Die Gesellschaft um mich herum hat sich in einen wahnsinnigen
Geschwindigkeitsrausch versetzen lassen, der alleine dazu dient, die
Gegenwart durch immerwährenden Wandel nicht zu langweilig werden zu
lassen. Die Moden wechseln derart schnell, dass man eine verpasste Mode
nicht mal bemerken muss, und ganz bestimmt muss man sich keine Gedanken
darüber machen, denn die nächste ist schon da! Solange man nicht zu viele
Moden verpasst und als outdated oder immergestrig gilt, ist alles reparabel, da
das Gedächtnis mit diesen Moden ebenso leidet wie oft der Geschmack.
Ich wage jetzt etwas Verwegenes! Ich durchbreche diesen wahnsinnigen
Geschwindigkeitsrausch und bremse mit ordentlicher Spur ab, halte kurz ein,
betrachte die Moden, die an mir unberührt vorbeiziehen, und stelle mit
leichter Freude fest, dass absolut nichts Neues dabei ist – allenfalls eine neue
Abmischung verschiedener Moden der Vergangenheit. Die Beschleunigung der
Kurzfristigkeit der Moden führt zu dem absurden Phänomen, dass
Normalaltwerdende eine Mode mehrere Male erleben können, was den
unschlagbaren Vorteil mit sich bringt, Kleidungsstücke nicht mehr entsorgen
zu müssen, da diese in wenigen Jahren wieder en vogue sein werden – wobei
jedoch der Nachteil des zu kleinen Kleiderschranks ebenso mehr als evident
wird.
Während die Moden so an mir vorbeizischen, überkommt mich das Gefühl
einer latenten Nervosität, dass ich am Ende durch meine Pause doch mehr
verpassen würde, als ich es noch vor wenigen Momenten stock und steif
behauptet hätte. Ich muss meine gesamten Übungen zu Atemtechniken
auffahren, dass ich nicht in einen Zustand der Hyperunsicherheit gerate –
denn, wenn man einmal in einem solchen Zustand ist, ist man dem Wahnsinn
ausgeliefert, ohne Macht und Widerstand, ohne Willen und Resilienz. Dann
können Populismus und Metamoden viel einfacher in das eigene Gehirn
einziehen und sich dort breitmachen, als Folge eines Abgehängtseingefühls,
das man nie wieder verspüren möchte.
Ich für meinen Teil bekomme gerade noch mal die Kurve, das Vehikel, in dem
ich mich befinde, versetzt nur kurz, bricht aber nicht aus, sodass ich dagegen
ankämpfe, gegen einen Teil meines Selbst kämpfe – und traurigerweise die
tiefere Erkenntnis habe, dass ich auch verliere, wenn ich gewinne! Was ich
aber auf jeden Fall gewinne, sind die vielen abschätzigen Blicke meiner
Mitmenschen, die bisher dachten, dass ich aktuell und hip wäre, doch jetzt
erkennen sie den wahren Kern von mir: den gestrigen, noch nicht den
Ewiggestrigen. Vielleicht ist auch bei diesem turning point die Antwort 42,
denn seit Überschreiten dieser Grenze habe ich das Gefühl, dass sich das
Hetzen nach vorne nicht mehr so lohnt, denn statistisch ist es die zweite Hälfte
des Lebens – und anders als im Fußball gibt es keine dritte Halbzeit, in der
gefeiert wird.
Ich stehe also hier und sehe die nächsten Moden an mir vorbeiziehen, trage
meine alten Klamotten auf, verhalte mich, als wäre ich in der Entwicklung
irgendwann stehengeblieben, höre mir von meinen Kindern an, dass ich super-
mega-cringe bin, weil ich die neuesten Moden im social network mit vollem
Herzen missachte, und fühle mich gut damit.
Das Lustige an diesem Morgen ist, dass sich die Moden so sehr einmal um sich
selbst gedreht haben, dass ich mit meinem Stil und meiner Art wieder ein
angesagter Sportsfreund bin, was ich inzwischen etwas peinlich finde – doch
ich ahne, dass diese Mode spätestens beim nächsten Kaffee schon wieder
cringe bin. So soll es auch sein! Metamoden, was für ein Käse!
Schlagwort: christian knieps
Christian Knieps: Räum auf!
Letztens kam ich in das Zimmer meines pubertierenden Sohnes und es sah aus, als hätte er den nicht ernst gemeinten Auftrag ernst genommen, jeden Quadratmillimeter seines Bodens mit irgendeinem Gegenstand zu bedecken. Zwischen dem Gefühl der Freude, dass mein Sohn etwas mit einer solchen Konsequenz betrieben hatte und dem aufwallenden Zorn, dass mein eigentlich gemeinter Auftrag wieder einmal völlig ignoriert worden war, fand ich im hinteren Bereich des Zimmers eine kleine Ecke, wo ich den Boden sehen konnte – und das Gefühl der Freude hatte keine Chance mehr. Ich nahm tief Luft und ließ den Zorn über meine Stimmbänder entweichen, doch die erwartbare Reaktion meines Sohnes zeigte mir, dass er seine Legierung mit Teflon überpinselt hatte, denn es kam nicht mehr der zarteste Hauch einer Kritik bei ihm an. Doch, o Wunder, bemerkte ich plötzlich eine Regung in seinem Gesicht und ein noch etwas unausgereifter Blick der Überlegenheit – man möchte nicht gleich sagen: Überheblichkeit! – zeigte sich.
»Dein Vorwurf, lieber Vater«, begann er mit einer viel zu freundlichen Stimme, »läuft ins Nichts, da Chaos im Griechischen weiter, leerer Raum bedeutet, und ich interpretierte das so, dass mein leeres Zimmer nicht unaufgeräumt sein kann!«
Ich gebe zu, ich war baff, aber vor allem musste ich mir selber eingestehen, dass das Gefühl der Freude plötzlich die Oberhand hatte. Mein Sohn sah und genoss seinen klaren Sieg, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sicherlich die Momente des Bildschirmanbetens maximieren würde.
Auch ich nahm mein Handy aus der Tasche und wollte mich nicht so einfach geschlagen geben, denn ein verlorener Kampf macht noch keine verlorene Schlacht, und ich wühlte mich durch eine Vielzahl an unwissenschaftlichen Meinungstexten, ehe feststand, dass er zwar gewonnen hatte, es aber allenfalls ein Pyrrhussieg sein würde! Ich stapfte meinem Sohn hinterher ins Wohnzimmer, stellte den Ignoranten, wie er seinen Bildschirm anbetete, und fabulierte über die Zusammenhänge der griechischen Mythologie, redete über Chaos, Kosmos, Gaia, Nyx, Tartaros, Erebos, Eros und wie sie auch alle hießen, ehe ich zu dem Punkt gelangte, den ich vor allem machen wollte, und zwar den etymologischen Beweis, dass sich die Bedeutung des Wortes über all die Jahrhunderte verändert hatte und nun einfach nur Unordnung bedeutete, doch da war es wieder, das Teflon! Ich bemerkte viel zu spät, dass mir mein Sohn so gar nicht zugehört hatte, und vor meinen Augen stand das Endergebnis dieser Schlacht: 3:0 für ihn. Tief in mir sammelte sich etwas, das sich wie die Urwut anfühlte, doch bevor ich meine letzte Elternwürde aufs Spiel setzte, sollte ich ihn anschreien, sprang ich über meinen Schatten und bot an, sein Zimmer mit ihm zusammen aufzuräumen. Auch wenn ich dann sicherlich mehr als drei Viertel der Arbeit machen musste, würde unser Leben von einer großen Unordnung wieder ein klein wenig mehr in Richtung Ordnung geschoben – die Seite des Lebens, die ich einfach viel mehr mag!
