Christian Knieps: Für was Verben?

Eine kaum zu identifizierende Leiche, grässlich zugerichtet, auf dem nackten Boden, der blutdurchtränkte, in der gleißenden, unbarmherzigen und an dem Geschehen unbeteiligten Sonne, mit massenhaft schwirrenden Fliegen überall, dieses eindringliche gleichfrequente Summen, dieser beißende, bleierne Geruch nach fortgeschrittener Verwesung, beginnende Zersetzung allen ehemaligen Lebens, hinaus nach dem längst eingetretenen Tod. 

Starke, höchst emotionale Ablehnung von meiner Seite aus, die Ermittlung, nicht mein Wunsch, großer Drang nach Weglaufen, doch hier, an diesem Ort, meine neue, ungewollte Ermittlung, dieses menschliche Desaster vor mir und in meinem schmerzenden Kopf. 

Der eigenartige, äußert mitteilsame Täter, seine exakte Adresse und Handynummer auf der ansonsten zugerichteten, vor uns liegenden Leiche, penibel saubere Schrift, fast zu perfekt, nahe an einer gedruckten Druckschrift, comic sans serif, diese spaltende Schriftart, geliebt oder verhasst. 

Meine überaus engagierten Kolleg:Innen, unterwegs zu der auf der Oberhaut der Leiche angegebenen Adresse, ausgeschaltetes Blaulicht, keine unnötige Aufmerksamkeit, auch wenn der vermeintliche Täter, der mitteilsame, die Ankunft erwartungsfroh, am dreckigen Fenster hinter dem ebenfalls dreckigen Vorhang erkennbar, zitternd und über den Maßen stark schwitzend. 

Ein vermeintlich einfacher Einsatz, in Sicherheitsausrüstung anrückende Kolleg:Innen, gepanzerte schwarzgefärbte Kevlarprotektoren, vorsichtiges, koordiniertes Vorrücken, der nervöse Täter hinter dem durchscheinenden Vorhang, erwartungsgespannt auf die nähere Zukunft, die langsamen, zähflüssig verrinnenden Sekunden. Näherung, minutiös kontrolliert, professionelles Training und exakte Umsetzung, einem ballettesken Schwanentanz gleich, Kommandos per abgesprochenen Zeichen, Umstellung des baufälligen Hauses, Klärung der Bereitschaft aller beteiligten Einheiten Zugriff, Sturm durch die nicht abgeschlossenen Türen vorne und hinten, Drücken des Knopfes trotz allen Schweißes, augenblickliche Zündung der angebrachten, versteckten Bomben, grande catastrophe, unsere geordnete Welt völlig anders als zuvor.

