen auf der Brivibas iela, waren wir einkaufen, wahrscheinlich, meine Mutter hatte mich bei der Hand, ich war sieben und es war September, zu früh um Jacken zu tragen, aber nicht Pullover, Menschengewusel, und dann kommt aus der Kreuzungsecke, an der Gemüse und Blumen verkauft wird, ein Mann, er hat dieses weiche, menschliche Gesicht, das mich an meinen Vater erinnert und irrt ziellos umher, mein Blick senkt sich und er trägt diesen typischen Eastsidepullover, die es nur Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger gab, und ein burgunderroter Fleck zeichnet sich darauf ab, der immer größer wird, Blut, er stolpert und hält sich fest, stolpert und – die Ampel wird grün, ich schaue meine Mutter an, die mit seriösen Blick meine Hand fester drückt (ein Drogensüchtiger hätte ihn nach Kleingeld gefragt oder nach größerem und weil er zu lange brauchte, oder nichts, nicht genug dabei hatte, stach er auf ihn ein, munkelte die Nachbarin später an der Haustür zu meiner Mutter, als ich sie belausche), keine Spur von Panik, nur Spuren von Blut und hektisch werdender Menge, wir wechseln die Straßenseite, der Notfallwagen rollt ein, ich sehe den Mann niedersinken, aus der Ferne, die Sanitär rollen eine Trage heraus, er wird in den Krankenwagen gezogen (noch vor Ort operiert, dreieinhalb Stunden lang, die tiefsten Stichwunden, direkt in die Brust, kannst du dir vorstellen, Olga, dreifacher Familienvater… er hat nicht überlebt) und ich bin sieben und hab keine Angst, aber bete – ich bete vergeblich, dass er überlebt. Als wir zuhause ankommen und Nachbarin Tanja wieder geht, schaue ich aus dem Fenster und es tut mir – um dieses weiche Gesicht, diesen weichen, niedersinkenden Körper, der in den Händen des Chirurgen verblutet, unendlich leid.
(Epilog: Ich dachte, du erinnerst dich nicht, lächelt bedrückt meine Mutter. Da net, mam… ja pomnju. Pomnju vse.)
Anna Hofmann: Déjà-Vu
Die ganze Welt dreht sich um einen Punkt zwei Meter neben mir und ich schlafe rückwärts. Im Traum scheint mir die Szenerie real, am Tag ist mir das meiste fremd.
Alles hier ist stimmig. Als ich in seine Wohnung trete, sehe ich Bücherstapel auf dem Tisch liegen, sie sind parallel zur Kante ausgerichtet. Ich schaudere und denke über äußere und innere Ordnung nach. Er sitzt neben mir und redet so viel, er spricht nicht mit mir, er redet und mein Hirn pocht gegen die Schädeldecke. Früher nannte ich das Migräne, aber es ist ein chronisches Klopfen in meinem Kopf geworden. Er wird platzen, denke ich und dann wird er sich über die Sauerei beschweren. Sein letzter Satz hängt in der Luft und wiederholt sich in meinem Kopf so lange, bis er ein Ohrwurm wird.
man kann es sich nicht aussuchen
man kann es sich nicht aussuchen
man kann es sich nicht aussuchen
Ich spüre, dass meine Mundwinkel schon wieder zu Blei geworden sind, nicht imstande zu lächeln, lasse ich mir neue Ausreden einfallen, warum ich nach Hause muss. Nach Hause, das ist auch übertrieben, dieses Loch Zuhause zu nennen aber ich kann nicht sagen, dass ich allein sein muss, ohne noch mehr erklären zu müssen. Meine Jacke habe ich schon am Anfang auf die Stuhllehne in der Küche gehängt. Als wäre ich immer auf der Flucht merke ich mir genau, wo ich meine Siebensachen liegen lasse und wie ich schnell wieder nach draußen komme.
Obwohl er noch nicht zu Ende erzählt hat, gehe ich. Während ich die Straße entlang laufe, denke ich über den Punkt zwei Meter neben mir nach. Was, wenn es immer nur um diesen Punkt ging und das Streben dahin eine ständige Verbiegung bedeutet, die mich irgendwann ganz schief hat werden lassen? Ich wiederhole innerlich, was er gesagt hat und sehe nur Fehler in dem, was ich geantwortet habe. Der Boden unter meinen Füßen scheint zu zittern und meine Augen versuchen einen Punkt auf der Straße zu finden, der lohnenswert wäre, fixiert zu werden.
Ich will zu ihm zurücklaufen, ich schwärme meinem Verstand bereits vor, wie schön das wäre, wie sehr er sich freuen würde, wie normal alles sein könnte, da erinnert mich etwas daran, dass Normalität lange her ist. Sonst müsste ich jetzt nicht gehen. Sonst hätte ich nie von irgendwo gegen meinen Willen und mein Vorhaben gehen müssen. Ich hätte keine Probleme gehabt, das Haus zu verlassen, ich würde einfach immer tun, wonach mir ist.