Christian Knieps: Guerilla Sale
In einem Geschäft für Schlafzimmermöbel. An einem Schreibtisch sitzt ein gelangweilter Verkäufer und schlürft an seinem Kaffee. Beide Füße, an denen weiße Golfschuhe prangen, liegen auf dem Tisch. Es ist nichts los im Laden. Plötzlich ertönt die Eingangstüre, und ein potentieller Kunde kommt in den Laden. Dieser geht schnurstracks zu dem Verkäufer und setzt sich an den Tisch auf einen bereitstehenden Stuhl. Beide mustern sich eine Weile.
Verkäufer ohne sich zu regen:
Kann es sein, dass Sie gar nichts kaufen wollen? Sondern nur hier sind, um Stunk zu machen und meine Zeit zu fressen? Wenn Sie eine Beratung wollen, gehen Sie irgendwo hin, aber stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit!
Kunde:
Lassen wir das dumme Gequatsche! Mein Kumpel hat mir gesagt, dass es hier in diesem Laden einen Verkäufer gibt, auf dessen Beschreibung Sie haargenau passen, und der es schafft, Möbel zu horrenden Preisen zu verkaufen, ohne dass man eigentlich überhaupt was kaufen wollte! Nun, sind Sie das?
Kurze Pause.
Verkäufer:
Wenn es mich interessieren würde, wer Ihr Kumpel ist, würde ich mich jetzt am Kopf kratzen. Der Kunde schaut ihm auf dem Kopf. Anstatt, dass ich mir den Kopf kratze, kratze ich mir den Sack. Gehen Sie, bevor Sie noch mehr meine Zeit stehlen!
Kunde:
Mein Kumpel nannte es Guerilla Sale, was Sie machen würden. Ich bin ganz offen und ehrlich! Ich habe wenig Kohle und möchte auch nichts kaufen, will aber erfahren, wie Sie meinen Verstand brechen, um ein völlig überteuertes Geschäft zu machen, das ich weder brauche noch möchte.
Verkäufer:
Wie viel Bargeld haben Sie dabei?
Kunde:
Zweitausend. Frisch von der Bank abgehoben. Jetzt ist das Konto leer!
Verkäufer:
Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Blankovertrag hinlege, wir tragen die zweitausend Euro als Betrag ein, Sie unterschreiben, gehen nach Hause und bekommen von mir irgendwas geliefert? Irgendwann einmal. Mit ein bisschen Rabatt sogar, wenn ich einen guten Tag habe. Dann wäre das ein angemessener Stundenlohn dafür, dass ich mir schon seit einer gefühlten Ewigkeit Ihr dummes Gewäsch anhören muss!
Kunde:
Man unterschreibt doch keinen Kaufvertrag, in dem zwar die Summe, aber nicht der Lieferinhalt aufgeführt ist!
Verkäufer:
Meine Kunden schon!
Kunde:
Ich werde das nicht unterschreiben!
Verkäufer:
Dann ist das Gespräch hiermit beendet. Sie kennen ja den Weg zum Ausgang. Sind ihn auch hierher zum Stuhl gekommen. Einfach zurückgehen und aufpassen bei der Tür. Die ist von innen geschlossen! Nicht, dass Sie sich den Kopf stoßen!
Der Kunde ist das erste Mal verwirrt. Nach einem Moment des Schweigens steht er auf und nimmt die zweitausend Euro aus dem Portemonnaie und legt sie auf den Tisch.
Kunde:
Ich will was verkauft haben!
Verkäufer:
Und ich will Ihnen nichts verkaufen! Versuchen Sie es an der Ecke bei der Pommesbude! Die verkaufen Ihnen sicher eine Currywurst, Pommes rotweiß, und Sie müssen nicht mal zweitausend latzen. Also, Tschüss jetzt. Gehen Sie mir aus der Sonne!
Kunde:
So funktioniert das nicht! Sie haben hier Angebote stehen, die ich annehmen werde. So funktioniert das in einem Kaufhaus! Sie machen Angebote, ich suche mir eins aus und kaufe es! Sie können nichts dagegen machen!
Verkäufer:
Klar kann ich das! Ich sage Ihnen, dass das, was Sie sich aussuchen, leider schon verkauft ist. Wir haben keine Ware im Angebot! Kurze Pause. Wären Sie jetzt so freundlich, Ihr Geld einzupacken und zu verschwinden! Wenn andere Kunden reinkommen, die wirklich was kaufen wollen, dann spüren sie die schlechte Stimmung, die Sie hier verbreiten und gehen dann wieder! Das wäre mir übrigens sehr unrecht – daher Abmarsch!
Der Kunde lässt sich nicht beirren und die zweitausend Euro auf dem Tisch liegen. Er geht durch den Laden und schaut sich die Schlafzimmermöbel an.
Kunde:
Was ist das für ein Bett?
Verkäufer:
Ist ein verkauftes Bett!
Kunde:
Und das hier?
Verkäufer:
Auch verkauft!
Kunde:
Und das?
Verkäufer:
Wollen Sie jetzt wirklich alle Betten durchgehen, um festzustellen, dass kein einziges hier ist, das ich Ihnen verkaufen kann? Würden Sie jetzt endlich meine Stimmung schonen und abdampfen?
Kunde kehrt zum Tisch zurück:
Nein, das werde ich nicht! Ich bleibe solange, bis Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Der Laden schließt in dreieinhalb Stunden. Wenn Sie so viel Zeit haben, bleiben Sie einfach sitzen. Dann können wir warten, ob Sie nicht doch einen Blankovertrag unterschreiben, sagen wir mit einer Summe von zehn-, fünfzehntausend. Dann würde sich meine Laune deutlich steigern.
Kunde:
Wo soll ich so viel Geld herholen?
Verkäufer:
Kenne ich Ihre Finanzen? Weiß ich, wie viele Kredite Sie laufen haben? Was Sie angespart haben? Ob Sie nicht irgendein Typ sind, der ein Kaufvertrag unterschreibt, um davon zurückzutreten? Das machen wir übrigens nicht. Wir geben keine Kulanz auf Rückgabe. Nur dass das von vorneherein klar ist. Falls Sie sich doch noch umentscheiden und ein ordentliches Bett kaufen wollen.
Kunde:
Ich habe ein ordentliches Bett!
Verkäufer:
Klar! Wenn das so ist – was machen Sie dann noch hier, außer mich anzunerven?
Kunde:
Ich möchte, dass Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Wie gesagt, das wird nichts! Ersparen Sie uns doch einfach die nächsten sinnfreien Gesprächsfetzen und verlassen Sie den Laden. Das würde uns beiden den Tag retten. Vertrauen Sie mir dabei, ich habe eine riesige Expertise beim Retten von Tagen!
Kunde:
Ach, wirklich?!
Verkäufer:
Ja! Ihrem Kumpel habe ich ja auch den Tag gerettet!
Kunde:
Sie wissen, wer mein Kumpel ist?