Christian Knieps: Mein Hund, mein Wahnsinn

Ich halte mich für einen glücklichen Mann, wenn alles in seinen rechten Bahnen läuft. Dann entschied ich mich dazu, mir einen Hund anzuschaffen und erschuf gleichzeitig meinen eigenen Wahnsinn.
Der Plan war denkbar einfach: ich hole mir einen Welpen, nehme einen ganzen Monat Urlaub, erziehe ihn und sorge dafür, dass er stubenrein wird, und gehe, wenn das Gröbste überstanden ist, wieder arbeiten. Abends würde mich dann freudestrahlend mein treuer Begleiter erwarten, mit dem ich zum Toben auf die Hundewiese gehen könnte.
Als ich Tommy das erste Mal sah, war ich sogleich dahingeschmolzen. In die sanftmütigen Labradoraugen verliebte ich mich auf den ersten Blick und so zog Tommy bei mir ein. Der erste Monat war dann auch der Himmel auf Erden! Ich hatte Urlaub, konnte den ganzen Tag den kleinen Welpen umsorgen, ihn bespaßen und mit ihm draußen sein.
Alles war perfekt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich wieder arbeiten ging. Wie jeden Morgen war ich früh mit ihm eine große Runde gegangen, dann aber den ganzen Tag unterwegs gewesen, und als ich abends nach Hause kam, wollte ich die Türe lieber wieder zumachen und gehen.
Tommy stand zwar schwanzwedelnd vor mir und freute sich über alle Maßen über meine Rückkehr, doch meine Wohnung hatte nur noch wenig mit der zu tun, die ich verlassen hatte. Kopfkissen waren zerfetzt, alle Schuhe, die draußen gestanden hatten, waren angenagt – ein erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass der Kleine erst knapp vier Monate alt war. Vasen lagen auf dem Boden, die Blumen waren angeknabbert, Tischbedeckungen waren zum Teppich umfunktioniert worden und ob ich jemals die Fernbedienung meines Fernsehers wiederfinden würde, stand noch in den Sternen.
Ich wollte ausrasten, durchdrehen, doch Tommy freute sich nur, mich zu sehen. Ich konnte nicht anders, als mich zu ihm zu bücken und ihn zu streicheln. Die Tränen in meinen Augen leckte er weg und ich war augenblicklich wieder verliebt. Trotz des Chaos und trotz des Wahnsinns, der in mir erwachsen war und den ich die nächsten Monate stetig bekämpfen musste.
Ich probierte es mit noch längeren Spaziergängen, Suchspielen, Apportieraufgaben, sogar mit einem Laufband versuchte ich es, doch Tommy war nicht zu stoppen, wenn ich nicht zu Hause war. Ich hatte – man konnte es gar nicht anders sagen – einen hyperaktiven Kontrollfreak großgezogen, der durchdrehte, wenn er nicht wusste, was er mit seiner Energie machen sollte.
Das alles geschah vor drei Jahren. Inzwischen haben wir uns beide mit der Situation arrangiert. Er darf mich kontrollieren und ist ein wenig erwachsener geworden, und ich habe zusammen mit meiner Wohnung einen massiven Veränderungsprozess durchlaufen. Seit neuestem frage ich mich, ob ich durch Tommy unfähig geworden bin, eine Beziehung zu einem anderen Mann einzugehen. Aus Angst vor Tommys Eifersüchteleien.
Doch dann kam das Glück zurück, und Arne trat vor kurzem in mein Leben, der selbst zwei Hunde hat. Zwei Hunde, die so gar nicht wie Tommy sind. Erzogen und mit perfektem Sozialverhalten. Es knallte kurz, als wir alle fünf das erste Mal aufeinandertrafen, doch siehe da – Tommy war auf einmal wie ausgewechselt. Plötzlich hatte er seine Aufgabe im Rudel gefunden. Und so langsam verschwindet auch mein Wahnsinn. Nur auf dem Boden werde ich nichts mehr liegen lassen. Nie wieder! Versprochen!

Christian Knieps: CERN

Mein Mann und ich sind unterwegs zum CERN. Er will da unbedingt hin, während ich nur dabei bin, damit er nicht allein fahren muss. Dafür hat er mir versprochen, beim nächsten Besuch bei meiner Mutter dabei zu sein, denn wenn er dabei ist, ist meine Mutter meistens die Freundlichkeit in Person.
Auf dem Weg zum CERN bekomme ich eine Zusammenfassung seines Wissens, das ich kaum bewerten kann, weil ich weniger als die Hälfte verstehe. Nach den ersten Fragen lasse ich auch das Fragen sein, weil ich merke, wie angespannt er wird, wenn ich zeige, dass ich so gar keine Ahnung von dem Ganzen habe.
Als wir endlich ankommen, freue ich mich auf etwas Bewegung. Wir treten in das Eingangsgebäude und treffen andere Teilnehmer der heutigen Führung. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass es nur eine potentielle Leidensgenossin gibt, doch sie ist so gekleidet, dass sie auch Physikerin sein könnte. Also ist Vorsicht geboten.
Die Führung beginnt. Der Mann, der uns Einblick in das Wunderwerk der Technik gibt, ist mir in seiner leicht verpeilten Art direkt sympathisch. Meinen Mann nervt sein nasaler Tonfall. Wir werden durch das Gebäude geführt, die meisten, die den Eindruck machen, dass sie wissen, was hier geschieht, wirken von der Führung gelangweilt. Ich hingegen finde sie sehr interessant, da sie nur wenig Wissen voraussetzt. Zudem spüre ich, wie der Vortragende eine Begeisterung für diese Forschungseinrichtung versprüht, wie es Männer normalerweise nur für ihren Fußballverein machen.
Als sich die Führung zum Ende neigt, bin ich positiv überrascht, während mein Mann mir schon verraten hat, dass das hier pure Zeitverschwendung für ihn sei. In den Gesichtern der anderen Teilnehmer sehe ich eine ähnliche Meinung, auch in dem Gesicht der einen Frau, von der ich nicht erahnen konnte, mit welchem Wissenstand sie hier angereist ist. Zum Glück habe ich mit ihr kein einziges Wort gewechselt.
Die Führung wird beendet und es gibt zurückhaltenden Applaus. Schnell gehen alle auseinander, nur ich trete an den Wissenschaftler heran und sage ihm, dass mir seine Führung sehr gefallen hat, wenn ich nicht sogar begeistert davon bin. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse meinen Mann, der irgendwo im Verkaufsladen nach Fachliteratur sucht, von der er wohl kaum etwas verstehen wird. Hauptsache, er zeigt, wie sehr er in dem Thema drin steckt. Nach außen, versteht sich.
Wir beide hingegen machen uns über die Besucher lustig. Ich kann offen zugeben, dass ich nicht mal alles das verstanden habe, was der Wissenschaftler uns erklärt hat, aber er ist sich sicher, dass die anderen Besucher auch nicht mehr verstanden haben, es nur nicht zugeben wollen.
Auf dem Nachhauseweg schweigen mein Mann und ich lange, bis er äußert, wie enttäuscht er von dem Besuch ist. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sage, doch ich weiß auch, dass er noch weitere solche Besuche in seinem Kopf hat. Und so entscheide ich mich zu einem nichtssagenden Geräusch, das bei ihm als Bestätigung ankommt.

