Das Finale in einem Wettbewerb ist schon eine eigenartige Sache, denn bis dahin haben die Teilnehmer – insbesondere, wenn es nur zwei Gegner sind – alles gegeben, um an diesen Punkt zu gelangen, an dessen Ende es aber nur einen Sieger geben wird.
Die Zuschauer fiebern derweil oft auf dieses Ereignis hin, in der Hoffnung, dass ihr Favorit am Ende den Sieg davontragen wird, und obwohl auch viele für den Underdog sind, interessieren die meisten sich dennoch für die Sieger – das hat sich in all den Jahren nicht geändert, obwohl die Gesellschaft doch vermeintlich objektiver und vor allem wertschätzender der Leistung des Unterlegenen gegenüberstehen sollte.
Doch: Hand aufs Herz – wer außer den Hardcorefans der jeweiligen Wettbewerbe weiß, welches Fußballteam am häufigsten im Finale der Weltmeisterschaft gestanden hat (den Rekordsieger hingegen kennen viele)? Es gibt Tennisspieler beider Geschlechter, die bis zu fünfmal im Endspiel großer Turniere standen, es aber nie gewonnen haben (den Rekordsieger eines der größten Turniere der Welt kennen bestimmt sogar Nicht-Tennisfans vom Namen her). Es gibt ein Football-Team, das vier Jahre hintereinander in den Super Bowl kam, aber keines gewann (aber das Team, das sechsmal in den letzten beiden Jahrzehnten triumphierte, kennt wohl fast jeder).
Finanziell mag es vielleicht sinnvoll sein, in den meisten Wettbewerben möglichst weit zu kommen, doch ist die Niederlage in einem Finale am Ende nicht sogar viel schmerzhafter als eine Niederlage früher im Wettbewerb? Wer erinnert sich – außer wieder die Hardcorefans – an die Number two, den Loser, den Verlierer, den Nichtgewinner – und wie werden diese Fast-aber-doch-nicht-Gewinner am Ende tatsächlich gesehen – in der Retrospektive, wenn sie nicht vorher schon vergessen werden? Wenn der letzte Eindruck viel mehr zählt als all die Heldentaten zuvor?
So sehr sich Menschen den Wettkampf und den Sieger wünschen, weil sie auch Teil des Erfolgs sein wollen, ist die Akzeptanz von Erfolg in zweiter Reihe trotz aller gesellschaftlichen Entwicklungen nicht vereinbar mit dem Streben des Menschen nach Erfolg. Wer gewinnt, hat Recht! Wie wahr dieser Satz doch ist – leider.
Schlagwort: christian knieps
Christian Knieps: Sehnsuchtserinnerung
Viele Schülerinnen und Schüler hatten bestimmt die Möglichkeit, in der Jugend mit der Schule einen Ort zu besuchen, der im späteren Leben eine Art Sehnsuchtsort werden könnte. Bei mir waren zwei Italienreisen mit unterschiedlichen Schulen Ausgangspunkt für meine Sehnsucht nach diesem Land, das schon seit mehreren Jahrzehnten die Deutschen fast magisch anzieht. Auch schon zu Zeiten der Aufklärung und der folgenden Romantik sehnten sich viele nach dem Land im Süden, und diejenigen, die Italien als Studienreise besuchen konnten, schwärmten ihren Zeitgenossen vor, welche Bildung in diesen Landstrichen zu erlangen sei.
So toll das klingen mag – das alles interessiert einen Jugendlichen in den Neunzigern so überhaupt nicht! Wir fuhren nach Rom, Pisa, Florenz, Siena, aßen Pizza in Seitenstraßen, tranken eiskaltes Peroni und herben Campari, suchten in den Städten das goldene M, besuchten offiziell die Uffizien, doch als wir drin waren, wollten wir nach dem Pflichtteil nur nach draußen, um uns die Italiener und die Italienerinnen anzuschauen. Damals verstanden wir die Komplexität des Lebens, der Kultur und der Bildung nicht mal ansatzweise – wobei streng genommen doch etwas hängen blieb.