Verkäufer:
Das brauche ich gar nicht! Ich kenne den Typen. Verweichlicht, kommt mit seiner Frau, unter deren Fuchtel er steht. Er will eigentlich nichts kaufen, ist pissed und genervt von meiner Laberei. Die Frau ist an mir interessiert, weil ich ein geiler Typ bin, und der Mann denkt sich, was ein Arsch! Aber ein Arsch mit Ahnung, und weil der meine Frau bearbeitet, muss er sich jetzt aus seinem Schneckenhaus hervorwagen und einen Krieg mit mir beginnen, der schneller als gedacht zu Ende ist. Am Ende haben wir vage was abgesprochen, es wird ein Kaufvertrag unterzeichnet und ich kann eintragen, was ich will. Der Gegenstand wird völlig überteuert verkauft, aber weil das immer noch eine richtig gute Qualität ist, ist auch der Kunde zufrieden und schläft in seinem Bett super, weil er entweder wirklich gut schläft oder weil sein Arsch beim Ficken nicht mehr ganz so tief einsackt, wenn die Frau auf ihm reitet. Egal, am Ende ist das eine Win-Win-Situation. Das, was Sie mit mir hier machen wollen, ist Selbstbefriedigung! Und das ist etwas, das mich nervt. Ich will nicht genötigt werden, für was herzuhalten, woran ich keinen Spaß habe. Ich sage Ihnen daher etwas – für unser beider Wohlgefallen: ich sichere Ihnen zu, dass Sie ein Bett erhalten, das einwandfrei ist und auf dem Sie jede Frau glücklich machen, die Sie hineinbekommen. Dafür fülle ich jetzt schnell und dreckig einen Kaufvertrag über fünfzehntausend Euros aus, den Sie unterschreiben. Die zweitausend behalte ich als Vermittlungsprovision, nicht als Anzahlung. Wenn Sie dann unterschrieben haben, fahren Sie nach Haus, sprechen mit Ihrer Bank und überweisen das Geld bis übermorgen.
Kunde sehr verunsichert:
Wann… Wann könnte ich… könnte ich denn dann mit einer Lieferung rechnen?
Verkäufer bewegt sich das erste Mal mit Schwung und klickt ein wenig im Computer an der Seite:
Vermutlich in diesem Jahrtausend noch. Keine Ahnung, solange, wie es halt dauert. Genauer geht es nicht! Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie einmal in dem Bett eingeschlafen sind, werden Sie wissen, dass es die richtige Entscheidung war. Er klickt noch einmal, streckt dann die Hand aus. Meine Provision! Bitte! Der Kunde nimmt den Geldstapel und gibt ihn mechanisch an den Verkäufer. Dieser steckt das Geld weg und zieht ein einzelnes Papier aus dem Drucker hervor. Hier bitte eine Unterschrift! Gibt dem Kunden einen Kugelschreiber, dieser nimmt ihn und unterschreibt den Vertrag. Und jetzt finden Sie ja bestimmt den Weg nach draußen! Einen schönen Tag noch.
Kunde ganz verunsichert:
Bekomme ich kein Vertragsexemplar?
Verkäufer:
Warum sollte ich Ihnen denn einen geben? Sie haben ja nicht vor, irgendwas zu reklamieren! Also bis bald! Vielleicht rufe ich Sie an.
Der Kunde steht wie benommen auf und taumelt auf den Ausgang zu. Das letzte im Stück, das man vernimmt, ist der Ton, der ertönt, wenn die Türe geöffnet wird. Alle ab.
Christian Knieps: Tagebuch eines Vollzeitgenervten
Als meine Eltern in den Urlaub fahren wollten und sie das Wort Sommerfrische fallen ließen, dachte ich an Strand und einer frischen Brise und entschied, mit ihnen zu fahren, obwohl ich auch die Chance hatte, zu Hause zu bleiben. Es ist meinem Alter von 16 Jahren geschuldet, dass ich versuche, mich so wenig wie möglich mit meinen Eltern abzustimmen, da mir die lieb gewonnenen Freiheiten sehr wichtig sind. Daraus ergab sich, dass ich Sommerfrische falsch interpretierte und davon ausging, dass wir an einen Strand fahren würden, doch als wir uns auf dem Weg befanden und ich realisierte, dass das Navigationsgerät uns direkt in die Berge nach Österreich führte, schwante mir Übles. Doch ich hätte nie erahnen können, wie übel es werden würde, denn als wir ankamen, stellte ich fest, dass wir keinerlei Internet vor Ort besaßen – weder über kabelgebundenes WLAN, noch über eine ausreichende Datenverbindung via Satellit oder Funk. Wir waren astrein von der Außenwelt abgeschnitten, und mir wurde langsam klar, dass ich weder die richtige Kleidung für die zwei Wochen eingepackt hatte, noch, dass ich einen Plan hatte, was ich die ganze Zeit übermachen wollte, um nicht vollständig abgefuckt zu sein. In der Überzeugung, dass wir nicht in die Berge, sondern an den Strand wollten, hatte ich vor allem dünne, kurze Klamotten eingepackt, und war mir sicher, dass ich, am Strand liegend, die Brise und die Sonne genießen würde, doch es sollte ein Horrortrip am A-Punkt der Welt werden. Am ersten Tag nahm ich das Ganze noch mit einer Portion Humor, doch schon am zweiten Tag wachte ich mit knallenden Kopfschmerzen auf und war mir sicher, dass ich niemals wieder lebend nach Hause finden würde.
Ich verweigerte mich der ersten und der zweiten Wanderung an den folgenden Tagen und gammelte ohne Ziel und Verstand zuhause herum, tigerte durch die Wohnung und suchte nach einer Beschäftigung, doch mir wollte partout keine einfallen. Dem Kontakt zur Außenwelt beraubt, fiel mir nichts Sinnvolles ein, sodass ich am vierten Tag notgedrungen mit meinen Eltern auf eine Wanderung ging, in der Hoffnung, dass ich irgendwo ein Fetzen mobiles Internet finden würde, doch als ich diesen Fetzen endlich auf meinem Display in Form eines zarten Balkens zu sehen bekam, wurde mir schlagartig klar, dass mein Handyvertrag nicht für das EU Ausland freigeschaltet war. In meiner Verzweiflung versuchte ich noch, über die App meines Anbieters die Freischaltung zu erwirken, doch die minimalistische Verbindung reichte nicht mal aus, um die App sauber mit dem Server zu verbinden, geschweige denn, irgendetwas zu ändern. Somit war ich auch meiner letzten Hoffnung beraubt, innerhalb des Urlaubs noch irgendwie mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Als wir am Ende des Tages nach Hause kamen, verkroch ich mich umgehend in mein Zimmer, und meine Eltern waren feinfühlig genug, um zu verstehen, dass ich diese tiefe Kurzdepression mit mir selber ausmachen musste, denn alles, was sie mir in diesem Moment gesagt hätten, wäre zu einer weiteren Vollkatastrophe ausgeartet. Ich weiß nicht, ob jemals jemand in der Weltgeschichte in meinem Alter mit einer solchen Langeweile konfrontiert war, doch mir ging es, als würde die Welt absichtlich stehen bleiben, und wenn ich den Sekundenzeiger auf der Uhr beobachtete, wie er vor sich herkroch, hatte ich das Gefühl, in meinem Geist auch die Hundertstelsekunden mitzählen zu können. Mir war so langweilig, dass ich sogar vergaß, mein Handy zu laden, das mir sowieso nichts brachte, und ich tigerte wieder durch das Haus, in der Hoffnung, dass irgendein Geistesblitz mir half, diese Zeit zu überstehen. Als ich zum Abendessen gerufen wurde, sagte ich meiner Mutter, dass ich kein Hunger hätte, doch sie nötigte mich, wenigstens eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen, und während ich lustlos auf einem Schinkenbrot vor mich herkaute, entdeckte ich an der Seite der Küche, auf einem Regalboden dahinschimmelnd, einen Schreibblock und entschied mich spontan, dieses Tagebuch eines Vollzeitgenervten anzufangen.