Christian Knieps: Pitch Deck

Number Factory ist wie Backen nach Zahlen – Würfel dir die Welt, wie sie dir gefällt!
Danny de Pedrosa y Jesus geht zum Boardroom, um seine neue Strategie zu pitchen. Heute ist Senior Management Meeting, und Danny hat sich eine neue agile Strategy für Finance results and adjustments ausgedacht – endlich gab es eine crispy Methode, um per multiplen Würfeln die P&L zu generieren, ohne Aufwand, auf Basis von stochastischen Methoden, quasi Advanced Dungeons and Dragons Style mit Unternehmensergebnissen.
Er tritt ein und möchte die Stimmung anfühlen, ob er den Flow spüren kann, das vorherrschende Mindset, damit er auf Augenhöhe mit dem Management sein Mission Statement performant präsentieren kann. Er koppelt seinen Laptop mit dem Smartboard und beginnt das Big Picture auszurollen, will alle mitnehmen und zieht daher alle Register seines Storytellings, in dem er von Mehrwert, Employee DNA und Nachhaltigkeit in systemgestützten Prozessen spricht, ehe er zum eigentlichen Thema kommt: dem Outplacement von einigen Lowperformern, da das Würfeln des Unternehmensergebnisses die hohe Kunst – quasi Rocket Science für Raketenwissenschaftler – ist. Das gesamte Finance Team müsste resilienter werden, näher ans Business rücken, Guide und strategischer Berater werden, Steuermann/frau/divers, Feedback gebend, wertschätzend, mit Augenmaß! – und was ist gerechter als der Zufall!? Also warum das Intrapreneurship evaluieren, warum Big Data nutzen und die Unternehmenskultur durch permanentes Coaching umkrempeln, wenn man doch einfach Würfeln kann?
Das Feedback am Ende seiner Summary ist positiv, das Commitment des Managements ist vorhanden und Danny ist am Ziel: er hat mit seiner Keynote zur neuen Unternehmensstrategie nicht nur proaktiv alles gegen die Wand gefahren, sondern auch induktiv und disruptiv eine gesamte Silowelt an den Pranger gestellt und ausgewürfelt. Alia iacta est!

Christian Knieps: Sridayan

Im weiten Raum der Stille. Ein Mann (N) ist einfach da.

N: Immer, wenn ich durch den Raum schwebe, beginne ich zu tanzen. Ich tanze in der Luft, umschwinge mich selbst, erhöre meine Bewegungen, ertaste meine Wahrnehmung, werde eins mit meiner Selbst. Ich bin und ich werde in einem Moment, in dem ich schwebend durch den Raum gleite.

Er geht ein wenig umher, nahezu schwebend.

N: Trotz dessen, dass ich durch den Raum schwebe, in der Luft tanze, mit mir eins werde und zugleich bin, höre ich ein fremdes Geräusch, das tief in mir drin ist. Ein Geräusch, das mich beständig begleitet, auf meinen Wegen, zu meinen Taten – es ist immer da und möchte nie selbst vergehen.