Es begann zu schneien und wenn es schneite, dachte ich an etwas früheres, angstloses. Jetzt machte mir beinahe alles Angst, ich konnte nur noch wenig aus dem Haus. Meine Wohnungstür war mir irgendwann wie eine magnetische Schwelle vorgekommen, die ich nicht übertreten konnte. Manchmal hatte ich die Wohnung wochenlang nicht verlassen, nicht einmal dem Lieferservice hatte ich in die Augen sehen können und unangemessen viel Trinkgeld gegeben. Oft hatte ich es probiert, aber jeder neue Versuch entmutigte mich mehr und nachdem ich meine Jacke dreimal an- und wieder ausgezogen hatte, legte ich mich zurück ins Bett.
Und ich hatte nicht zu seinem Geburtstag gehen können. Das liegt vor allem daran, dass er bereits nachmittags in seine Wohnung eingeladen hatte. Wäre es eine Party gewesen, hätte ich es hingeschafft, aber als würde mir die Nacht meine Melancholie eher verzeihen als das Tageslicht, konnte ich nicht.
Wobei Melancholie ja eine ganz andere Sache ist als das, was ich erlebe. Melancholie lässt noch Spielraum für Ästhetik zu. Man kann sich in den vielen Nuancen baden, man kann es genießen, sie reiht sich in verklärte Vorstellungen von Zweifel und Traurigkeit ein. Aber es kommt mir heute eher so vor, als sei mir ein zerbrochener Spiegel vorgehalten, der mir eine verzerrte Welt und ein zerstörtes Selbst zeigt. Und so bin ich nicht mehr imstande zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ja am Schluss weiß ich nicht einmal mehr wo oben und wo unten ist.
Ich finde immer noch keinen Punkt zum Fixieren, weder außen noch innen und laufe schneller. Bis zu meiner Wohnung sind es noch gut 20 Minuten, aber laufen ist besser als Straßenbahn fahren, dass mir an schlechten Tagen wie eine fahrende Blechbüchse mit vielen anderen Insassen vorkommt. Das Feld vor mir ist im Sommer ein beliebter Grillplatz, heute ist kein Mensch zu sehen, es schneit immer noch.
Aber Schnee. Die Bewegung der tausend kleinen Flocken zieht mich mit nach unten; eine optische Täuschung, die mir plötzlich so verführerisch erscheint, dass ich mir wünsche mit ihnen zu fallen und liegen bleiben zu dürfen. Ich würde dumpfer fallen als die Flocken. Nicht sanft zu Boden pendeln wie sie, ich würde nicht noch einmal nach links und nach rechts schweben, bevor jede von ihnen mit dem Rest verschmilzt. Es wäre eher ein gedämpfter Schlag und dann läge ich dort auf dem Feld und wäre binnen weniger Minuten nicht mehr zu sehen, denn Flocke um Flocke würde mich der Schnee begraben. Man würde mich in den ersten warmen Tagen im April finden. Einen ganzen Winter lang liefe jeder einfach an mir vorbei. Nur wenige würden sich noch einmal umdrehen, sähen über die Felder aus Eis, würden ein Unbehagen spüren, einen Schatten. Sie würden sich fragen, ob sie ihrem Bauchgefühl folgen und nachsehen sollten und dann würden sie sich zur Ordnung rufen. Sie würden sich einreden, das sei Unfug und sich schämen so dazustehen, auf das verschneite Feld starrend. Ihnen würde einfallen, wie viel sie noch zu tun hatten und am Ende würden sie weiterlaufen.
Ich öffne meine Wohnungstür und der Schreck packt mich, ich höre etwas. Jemanden. Er kommt auf mich zu.
„Was machst du hier?“, frage ich ihn und er lächelt.
„Du bist spät“, sagt er.
„Aber, ich war doch gerade bei dir?“
„Was meinst du?“
„Bin ich nicht vorhin..?“ verwirrt sehe ich mich um. Dies ist meine Wohnung und mein Haustürschlüssel. Ich habe damit aufgeschlossen. Er war schon innen. Wie kommt er hier rein und warum ist er mir nicht böse, er müsste doch..
„Ich hab uns was gekocht“, sagt er und geht in die Küche.
Ich will sagen, dass ich keinen Hunger habe, dass mir alles zu viel ist, dass ich nicht mehr weiß, was real und was Traum ist, dass ich müde bin und allein sein möchte. Ich will ihm sagen, dass ich Träume habe, die mir wahrscheinlicher vorkommen als mein Alltag und dass ich so sehr hoffe, er könnte verstehen, wovon ich spreche. Aber ich lasse mich nur auf einen Stuhl fallen und lege meine Jacke über die Lehne.
„Es schneit“, sage ich.
„Ja“, sagt er, „man kann es sich nicht aussuchen“.