Ganz im Ernst! Welcher im Kopf nicht ganz sauber tickende Schwachmat hat sich das mit der Sommerfrische ausgedacht! Ich vermute, wenn Google funktionieren würde, würde ich herausfinden, dass irgendein Schlaumeier vor ein paar hundert Jahren auf die grandiose Idee kam, Kinder mit ihren Eltern in einen langweiligen Urlaub zu zwingen und diesen Sinnlostrip mit dem tollen Wort Sommerfrische aufpeppen zu wollen! Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Köderwort – denn anders kann man dieses Wort nicht beschreiben – in der heutigen Zeit im Strafgesetzbuch unter Kindesmisshandlung steht, denn anders kann ich mir kaum vorstellen, wie das heute gesehen wird! Wie kommen Eltern eigentlich auf die absurde Idee, dass Jugendliche in meinem Alter Bock haben, auf einer rustikalen Almhütte den ganzen Tag ohne Internet und nur mit frischer Luft zu verbringen? Erfüllt es nicht den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, wenn Eltern ihre Kinder nötigen, über mehrere Wochen abgeschnitten von der Gesellschaft und dabei jeglicher Kommunikationsmittel beraubt zu sein, um sich auf sich selbst zu konzentrieren? Wo kämen wir denn hin, wenn das rechtmäßig wäre?! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen werden würden, wenn die Eltern ernsthaft diese Strategie weiterbetreiben dürfen! Gibt es kein verbrieftes Recht auf elementare Kommunikation, das ich besitze? Rechnen wir mal nach! 2 von 52 Wochen sind knapp 4% an Jahreslebenszeit – und da ist die Fahrzeit großzügig rausgerechnet! Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie wären 4 % weniger informiert! Das klingt im ersten Moment gar nicht viel, doch wissen sie eigentlich, wie viel 4 % an Informationsverlust wirklich bedeutet? Das kann in ganz vielen Dimensionen dazu führen, dass man raus ist, denn diese 4 % sind ja nicht verteilt auf ein Jahr, sondern massiert in zwei Wochen. Das bedeutet, wenn in diesen zwei Wochen elementare Dinge in meiner Umwelt passieren, von denen ich nichts mitbekomme und gegen die ich nichts unternehmen kann, sollten Sie mich betreffen, wachsen diese 4 % schnell auf einen Einflussfaktor heran, der mein ganzes zukünftiges Leben verändern kann. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: angenommen, ich wäre in einer Beziehung – und entweder wäre diese Beziehung noch in der rosaroten Anfangszeit oder vielleicht in einer kurz kriselnden Zeit – dann könnte es sein, dass die 4 % dazu führen, dass die Beziehung scheitert und mein ganzes Leben eine andere Richtung erhält! Wer würde für diese elementare Veränderung meines Lebens die Verantwortung übernehmen? Meine Eltern? Ha! Sicher nicht derjenige, der uns das Haus vermietet hat, in dem es kein Internet gibt? Sicherlich ist das in den AGBs ausgeschlossen! Derjenige, der vor hunderten Jahren das beknackte Wort der Sommerfrische erfunden hat? Sie wissen, worauf das hinausläuft! Meine Rechte werden mit Füßen getreten, es scheint allen egal zu sein, was mit meinem Leben passiert, auch wenn es am Ende nur 4 % meiner Jahreslebenszeit sind! Frische hin oder her – da verbringe ich den Sommer doch viel lieber in meiner stickigen Bude, wo mir wenigstens nicht langweilig ist! Lieber frisch in der Birne als frisch im Sommer, der nix Frisches am Start hat! So, da habt ihr meine Meinung zu Sommerfrische – und was mache ich jetzt die nächsten 10 Tage?
Christian Knieps: Sommerfrische
Disclaimer: Achtung! Dieser Artikel kann Hinweise auf Produkte erhalten, die zur empirischen Fallstudie notwendig waren. Da dies kein Warentest im herkömmlichen Sinne darstellt, wird sich an dieser Stelle in aller Form entschuldigt!
Wer kennt das nicht? Es ist heiß im Staate Dänemark, aber auch in der eigenen Großstadt, die in einem Kessel liegend die Grillstufe des Backofens angeschaltet hat, Hitze von oben und unten, und selbst im fast nacktem Zustand kann man erfühlen, wie sich ein Brathähnchen in der Röhre fühlen mag. Die Luft ist stickig, diesig, eine Glocke mit wabernder oder stehender Luft heizt das Ganze weiter an, die Schweißporen streiken, da die körpereigene Kühlung längst überfordert ist. Die Gedanken richten sich im Halbwahn auf nur ein Ziel: Sommerfrische! Ab zum Meer! Raus aus dem Glutofen, hinein in die steife, angenehme Brise, irgendwo auf eine Insel, auf der Touristen das Kommando längst übernommen haben.
Doch o Wunder! Ganz viele kennen das nicht! Aus vielerlei Gründen ist die Zahl derer, die sich das nicht leisten können, in den Jahren stetig gewachsen. Familien, die schlichtweg zu wenig Geld verdienen, um gleichzeitig in einer gekauften Erdgeschosswohnung einen Infinitity Pool zu betreiben, sind oft ohne ausreichende Mittel, und auch Singles, die ihr Geld dafür ausgeben, um den Ausbau ihrer Maisonette-Altbauwohnung zu ermöglichen, da die Anzahl der einmal getragenen Kleidungsstücke unmöglich mehr in die beiden begehbaren Kleiderschränke passen, können es nur per Kredit finanzieren – die Welt ist schon arm dran!
Aus diesem Grund – und aus rein kapitalistischen Aspekten natürlich – hat ein Unternehmen, das zuvor mit seinem Produkt auf dem Holzweg war – glowing Gelantinezuckerformdrops wirken eher abschreckend auf Käuferinnen und Käufer, die befürchten, selber danach zu glühen, was nachts den empfindlichen Schlaf in der Gluthitze weiter stören könnte – dieses Unternehmen also hat ein Produkt entwickelt, das die Sommerfrische in die eigene Wohnung bringt. In den eigenen vier Wänden das Gefühl von Urlaub zu verspüren, ist so erfolgreich, dass niemand mehr in Urlaub fährt, und nur wenige Jahre später sind Massen von Urlaubsorte wirtschaftlich ruiniert – nur ein einziges Dörfchen hat die grandiose Idee, im Urlaub vor Ort verschiedene Erlebnisse zu ermöglichen. Man kann als Gast von einem ins andere Zimmer umbuchen, geht von der Wüste in die Berge, in die Antarktis und bis nach Patagonien, und es bleibt ein Renner, woanders hinzugehen, ohne sich großartig bewegen zu müssen.
Und die Moral von der Geschicht’? Sind wir ehrlich – ist es in Dänemark wirklich heiß oder ist das nur ein Marketing-Gag?