Er steht erneut an einer Stelle, schaut nach oben.

N: Erst, wenn ich mich entscheide, die Stille zu suchen, wenn ich mich darauf fokussiere und meine gesamte Energie in diesem Richtung lenke, dann passiert es, dass ich mich zu dieser Stille hinbewege. Das fremde Geräusch begleitet mich auf dem Weg dorthin, doch mit jeder Etappe, die ich auf meinem Weg zu Stille hinter mich bringe, erlange ich ein Stück mehr Ruhe und Gelassenheit.

Bewegt sich durch den Raum. Die Bewegungen werden fließender und auf ihre Art und Weise leiser.

N: Wenn ich mehr als die Hälfte der Strecke hinter mir habe, ist das fremde Geräusch so leise geworden, dass ich beginne, meine eigene Stimme, die tief in mir verborgen liegt, direkt neben der Stille, quasi an- und abgekoppelt zur gleichen Zeit, zu vernehmen. Erst als Gefühl, dass ich etwas Vertrautes höre, dann immer klarer und klarer, bis ich schließlich die innere Stimme sehr deutlich höre.

Er bleibt stehen und spricht mit seiner inneren Stimme. Diese wird in ganz kleinen Schritten lauter.

N: Sridayan! Sridayan! Sridayan! Es ist mein Mantra, meine innere Stimme, das Gefühl, mein Kompass in der Weite, der Weg aus den Irrgarten meiner Selbst! Ich muss nur dieser Stimme, diesem Wort folgen und ich finde meine Mitte, meine Stille. Sridayan! Sridayan! Sridayan…

Er wird langsam wieder leiser. Dann, plötzlich, geht ein Ruck durch seinen Körper und er wacht aus seiner Versunkenheit auf.

N: Es mag vermessen klingen, den Punkt, an dem ich meine Stille finde, dort zu verorten, wo dauerhaft ein Wort erklingt. Meine innere Stimme erklingt dort, wo meine Stille in mir selbst ist. Und schreit quasistumm Sridayan! Wie passt das zusammen? Diese Frage stelle ich mir nicht mehr, nachdem ich verstanden habe, dass der innere Kern, die innere Stille nichts mit der Vorstellung eines geräuschlosen Ortes ist, sondern dort, wo wir uns selbst in der Stille befinden. Bei manchen Menschen ist dort sogar ein heftiger Sturm zu finden – mein Sturm ist Sridayan! Sridayan! Sridayan!

Mit einem wissenden Nicken geht er ab.
Alle ab.

Christian Knieps: Der Mann mit der Lampe

Ein-Mann-Eine-Szene-Ein-Kurzstück.

Personen

Der Mann mit der Lampe.
Der Anrufer (nur als Stimme).

Set

Neben einem Lesesessel steht eine Lampe. Eine mit einem großen Stoff-Schirm, wie sie in den Siebzigern modern waren. Nicht zu bunt, aber auch nicht zu altbacken. Der Lampenständer sollte aus einem glänzenden Material sein, z.B. Messing. Auf der anderen Seite des Lesesessels steht ein Beistelltischchen, auf dem mehrere Bücher und ein Handy liegen.