Im Rückblick entwickelte sich die Sehnsucht nach Italien, Rom, die Kultur, die vielen geschichtsträchtigen Regionen und Bauten und die Menschen vor Ort erst später, im Studium, doch da waren die weitreichenden Möglichkeiten aus den Studienreisen der Schulzeit vorbei; ab nun musste für eine Reise selber gezahlt werden – und die Frage, die im Raum für mich steht, ist folgende: vielleicht ist die Sehnsucht nach Italien am Ende stärker als das Gefühl, wirklich vor Ort zu sein – sollte man es dann nicht besser bleiben lassen, zu seinem Sehnsuchtsort zu reisen, nur um die Sehnsucht danach nicht zu zerstören? Wenn man doch nur wieder Jugendlicher wäre – denen fallen solche Entscheidungen einfach viel leichter!
Christian Knieps: Clownesk
Ein akrobatischer Mummenschanz
Disclaimer
Dieser Text wurde unter Zuhilfenahme von menschlicher Intelligenz erstellt und berührt nur insofern das geistige Eigentum anderer, als dass jene menschliche Intelligenz Wissen von anderen Menschen aufgesogen hat, um daraus einen neuen Text zu generieren.
Personen
Ein Clown.
Ein Narr.
Set
Eine Bühne.
Einziger Akt
Der Clown und der Narr treten auf und beäugen sich, ehe der Clown beginnt.
Clown:
Woher kommst du?
Narr:
Aus der Commedia Dell Arte!
Clown:
Was?
Narr:
Commedia Dell Arte!
Clown:
Das glaub ich sofort, dass du aus einer Komödie stammst! Komödie Dell…?!
Narr:
Arte!
Clown:
Der Sender!?
Narr:
Nein, der Kunst!
Clown:
O meine Güte! Du bist noch begrenzter, als du aussiehst!
Narr:
Während du sagst, dass ich begrenzt bin, zeigst du deine Begrenztheit mit jedem Atemzug!
Clown:
Hören wir mit diesen Beleidigungen doch mal kurz auf!
Narr:
Dann wärst du ein Narr! Aber gut, du bist keiner, sondern ein Clown!
Clown:
Was soll das denn heißen!?
Narr:
Dass man als Clown eben nur ein Clown ist!
Clown:
Und als Narr ist man was Besseres?
Narr:
Natürlich! Wir Narren waren hoch angesehene Spielmannsgesellen, um Könige und andere adelige Menschen zu belustigen! Clowns sind was für den Pöbel!
Clown:
Immerhin sind wir nicht ausgestorben! Mag jetzt nicht für deine Argumentation sprechen!
Narr:
Weil auch die Könige ausgestorben sind! In der modernen Demokratie braucht es halt den seichten Clown, der über seine Füße stolpert und dämlich klingt, wenn er redet! Wir Narren hingegen! Wir waren so inspirierend unterwegs, dass wir ganze Geschlechter beeinflusst haben!
Clown:
Und seid am Ende ausgestorben! Ich sehe das recht einfach! Ich bin ein Clown und hier – und du magst mal wichtig gewesen sein, aber Narren gibt es nicht mehr! Quod erat demonstrandum!
Narr:
Nur ein Clown glaubt einem Clown!
Clown:
Und nur ein Narr glaubt an irgendetwas anderes, als das eigene Geschwätz!
Narr:
Dann sind wir schon zwei, die ihren Beruf verfehlt haben! Vielleicht wärst du besser ein Narr und ich ein Clown!
Clown:
Gott, bewahre! Dann wäre ich ja auf einmal schrecklich lustig!
Narr:
Und ich würde schrecklich aussehen und Kinder erschrecken!
Clown:
Nein, das traue ich dir nicht zu! Sieh dich an – die kleinen Kinder würden lachen, wenn sie dich sehen!
Narr:
Und dich würden Könige hochkant rauswerfen und als Deppen ins Gefängnis schmeißen!
Clown:
So sind wir doch alle Kinder unserer Zeit!
Narr:
Auch deine Zeit wird ablaufen, mein lieber Clown! Fragt sich nur, wer dich ersetzen wird!