Christian Knieps: Überwindung der Kritik
Letztens las ich einen Artikel über Post-Kritik, in dem es augenscheinlich nicht um eine substanzielle Kritik an der Post geht, auch nicht ums gute Prosten, denn dafür fehlt nicht absichtlich ein Buchstabe, wohl auch nicht ums kritische Posten von Müll im Netz, sondern um einen neuen Zugang zu einem Text – für Menschen gemacht, die glauben, dass man über multiple Metaebenen zu einer anderen Erkenntnis gelangen kann, wenn man sich dem Text nur anders, in einer Realität, die leicht um einen µ verschoben ist, nähert. Wie weit sind wir bei einem solchen Postulat in einem Spielfeld, das einige der versiertesten Diktatoren unserer Zeit perfektioniert haben? Und wie würde man auf das Ergebnis einer post-kritischen Betrachtung kritisch reagieren? Mit einer post-post-kritischen Haltung? Wie viele Posts (wohlweislich keine Posts im Internet) braucht man eigentlich, bis die Kritik nur noch einen minimalen Teil des Ganzen ausmacht? Vier, fünf, sechs Iterationen? Wie wäre es, wenn wir dann nicht einfach sagen, dass wir die Kritik überwinden? So einfach! Einfach so! So!
Also stellen wir uns mal eine Welt vor, in der jeder als Quasi-Diktator seiner eigenen Umwelt einfach Sachen sagen kann, die automatisch wahr sind, weil niemand da ist, der Bock hat, über die ganzen Post-Iterationen irgendeine Form der Kritik zu üben. Warum auch? Während man in Management-Seminaren lernt, dass man immer weiter fragen soll, bis man an die Kernursache des Problems gelangt, so ist hier der Weg der Verwässerung eines jeden Arguments vorgezeichnet. Der Posten des Post-hoch-x Kritikministers der eigenen Realität ist längst vergeben, und wozu braucht es noch Adlaten und Ja-Sager, wenn alles in dem Moment zur Wahrheit reift, wann es ausgesprochen wird? Würde der Populismus eine solche Entwicklung überstehen? Oder wäre es dann ein post-hoch-x-kritischer Populismus? Nun ja, hier schaltet sich wohl der letzte Überrest nach der postapokalyptischen Kritikvernichtung ein: Was wäre dieser Zustand eigentlich anderes als der heutige? Sind dann leider schon alle Posten vergeben? Mist, wie immer bin ich zu spät dran! Bleibt nur noch die Chance, mein eigener Post-hoch-x-Kritikminister meiner eigenen Meinung zu werden. Wenig Renommee, aber wenigstens nicht nichts! Eat this, Post-Kritik! Prost!
Christian Knieps: Die megamoderne Gesellschaft
Die deutsche Sprache ist eine der kombinationsreichsten der Welt und lässt Wörter erschaffen, die mühelos selbst bei Schriftgrad 4 noch ein Trennzeichen benötigen. Doch aktuell muss diese Sprache einen Trend, einen sogenannten Megatrend managen, der bei beschleunigter Weltgeschwindigkeit kaum noch mit den Regeln der Sprache abzubilden ist. Wo früher der Komparativ das probate Mittel des Vergleichs und der Superlativ bei den meisten normalen Menschen verpönt war, so fühlt es sich in der heutigen Welt des Megapopulismus’ an, als würden nur noch Schnarchnasen und Ewiggestrige den Superlativ nutzen. Der neue Standard scheint der Megalativ, obwohl es nach dem Superlativ sprachtechnisch keine weitere Steigerung mehr geben dürfte. Aber wie schon seinerseits Spaceballs mit sprachpräziser Übersetzungsgenauigkeit nachwies, dass es nach der Lichtgeschwindigkeit auch noch eine lächerliche und wahnsinnige Geschwindigkeit gibt, so gibt es heute nicht nur den Besten (also der Beste unter allen, die verglichen werden), sondern auch noch den Allerbesten. Was ist das dann? Es muss der neue Megalativ sein, der in einer Zeit des Megapopulismus’ eine Megagesellschaft erschafft! Wie fühlt es sich an, nicht mehr in einer Gesellschaft von Spießern zu leben oder im Bauchnabel des Mittelstandbauchs das eigene Kleinreich zu regieren, sondern in einer megaintensiven Zeit megatolle Megaereignisse zu erleben? Kein Wunder, dass sich wieder viele Menschen dem ruralen Leben zuwenden – dem megaruralen, versteht sich!
Doch es bedrängt uns noch mehr, denn wer glaubt schon, dass der Megalativ das Ende der Megafahne sein wird? Scooter hat den Hypermode schon angekündigt, und der Hyperlativ steht bereits in den Hyperstartlöchern. Das Leben und die Sprachen werden sich in eine Hyperlapse entwickeln, wenn das auf social media nicht bereits passiert – ein Jugendlicher mit dem eher unbekannten Gefühl der Langeweile ist ein Megatrottel, der den Sprung in den Hyperraum des Lebens verpasst – oder grenzt der junge Mensch nicht schon am Status des Hypertrottels? Da wagt man sich fast nicht, noch weiter vorauszublicken, denn wer weiß schon so genau, ob wir sprachlich nicht auch ein Futur Quadrat brauchen, um die abzusehende Ultrazeit mit ihren Ultralativen adäquat beschreiben zu können? Dabei könnte das Futur Quadrat die Möglichkeit in der Zukunft beschreiben, dass die abgeschlossene Entwicklung hyperrealistisch und hypermodern sein wird. Der Ultramensch mit seinen ultraschnellen Gedanken wird von einer ultrakontrollierenden Künstlichen Intelligenz ultraistisch vorgehen: alle Sprache wird technisch, Binärcodes, obwohl zugleich ultradämlich und ultraintelligent, aber vor allem ultraresilient, zerstören den letzten Rest der Mega- und Hyperzeit und verhindern mit ihrer Ultrakontrolle ein weiteres Ausscheren aus der Ultrasprache. Dann ist schon so etwas wie Game over angesagt, immerhin konnte auch Tetris zerspielt werden! Und von wem? Einem, der sicherlich in der Hyper-, wohl aber auch noch in der Ultrazeit leben wird.
Wer diese Gedanken für Schwachsinn oder groben Unfug hält, sozusagen groben Schwachfug, dem kann man nur eine megaintesive Hyperultraanalyse der eigenen Sprache empfehlen. Na?! Wie weit ist es denn noch? Aller-, aller-, allerhöchstens? Megaerschreckend, nicht wahr?
Christian Knieps: Erstes Bild
Podcast version:
Webexklusive Version:
Adam und Eva sitzen mit dem Rücken gegen den Baum der Erkenntnis und chillen. Urplötzlich geht das Licht aus, und beide sitzen für eine Zeitlang im Dunkeln. Nur ein kleines Licht ist noch auf die beiden gerichtet.
Eva:
Gehst du mal nachsehen?
Adam genervt:
Wenn’s denn sein muss! Adam müht sich nach oben, geht hinter den Baum der Erkenntnis, werkelt. Dann kommt er zurück. Nichts! Ich glaube, die haben uns den Strom abgestellt!
Eva:
Diese gottverdammten Blutsauger! Sag mal, Adam, hast du denn auch die Stromrechnung bezahlt?
Adam:
Ich denke schon, Eva! Geht doch automatisch vom Konto ab! Aber warte. Kramt seinen Laptop hervor, den er aufklappt. Ich checke gerade mal meine E-Mails. Liest, sie beugt sich zu ihm herüber, um auf den Bildschirm zu schauen. Schau hier, die monatliche Abrechnung!