Szene

Ein Mann sitzt in dem Lesesessel und liest ein Buch. Er ist auf einer der letzten Seiten. Neben ihm brennt die Lampe und bietet genügend Licht, um gut lesen zu können. Der Mann blättert eine Seite nach der anderen um, liest. Zwischendurch lächelt er an einer Stelle, dann wieder legt er seine Stirn in Runzeln. Am Ende des Textes hält er kurz ein und starrt auf die letzte Seite, dann klappt er das Buch zu, fährt mit der flachen Hand über das Cover, nimmt es hoch, schaut wie gebannt auf den Umschlag und küsst das Buch sanft und innig. Dann schließt er die Augen, führt das Buch an seine Brust, hält es wie eine überaus wichtige Sache fest umschlungen.
Mann indem er mit geschlossenen Augen spricht; ruhig:
Wie schön wäre es nur, solch ein erfülltes Leben zu führen! Unfassbar! Einfach unfassbar! Diese Liebe! Diese tiefempfundene Liebe! Dieses Vertrauen! Dieses unendliche Vertrauen! Warum kann es eine solche Liebe, ein solches Vertrauen, ein solches Leben nicht in Wirklichkeit geben? Warum müssen wir uns damit abfinden, dass es niemals so sein wird wie im Roman? Warum kann die Welt nicht so sein, dass wir uns gegenseitig respektieren, lieben, verstehen, achten…
Das Handy klingelt; der Mann ist im ersten Moment erschrocken, legt dann aber das Buch auf seinen Schoß, nimmt das Handy, drückt eine Taste und hält es an sein Ohr.
Mann indem er recht unsicher spricht:
Hallo?!
Anrufer dessen Stimme aus dem Hintergrund gut zu hören ist:
Nun ja! Ähm! Hallo!?
Mann verwirrt:
Hallo?!
Anrufer seinerseits verwirrt:
Ja! Ähm! Hallo?! Ist da wer? Der Mann zögert kurz, dann schaut er auf sein Handydisplay. Habe ich irgendwen in der Leitung? Hallo?!
Der Mann im Lesesessel legt auf und sein Handy auf den Beistelltisch.
Mann:
War wohl ein Verwirrter! Oder einer, der sich verwählt hat! Mich ruft doch sonst keiner an! Schüttelt den Kopf und findet das Buch auf seinem Schoß, nimmt es auf und betrachtet das Cover, als das Handy erneut klingelt. Was soll das?! Indem er sein Handy aufnimmt und erneut auf die Annahme-Taste drückt. Was wollen Sie?
Anrufer:
Nun ja! Eigentlich mit Ihnen sprechen, aber…
Mann:
Aber was?
Anrufer:
Sie scheinen nicht in der Stimmung zu sein, um mit mir zu sprechen.
Mann:
Das hat nichts mit meiner Stimmung zu tun!
Anrufer:
Nicht? Womit dann? Es kommt keine Antwort. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie…
Mann:
Wer zum Geier sind Sie eigentlich?
Anrufer:
Habe ich mich nicht vorgestellt? Ach du meine Güte! Klar, dass Sie sich nicht wohl fühlen, wenn ich… Aber ja, klar, ich kann mich Ihnen vorstellen. Also, nun ja, ich bin… na ja, ich denke, Sie würden Gott zu mir sagen! Der Mann zögert und ist wie versteinert. Hallo?! Noch in der Leitung? Ein wenig schreiend. Hallo?!
Anstatt zu antworten, nimmt der Mann das Handy vom Ohr und legt auf.
Mann sein Handy weglegend:
Was für ein Spinner! Erst will er mir nicht verraten, wer er ist und dann das! Ich… Das Handy klingelt erneut. Nicht schon wieder! Soll es doch klingeln. Das Handy klingelt mehrfach, doch der Mann reagiert nicht. Er sitzt im Lesesessel und starrt vor sich hin; ist beinahe regungslos. Das Handy klingelt immer weiter, sodass er irgendwann nervös wird, aggressiv sein Telefon ergreift und auf die Annahmetaste drückt. Was?!
Anrufer:
Auch wenn Sie aufgelegt und mich einen Spinner genannt haben, möchte ich dennoch mit Ihnen…
Mann:
Woher wissen Sie, dass ich Sie einen Spinner genannt habe?
Anrufer:
Vielleicht, weil ich Gott bin und alles weiß! Ich weiß auch, dass Sie immer noch nicht daran glauben, dass ich Gott bin!
Mann:
Wie sollte ich auch! Immerhin…
Anrufer:
Immerhin muss man an mich glauben, was vielen nicht mehr so leicht fällt, nicht wahr?
Mann:
Irgendwie so was! Ich kann mir aber immer noch nicht vorstellen, dass Sie Gott sein sollen! Ich meine, warum rufen Sie mich an? Warum schlüpfen Sie nicht in irgendeinen Körper, kommen vorbei und reden mit mir? Oder zünden sich an und kommen als brennender Dornenbusch…
Anrufer:
Sie meinen, ich soll mich so verhalten wie in den Geschichten der Menschen, an die so viele glauben? Würde Ihnen das vielleicht helfen?
Mann mit einem Mal unsicher wirkend:
Nun ja, ich denke schon.
Anrufer:
Schauen Sie zu ihrer Lampe! Indem der Mann tatsächlich seinen Kopf zur Lampe dreht, geht diese aus und wieder an. Nun, sind Sie jetzt überzeugt.
Mann:
Nicht wirklich. Ich meine, das kann auch ein billiger Trick sein, den Sie irgendwie über den Strom steuern und irgendwie so…
Anrufer:
Glauben Sie das wirklich? Sie wollen mir also sagen, dass Sie eher daran glauben, dass ich die Stromverbindung an einer Ihrer Steckdosen manipulieren kann, als dass Sie daran glauben, dass ich das bin, was Sie Gott nennen?
Mann:
Ist das eine rhetorische Frage?
Anrufer:
Glauben Sie? Beide schweigen für einen Moment. Ich könnte auch den Lampenschirm wackeln lassen. Der Lampenschirm wackelt. Oder das Licht flackern lassen. Das Licht flackert. Oder wenn Sie es verlangen, kann ich sogar die Lampe etwas singen lassen. Die Lampe bewegt sich, das Licht verändert sich und aus dem Hintergrund ertönt »I’ve Got You Under My Skin« von Frank Sinatra. Der Mann betrachtet das ganze staunend. Als die Musik endet. Glauben Sie mir jetzt?
Mann:
Ich soll Ihnen glauben, dass Sie der Gott in der Lampe sind?
Anrufer:
Von mir aus auch das! Nennen Sie mich den Gott in der Lampe! Wenn Sie damit an mich glauben!
Mann stotternd, unsicher:
Ich… Ich weiß nicht… Was wollen Sie? … Ich meine, was… Was ist der Grund… Ihres Anrufes? Ich bin doch nur ein kleines Licht! Selbst… Selbst der Schein… Der Schein dieser Lampe ist größer als mein Licht!
Anrufer:
Ich habe Sie eben beim Lesen Ihres Buches beobachtet und dachte mir, dass Sie wahrscheinlich der Richtige sind!
Mann:
Der Richtige wofür?
Anrufer:
Um wieder Liebe, Wärme, Vertrauen, Respekt und all das unter die Menschen zu bringen! Langes Schweigen. Hallo?! Sind Sie noch in der Leitung.
Mann kaum ein Wort hervorbringend:
Ja! Ich… Aber…
Anrufer:
Ich kann verstehen, dass das jetzt alles etwas zu viel für den Moment ist. Auch die anderen Propheten haben…
Mann fassungslos:
Sie wollen aus mir einen Propheten machen? Ich soll…
Anrufer:
Keine Angst. Das passiert nicht von heute auf morgen. Wir bauen das langsam auf, beginnen mit einfachen Aufgaben, ehe Sie…
Mann plötzlich aggressiv, aufstehend:
Was wollen Sie eigentlich? Wer sind Sie? Sie sind nicht Gott! Sondern irgendwer von irgendeiner Sekte, die Kontrolle über mein Stromnetz und meine Lampe… dreht sich zur Lampe Und lassen Sie meine Lampe in Ruhe! Schmeißt sein Handy auf den Lesestuhl, fasst die Lampe am Schirm, schüttelt diese. Raus aus meiner Lampe! Raus aus meinem Haus! Raus aus meiner Steckdose! So laut wie nur möglich brüllend. Einfach raus hier!
Anrufer:
Ist ja schon gut! Ich wollte doch nur…
Mann schreiend:
Raus! Sofort!
Anrufer:
Da will man den Menschen was Gutes tun und Sie zur Liebe unter den Menschen zurückführen – und was bekommt man? Unfassbar diese…
Mann schreiend:
Raus! Verlassen Sie sofort mein Haus! Sucht das Handy, stürzt sich fast auf den Lesesessel und legt auf. Ist das denn zu fassen? Was es da draußen für Irre geben muss. Hält sich die Hand vor den Mund. Ich muss aufpassen, denn nicht nur das Stromnetz scheint manipuliert worden zu sein. Auch muss es hier überall Wanzen geben. Untersucht zunächst den Tisch, dann den Lesesessel, ehe er zu der Lampe übergeht, unter dessen Schirm er sogar seinen Kopf steckt. Wo sich diese Wanzen nur verstecken? Erneut flackert das Licht und der Mann zuckt aus dem Schirm zurück. Schreiend. Das ist nicht witzig! Das ist gar nicht witzig! Aufhören! Sofort aufhören! Geht zum Schalter und schaltet die Lampe aus, doch gleich darauf schaltet sich die Lampe wieder ein. Der Mann schaltet sie noch mehrfach aus, doch jedes Mal geht die Lampe wieder an. Na warte, dir werde ich es zeigen! Indem er den Stecker zieht und beginnen will, die Glühbirne aus der Lampe zu drehen, geht die Lampe erneut an. Wundernd. Wie ist das nur möglich?
Anrufer aus dem Hintergrund; mit wohlwollender Stimme:
Ganz einfach! Weil ich dein Gott bin und nicht nur in deiner Lampe wohne! Willst du jetzt an mich glauben?
Mann für einen Moment geschockt, dann sieht er sich wie ein gehetztes Tier nach allen Seiten um und rennt aus dem Raum; dabei:
Hilfe! Hilfe! Irgendwer verfolgt mich! Hilfe!
Ab.
Anrufer aus dem Hintergrund; aufseufzend:
Noch vor wenigen Jahren wären die Menschen in Ehrfurcht erstarrt, wenn ich das mit der Lampe gemacht hätte! Wie viele haben sich vor den Ständer gekniet und den Lampenschirm als ihren Gott angebetet? Und heute? Selbst das größte Wunder bedeutet für die Menschen kaum mehr als dass sie dahinter einen Trick vermuten! Leiser, fast schon resignierend. Schöne neue Welt, in der das Wunder der Lampe kaum mehr ist als ein Trick! Leiser. Fade out. Nicht mal in einer Lampe ist Platz für mich. Ganz leise. Schöne, neue Welt, in der ich keinen Platz mehr im Leben der Menschen finde.
Alle ab.