Clown:
Hoffentlich nicht diese Influencer! Die sind so gar nicht lustig!
Narr:
Bist du auch nicht!
Clown:
Na!? Ein klitzekleines bisschen schon! Oder?!
Narr:
Aber nur ein sehr klitzekleines bisschen!
Clown:
Dann bin ich ja beruhigt!
Narr:
Was für ein Glück! Ich nämlich auch!
Indem sich beide beruhigt haben, alle ab.
Christian Knieps: Taeping vor Ariel vor Serica
Ein Wettrennen um die halbe Welt
Robert Steele eilte zu den Docks. Die Nachrichten hatten sich in den letzten Stunden überschlagen, und der Schiffsbauer aus Greenock an der schottischen Westküste konnte es kaum glauben, dass die ersten drei Tea-Clipper, die an der Küste gesichtet worden waren, aus seiner Werft stammen sollten.
Ein Junge hatte es ihm atemlos berichtet: es seien die Taeping, die Ariel und die Serica. Drei Schiffe aus seiner Werft! Was wäre das für ein Sieg gegen die scheinbare Übermacht der Fiery Cross unter dem erfahrenen und siegreichen Kapitän Richard Robinson! Vier der letzten fünf Rennen hatte die Fiery Cross gewonnen, und die Wetten bei den Buchmachern sahen dieses besondere Schiff auch dieses Jahr in der eindeutigen Favoritenrolle!
Für die ganzjährige Teeversorgung des Alten Europas waren diese Wettrennen nur von spezieller Bedeutung. Es ging viel mehr um die Ehre, den ersten Tee der neuen Pflückung nach Hause zu bringen, und nicht nur die Buchmacher wähnten ein gutes Geschäft mit diesen ersten Lieferungen des neuen Jahres.
Daher galt es für die Schiffsbauer, die Balance zwischen möglicher Ladung und Seetüchtigkeit zu finden, um die Tea-Clipper sicher und schnell nach England zurücknavigieren zu können. Das schien Robert Steele mit seinen Werftarbeitern gelungen zu sein.
Die Taeping und die Ariel, beide in einer Kompositbauweise, also mit einem Holzrumpf mit Eisenballast, aber auch die Serica in Eisenbauweise waren darauf getrimmt, auf den zum Teil stürmischen und hohen Wellen der offenen Meere zu segeln, ohne dass dabei die Kontrolle über das Ruder aufgegeben werden musste.
Noch war nichts an den Docks zu sehen; allein eine schnell größer werdende Menge an Zuschauern fand sich zusammen. In ihrer Mitte stand Robert Steele und wurde mit jedem vermeintlichen Aufschrei der Zuschauenden nervöser und nervöser.
Vierzehntausend Meilen waren es vom chinesischen Fuzhou, das die Englänger Foochow nennen, bis an die Londoner Docks. Die besten Schiffe schafften diese Strecke in knappen einhundert Tagen, bei voller Last zu jeder Tag- und Nachtzeit. Gestartet am Pagoda-Anchorage, durch die China-See und die Sunda-Straße, vorbei an Anjer, dem Kap der Guten Hoffnung, über den Äquator nach Norden, an Kap Verde vorbei und auf dem schnellsten Weg nach London.
Zwei Drittel der gesamten Tee-Exporte aus China, die in Foochow verladen wurden, gingen in diesen Jahren nach Großbritannien. Auch in diesem Jahr 1866 wurden fast 500 Schiffe ausklariert, die mehr als 60 Millionen Pfund Tee exportierten. Die häufigsten Sorten waren dabei Congou, Souchoung und grüner Oolong.
Langsam wurde die Menge unruhig. Auch Robert Steele ging einige Schritte an den Docks umher, um sich während des Wartens zu beschäftigen. Mit seinen geschulten Augen untersuchte er die dort liegenden Schiffe, doch keines konnte sein Interesse erwecken. Vor allem die schweren, dickbauchigen Kohlenschiffe lagen herum und waren so ganz anders als die feingliedrigen Tea-Clipper, die noch von bärbeißigen Kapitänen hart am Wind gehalten wurden.