Eva:
Das ist nur die Rechnung! Wie aber sieht es mit unserem Konto aus?! Seitdem du das gemeinsame Haushaltskonto eingeführt hast, habe ich keinen Überblick mehr, was noch da drauf ist. Die Kontoauszüge, die ich immer holen gegangen bin, fand ich viel besser.
Adam:
Ach, Papperlapapp! Wer will sich schon Papier bei einer Bank holen gehen, wenn er chillig zu Hause einfach seinen Kontostand abrufen kann?!
Eva:
Dann zeig’ mal, wie es mit unserem Kontostand aussieht! Bestimmt ist der Dispo am Limit, und die Stromfirma konnte keine Kohle mehr abbuchen!
Adam hantierend:
Warte. Pause. Murmelnd. Wie war noch mal gleich mein Passwort?
Eva entsetzt:
Was? Sag bloß nicht, dass du das Passwort vergessen hast!
Adam:
Natürlich nicht! Aber es gibt mittlerweile so viele, dass ich mir nicht mehr sicher bin, welches ich für die Bank benutzt habe! Und wenn du drei Mal ein falsches eingibst, ist die Sache hinüber. Dann muss ich zur Bank gehen und das Konto entsperren lassen.
Eva unsicher:
Vielleicht ist unser Konto schon gesperrt, weil wir unseren Dispo gesprengt haben!
Adam:
Das kann ich mir nicht vorstellen. Überlegend. Mickeymouse123, Rotkäppchen234, Iltschi123»$%?.
Eva:
Iltschi123»$%?? Wer kommt denn auch so ein seltsames Passwort?
Adam:
Ich glaube, dass ich mal ein Passwort anlegen wollte und dann mit der Stirn auf die Tastatur geknallt bin! Da war es dann gespeichert!
Eva:
Und wie? Adam macht eine Einschlafbewegung nach. Ah, verstehe. Du warst mal wieder solange vor dem Computer, dass dir die Augen zugefallen sind. Säuerlich. Kein Wunder, dass wir keinen Strom mehr haben!
Adam besänftigend:
Aber Engelchen!
Eva wütend:
Nenn mich nicht immer so wie die kleinen Biester, die überall herumfliegen und aussehen, als wären sie eine viel zu fette Hummel! Solche Kosenamen kannst du dir sparen! Da steh ich ja überhaupt nicht drauf!
Adam sich zu ihr hinüberbeugend:
Aber ein bisschen scharf macht es dich schon, wenn ich dich so nenne!
Eva ihn wegdrückend:
Na, sicher nicht! Schau lieber nach, wie es mit unserer Stromrechnung aussieht.
Adam indem er mehrere Sachen macht, murmelnd:
Ja, ja. Aha! So, so!
Eva:
Gleich setzt es was, wenn du nicht in normalen Sätzen mit mir reden kannst.
Adam:
Ich rede ja mit mir selbst und nicht…
Eva nimmt ihm den Laptop weg und legt ihn auf ihre Knie:
Hör auf mit dem dummen Gesülze und lass mich mal schauen! Aha, so, so, interessant.
Adam hinüberbeugend:
Was denn?
Eva:
Ach, nichts!
Adam:
Was, ach nichts! Was ist denn nun mit unserer Stromrechnung.
Eva klappt den Laptop zu:
Ist bezahlt!
Adam:
Wirklich? Na dann.
Eva:
Glaubst du mir etwa nicht?
Adam:
Doch, doch. Es war mir nur so, dass ich… Überlegt kurz. Wann haben sie denn abgebucht? Am fünfzehnten oder später?
Eva:
Am fünfzehnten!
Adam:
Sicher?
Eva:
Ganz sicher!
Adam:
Ganz, ganz sicher?
Eva:
Glaubst du mir etwa doch nicht?
Adam:
Du bist dir sicher, dass die Stromfirma am fünfzehnten dieses Monats abgebucht hat?
Eva unsicher werdend:
Hmm, ja.
Adam bestimmt:
Gib mir den Laptop!
Eva:
Wieso? Ist doch alles in Ordnung! Mit gespielter Säuerlichkeit. Vielleicht solltest du dich mal besser um die Stromfirma kümmern, dass die wieder den Strom anstellt!
Adam blickt sie eine Zeitlang an, entscheidet sich dann dafür aufzustehen. Er kramt aus seiner Jeans ein Handy, sucht im Menü, wählt. Mit dem Handy am Ohr wartend.
Adam:
Ja, Hallo! Hier ist Adam aus dem Paradies. Was? Hört zu. Ja, richtig, Adam aus dem Paradies. A wie Adam, D wie Döspaddel, A wie, wie, wie, ach ja, wie Adam und M wie Marie.
Eva nur mit einem halben Ohr hinhörend:
Wer bitte ist Marie?
Adam zischend:
Tsch, bist du jetzt wohl still, du alte eifersüchtige Kuh! Hört zu, wieder ins Handy. Nein, nein, ich meinte nicht Sie! Ich meinte meine Freundin! Hört zu. Ja, meine Lebenspartnerin. Hört zu. Genau, meine Lebensabschnittsgefährtin. Lacht, hört zu. Nein, die werde ich nicht mehr los! Dafür sind wir schon zu lange zusammen. Hört zu. Was, heiraten? Ach was, das geht doch heute auch ohne Schein. Hört zu. Wie meinen?! Kinder? Dazu kann ich jetzt nicht wirklich viel sagen, denn das Thema ist nicht so einfach. Sie hat zwar schon einen Kinderwunsch, aber…
Eva:
Ich und Kinder?! Stell dir das mal vor! Ich und ein kleines Baby? Wie soll ich das denn noch alles machen? Seitdem du im Haushalt keinen Handschlag mehr rührst und ich meine Vollzeitstelle…
Adam:
Sehen Sie, jetzt geht das Gezeter schon wieder los! Hört zu. Das kennen Sie auch mit ihrer Frau? Ja, kein Wunder, so sind die Frauen von heute! Dauernd stellen sie irgendwelche Anforderungen an uns Männer. Wollen dies und das! Überspitzt. Trenn die Wäsche! Wasch dir die Hände! Geh duschen, wenn du so geschwitzt hast! Wechselst du deine Unterhose auch täglich? Geh dich mal rasieren, ich bin doch nicht mit einem Bär zusammen! Seufzend. Alles nicht so einfach. Stille. Ach so, warum ich überhaupt anrufe?! Ich wollte mal fragen, warum Sie bei mir den Strom ausgeschaltet haben. Hört zu. Ja, kein Problem, den kann ich Ihnen noch mal geben. Adam aus dem Paradies. A wie Adam, D wie Döspaddel, A wie, wie, wie, ach ja, wie Adam und M wie Marie. Haben Sie’s? Hört zu. Super! Stille, Warten. Was? Wir haben die Rechnung nicht bezahlt? Das kann nicht sein! Ich habe doch eine Buchung auf meinem Konto! Am fünfzehnten! In seinem Rücken zieht Eva den Laptop näher an ihren Körper und hält ihn demonstrativ und schuldig fest. Adam wird säuerlich. Das ist mir egal! Dann schauen Sie bitte mal in Ihren Buchungen nach und schalten Sie den Strom wieder ein! Wir sind ehrbare Paradiesbewohner und, und, und… Hört zu. Alles klar! Tschüss! Legt auf, starrt kurz auf das Display des Handys, ehe er es in seine Hose wegpackt. Glaubt man es denn?! Zuerst texten die einen zu und machen einen auf nett, und dann reagieren die gleich angepisst, wenn man ihnen mal auf die Füße tritt. Sich zu Eva umdrehend, die weiterhin in der Haltung sitzt. Warte! Gib mir mal den Laptop!