Christian Knieps

Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet als Abteilungsleiter bei DHL Express in Bonn und schreibt Theaterstücke (veröffentlicht in der Theaterbörse, im adspecta Theaterverlag, Plausus Theaterverlag, mein-theaterverlag und Ostfriesischer Theaterverlag), Kurzgeschichten (in einigen Zeitschriften wie Prolog, Dreischneuß, eXperimenta, LitGes, Dichtungsring… veröffentlicht) und Romane.


Christian Knieps bei EBMD:

Christian Knieps: Der Wanderer

Der Wanderer hatte sein Ziel fest im Blick und schien dennoch noch weit davon entfernt zu sein. Den Gipfel hinan richtete er seine Augen und wusste, dass er die alte Burg von dieser Stelle des Berges aus sehen würde. Als er endlich schnaufend und mit verausgabten Kräften sein anvisiertes Ziel erreichte, ließ er sich auf einen Steinblock nieder und schaute gen Sonne, die hinter der Burgspitze stand und das vor ihm ausgebreitete Tal hell erstrahlte. Durch die Wolken gleißte das Licht in verschiedenen Sphären und malte sonderliche Konturen auf den Boden und die Wälder, mal schattig, mal sonnig, aber immer mit einer raumgreifenden Helligkeit.

Langsam packte der Wanderer eine Wegration aus seinem Rucksack, trank etwas und begann, die mitgebrachte Wurst zu zerkleinern, als er unvermittelt den Kopf hob und etwas zu sehen bekam, von dem er bis ins Mark erschrocken zurückblieb. Aus der Sonne hatte sich ein gleißendes Etwas gelöst und auf den Weg zur Burg gemacht. Wie eine sanfte Feder sank dieses Etwas Richtung Burg nieder, leicht schwankend, sodass der Blick des Wanderers wie gebannt war.

Wie viele Minuten vergingen, konnte der Zuschauende nicht sagen; nach einer geraumen Weile stand dieses Etwas als leuchtender Punkt über der Burg und schien zu warten. Worauf, das wusste der Wanderer nicht, aber als die Sonne hinter der Wolke hervorkam und das Tal vollends bestrahlte, verband sich dieses Etwas mit der Sonne und gab die Strahlkraft weiter an die Burg, sodass diese hell erleuchtete.

Der Wanderer war fasziniert von dem Schauspiel, das nach einer schieren Unendlichkeit zu Ende ging. Die Wurst hatte er immer noch in seiner Hand und ließ sie auf dem Platz liegen, packte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg ins Tal. Dort angekommen hörte er von einer alten Frau, die sich mit einer anderen unterhielt, wie die Prinzessin, die in der Burg lebte, vor wenigen Stunden ein gesundes Kind geboren hatte. Plötzlich war dem Wanderer bewusst, dass er etwas erlebt hatte, das nicht für seine Augen bestimmt gewesen war, das aber ab nun ein Teil seiner eigenen Legende sein würde.