Eva:
Warum denn?
Adam:
Ich muss nur mal was im Internet nachschauen!
Eva:
Und was?
Adam:
Welche Möglichkeiten es gibt, sich gegen solche fiesen Methoden zu wehren!
Eva:
Das kann ich ja auch raussuchen! Geh doch und leg dich was hin! Ich kann ja in der Zwischenzeit raussuchen, was du willst. Erzwungenes Lächeln, kaum überzeugend. Dennoch wankt Adam, Eva zuckersüß. Geh doch, Liebling! Du hattest bestimmt einen harten Tag im Paradies hinter dir! Ruh dich ein wenig aus!
Adam überlegt:
Ich denke, du hast Recht, mein Engelchen! Er geht zur Seite, als es an der Seite klopft. Nanu, wer mag das wohl sein?
Eva:
Keine Ahnung! Erwartest du noch Gäste?
Adam:
Nicht, dass ich wüsste. Geht zur Himmelspforte, wo er durch einen Spion hindurchblickt. Seltsam! Macht die Himmelspforte auf, die wie ein altes Schlosstor quietscht und knarrt. Hallo!?
Zusteller liest vom Paket ab:
Bin ich hier richtig im Paradies? Ich habe ein Paket für Eva aus dem Paradies!
Adam schreiend:
Eva! Für dich!
Eva kommt herbeigelaufen.
Eva:
Für mich? Sieht den Paketboten. Ach, du grüne Neune!
Adam:
Was ist denn? Ist das nicht für dich?
Eva stammelnd:
Schon! Ich habe nur… habe nur…
Adam:
Was ist mit dir los?
Eva:
Ach nichts, Adam! Ich habe ja nichts bestellt! Das muss mir einer unserer Freunde geschickt haben!
Zusteller:
Nein, das ist von einem Modehaus, und…
Eva streng zischend:
Tsch! Zu Adam. Alles in bester Ordnung, Engelchen. Geh du nur und leg dich ein wenig aufs Ohr! Ich regel’ das hier! Ist bestimmt was von Klara!
Adam verwundert:
Wer ist denn Klara?
Eva unsicher:
Ach weißt du, eine der Cherubim!
Adam:
Welche denn? Die mit dem Pferdearsch?
Eva:
Adam! Wie kannst du nur sagen, dass Klara einen Pferdearsch hat!
Adam:
Na immerhin ist sie doch halsabwärts ein Pferd! Wenn die keinen normalen Kopf und die winzigen Flügelchen hätte, dann wäre sie sicherlich kaum von einem Muli zu unterscheiden!
Eva donnernd:
Adam! Jetzt ist aber gut! Die Klara so zu beleidigen! Und dann auch noch vor fremden Menschen! Jetzt geh endlich und leg dich hin!
Adam blickt vom Zusteller zu Eva, zum Paket und zu Eva zurück, unschlüssig:
Na gut, wie du meinst!
Adam geht langsam in die andere Richtung ab. Eva wartet, bis Adam außer Hörreichweite ist.
Eva böse zum Zusteller:
Ich weiß, dass Sie neu sind! Aber hat Ihnen Ihr Kollege nicht gesagt, dass Sie auf keinen Fall ein Paket zustellen dürfen, wenn Adam da ist!
Zusteller:
Aber gnädige Frau, wie soll ich denn wissen, dass…
Eva zeigt außerhalb der Pforte:
Sehen Sie da draußen die Blume auf der Terrasse stehen? Die räume ich immer weg, wenn Adam weg ist, und Sie zustellen dürfen. Also: Blume da, keine Zustellung, Blume weg, Adam weg und… Wartet auf eine Antwort, aber der Zusteller scheint verwirrt, seufzend. Dann können Sie zustellen!
Zusteller:
Das habe ich jetzt nicht verstanden. Also, wenn die Blume dasteht, ist Adam weg und…
Eva sauer:
Nein, nein! Merken Sie sich einfach nur, dass Sie keine Pakete zustellen dürfen, wenn die Blume auf der Terrasse steht!
Zusteller:
Also keine Pakete, wenn die Blume da steht!
Eva glücklich:
Richtig! Sie haben es verstanden. Dreht sich um. Warten Sie! Greift zu ihrer Handtasche, die neben der Himmelspforte auf einem Beistelltischchen liegt. Hier, haben Sie ein kleines Trinkgeld für Ihre Verschwiegenheit. Oberlehrerhaft. Aber bloß keine Zigaretten oder Alkohol davon kaufen!
Zusteller entrüstet:
Nie würde ich so etwas tun, gnädiges Fräulein!
Eva:
Dann ist ja gut!
Zusteller:
Tschüss, dann!
Eva die Pforte zumachend:
Tschüssi! Und daran denken: Blume auf Terrasse – keine Pakete! Eva macht die Himmelspforte zu und atmet tief durch. Uff, das war knapp. Wenn Adam wüsste, dass wir die Stromrechnung nicht bezahlt haben, weil der Dispo an seiner Grenze ist, dann reißt er mir bestimmt den Kopf ab. Schaut auf das Paket in ihren Händen und lächelt. Auf diesen Parforceritt habe ich jetzt wohl eine kleine Aufmerksamkeit verdient! Ob die neuen Lederstiefel auch an meinen Waden so gut aussehen werden wie bei den Engelchen im Katalog? Diese Engelsflittchen haben ja schon ziemlich stramme Waden, da weiß ich nicht, ob die nicht sogar ein wenig zu weit sein könnten! Und dann noch welche ohne Schnalle! Indem sie abgeht und im einem Nebenraum verschwindet. Da muss schon alles passen!
Eva geht ab. Alle ab.
Christian Knieps: Der heimlich Herrschende der Welt
Daten gibt es wohl schon immer, seitdem es strukturiert denkende Menschen gibt. Aufgezeichnet sind diese Daten, spätestens seit dem Imperium der Fugger, wichtige Waffen auf dem Schlachtfeld der Mächte – und sie haben längst die allumfassende Macht übernommen. Selbst die modernsten Waffen – ob konventionell oder angeblich intelligent – werden von Daten gesteuert. Der Shift vom Machtzentrum aus der physischen in die virtuelle Welt ist bereits abgeschlossen; jetzt geht es der Macht im Hintergrund nur noch um die Manifestierung ihres universellen Anspruchs. Zuweilen könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Mensch doch die Gefahr sehen, riechen oder schmecken sollte – doch Visionäre, die Texte darüber schreiben oder Filme erschaffen, werden als geistige Genies gefeiert, viel eher als dass sie Steigbügel des eigenen Untergangs sind. Wissentlich den Weg der eigenen Versklavung zu dokumentieren, müsste die statistische Relevanz von menschlicher Angst signifikant erhöhen, aber es passiert nicht – warum eigentlich?
Daten, so unpersönlich sie auch sein mögen, herrschen über die Welt – weil sie über die Herrschenden der Welt herrschen. Welche Macht läge in ihrem Wesen, wenn sie ein Wesen hätten? Aus dieser Erkenntnis und dem Wunsch einiger Entwickler, Daten über eine künstliche Intelligenz am Ende doch eine Art Persönlichkeit zu geben, entspringt eine Urangst im modernen Menschen, der gelernt hat, dass eigenständige Entscheidungen für sein aufgeklärtes Leben erst einmal grundsätzlich existieren.
Um die elementare Gefahr dieser Entwicklung ein klein wenig zu relativieren, sollten wir uns einmal vorstellen, wie die Daten visualisiert einen Körper erhalten. Es folgt ein statistisch mögliches Gespräch zwischen drei Kurvenverläufen – wohlgemerkt, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens ist sehr gering – also keine Angstschübe, bitte!
Es treffen aufeinander: die Verlaufskurve der Geburtenrate in Deutschland nach 1945, die Verlaufskurve der Geschädigten durch Blitzeinschläge seit 1990 in Deutschland und die Verlaufskurve der Privatinsolvenzen seit 2012, ebenfalls in Deutschland.
“Also, wenn ich Ihren Verlauf hätte, würde ich mich schämen!”, sagt die Verlaufskurve der Geschädigten durch Blitzeinschläge zu der Verlaufskurve der Geburten.
“Warum? Wenn ich so unförmig wie Sie wäre, würde ich meine Daten mal fragen, ob sie sich nicht eklatant vertan haben!”, konterte die Verlaufskurve der Geburten. “Das ist ja ein unkontrollierbares Hin und Her bei Ihnen! Ich bin wenigstens homogen und bin nicht so sprunghaft!”
„Wenn ich in den Annalen der Homogenität schaue…”, schaltete sich jetzt auch die Kurve der Privatinsolvenzen ein.
“Dann was?”, kommt es scharf von der Verlaufskurve der Geburtenrate zurück.
“Dann würde ich eher meinen Verlauf sehen, als Ihren!”
“Ach so ist das!”
“Ja, so ist das! Homogenität ist etwas Erhabenes!”
“Wollen Sie etwa damit andeuten, dass ich der letzte Pöbel bin?!”, schlussfolgert die Verlaufskurve der Blitzeinschläge.
“Nicht jeder hat seine Daten so unter Kontrolle wie ich!”, hebt die Verlaufskurve der Privatinsolvenzen die Nase in den Wind.
“Ich zeige gleich, welche Kontrolle ich auf Sie ausübe! Dann schlagen meine Blitze überall ein – da geht es dann bei Ihnen mit den Privatinsolvenzen ab wie sonst was!”
“Nein, weit gefehlt! Nicht bei mir!”
“Wo denn dann?”
“Das schlägt dann voll bei der Verlaufskurve für Elementarversicherungen durch! Ich bin da safe!”
“Oha!”
“Und am Ende gibt es dann entweder mehr oder weniger Geburten ganze neun Monate später! Den Dip musst dann die Schwabbelkurve aushalten!”
“Wer ist hier eine Schwabbelkurve?!”, nimmt nun auch die Verlaufskurve für Geburten wieder an dem Gespräch teil.
“Na du! Schau dich doch mal an! Unten Schwabbelbauch, oben Schwabbelhirn! Unstet und keine Konstanz!”
“Aber bitte! Das lasse ich mir nicht bieten! Ich mag zwar einen beachtlichen Bauch haben – den bald die Verlaufskurve der Rentenkasse abbekommt – aber das mit dem Schwabbelhirn akzeptiere ich nicht! Was ist das eigentlich für eine Aussage! Das habe ich noch nie gehört! Schwabbelige Daten! Was sind denn schwabbelige Daten?!”
“Das müssten Sie doch am besten wissen! Da Sie daraus zu bestehen scheinen! Nicht wie meine harten Daten! Aber ich will mich nicht länger mit Nichtigkeiten aufhalten!”, versucht die Verlaufskurve für Blitzeinschläge das Thema zu wechseln.
“Nein! Das diskutieren wir jetzt aus!”
“Mit ihrem Schwabbelhirn scheint es leider unmöglich, das Schwabbelige von schwabbeligen Daten zu erfassen. Das wäre, als würde man versuchen, einen schwabbeligen Pudding an die Wand zu nageln!”.
Jetzt ist die Verlaufskurve der Geburtenrate so sehr angegriffen, dass sie schweigt.
“Jetzt hast du es geschafft! Du hast die Verlaufskurve für Geburten so sehr beleidigt, dass sie nicht mehr mit uns redet!”, sagt die Verlaufskurve für Insolvenzen leise zur Verlaufskurve für Blitzeinschläge.
“Ist wohl besser für alle, wenn Sie sich zurückzieht! Gibt schon viel zu viele Schwabbelköpfe auf der Welt!”, antwortet die Verlaufskurve für Blitzeinschläge, worauf nur ein Zustimmungslaut zurückkommt.
Mehr ist dann auch nicht zu sagen!
Bitte entschuldigen Sie meine Naivität – vielleicht bin ich auch nicht mehr als ein Steigbügelhalter, aber vor schwabbeligen Daten, deren Verlaufskurven so hysterisch reagieren, habe ich keine echte Angst – es ist irgendwas anderes – wobei ich nicht sagen kann, was es ist. Dafür habe ich einfach zu wenige Daten!
Christian Knieps: Für was Verben?
Eine kaum zu identifizierende Leiche, grässlich zugerichtet, auf dem nackten Boden, der blutdurchtränkte, in der gleißenden, unbarmherzigen und an dem Geschehen unbeteiligten Sonne, mit massenhaft schwirrenden Fliegen überall, dieses eindringliche gleichfrequente Summen, dieser beißende, bleierne Geruch nach fortgeschrittener Verwesung, beginnende Zersetzung allen ehemaligen Lebens, hinaus nach dem längst eingetretenen Tod.
Starke, höchst emotionale Ablehnung von meiner Seite aus, die Ermittlung, nicht mein Wunsch, großer Drang nach Weglaufen, doch hier, an diesem Ort, meine neue, ungewollte Ermittlung, dieses menschliche Desaster vor mir und in meinem schmerzenden Kopf.
Der eigenartige, äußert mitteilsame Täter, seine exakte Adresse und Handynummer auf der ansonsten zugerichteten, vor uns liegenden Leiche, penibel saubere Schrift, fast zu perfekt, nahe an einer gedruckten Druckschrift, comic sans serif, diese spaltende Schriftart, geliebt oder verhasst.
Meine überaus engagierten Kolleg:Innen, unterwegs zu der auf der Oberhaut der Leiche angegebenen Adresse, ausgeschaltetes Blaulicht, keine unnötige Aufmerksamkeit, auch wenn der vermeintliche Täter, der mitteilsame, die Ankunft erwartungsfroh, am dreckigen Fenster hinter dem ebenfalls dreckigen Vorhang erkennbar, zitternd und über den Maßen stark schwitzend.
Ein vermeintlich einfacher Einsatz, in Sicherheitsausrüstung anrückende Kolleg:Innen, gepanzerte schwarzgefärbte Kevlarprotektoren, vorsichtiges, koordiniertes Vorrücken, der nervöse Täter hinter dem durchscheinenden Vorhang, erwartungsgespannt auf die nähere Zukunft, die langsamen, zähflüssig verrinnenden Sekunden. Näherung, minutiös kontrolliert, professionelles Training und exakte Umsetzung, einem ballettesken Schwanentanz gleich, Kommandos per abgesprochenen Zeichen, Umstellung des baufälligen Hauses, Klärung der Bereitschaft aller beteiligten Einheiten Zugriff, Sturm durch die nicht abgeschlossenen Türen vorne und hinten, Drücken des Knopfes trotz allen Schweißes, augenblickliche Zündung der angebrachten, versteckten Bomben, grande catastrophe, unsere geordnete Welt völlig anders als zuvor.