Bei den Kapitänen war es Brauch, einen Biberfellhut zu wetten, während die Mannschaften bis zu ganzen Monatslöhnen auf ihr Schiff setzten. Auf der Taeping kämpfte Kapitän MacKinnon mit seiner Mannschaft um den Sieg, während es auf der Ariel Kapitän Kaey und auf der Serica Kapitän Innes versuchten, vor dem jeweilig anderen Clipper in den Londoner Docks zu sein.
Inzwischen war die Sonne längst untergegangen, und zum Glück für die wartende Menge waren die abendlichen Temperaturen an diesem 06. September 1866 recht angenehm. Plötzlich hörte man ein Raunen und in der Weite sah man den ersten Tea-Clipper, wie er von Schleppern die letzten Meter auf der Themse hinaufgezogen wurde. Noch wusste die Menge nicht, welches der Schiffe die Führung besaß und wie viele Längen die anderen hinter ihr waren, doch Robert Steele sah mit dem ersten Blick, dass es sich um die Taeping handelte.
Es war also tatsächlich ein Schiff aus seiner Reederei! Er dankte dem Herrn für diese erfüllte Hoffnung und sah mit leuchtenden Augen, wie nur wenige Minuten hinter dem ersten Schiff bereits das zweite am Horizont sichtbar wurde: es war die Ariel! Robert Steele ging auf die Knie und schloss die Augen vor Glück.
In den nächsten Tagen war der äußerst knappe Sieg Schlagzeile Nummer eins auf den Titelseiten der Zeitungen. Dort stand in großen Lettern zu lesen: Taeping vor Ariel vor Serica! Die Klipper bringen die ersten Tees der neuen Ernte! Alle drei Schiffe gelangen zu den Docks binnen eineinhalb Stunden!
Das Teerennen von 1866 war entschieden, und Robert Steeles Werft hatte mitgewonnen. Seit diesem Septemberanfang war sie plötzlich und unerwartet die gefragteste Adresse für Tea-Clipper, die auch in den nächsten Jahrzehnten noch für spektakuläre Momente bei der Überfahrt von Foochow nach London sorgen sollten.
Christian Knieps: Besitzlos
Ich bin heute Morgen aufgewacht und hatte richtig hartnäckige Kopfschmerzen. Solche Kopfschmerzen, dass man ausrasten könnte, wenn es nicht so verdammt wehtun würde. Ich stelle mir die Frage, worüber ich in der Nacht alles nachgedacht habe, und ich komme zu der Erkenntnis, dass mich mein Besitz so richtig annervt! All der blödsinnige Kram um mich herum, den ich aus irgendwelchen anerzogenen Gründen seit Jahren und Jahrzehnten sammle. Also weg damit!
Ich beginne. Zunächst suche ich alles zusammen, das ich nur aus reiner Sentimentalität behalten habe: Gläser vom Weihnachtsmarkt, alte Fotos von irgendwelchen uncoolen Ereignissen aus meinem Leben, Bücher, die mir geschenkt wurden, da ich sie angeblich verschlingen würde, Kerzen, hunderte davon, Nippes und noch mehr Nippes. Ich stehe vor einer Schublade und schaue auf vierzehn Tesafilmrollen, neunzehn Kugelschreiber, vier Notizblöcke und so viele Post-Its, dass ich meine Wohnung wohl zweimal damit tapezieren könnte. Dabei mache ich mir doch Notizen auf dem Handy!
Der erste Müllsack ist in wenigen Minuten voll, dann der zweite, und als ich den dritten zuknote, stelle ich mir langsam die Frage, wie viel Müll ich zusammentragen werde und wohin ich diesen bringen müsse. Das alles würde niemals in die Mülltonne passen. Aber bloß nicht ablassen vom Ausmisten! Sonst knicke ich ein und räume wieder alles aus und in die Schränke ein. Die Kopfschmerzen werden weniger, und ich halte das Tempo hoch, indem ich nach und nach meine Wohnung entgifte.
Der Wohnzimmerschrank hat es mir angetan – das meiste habe ich bereits entsorgt, und jetzt geht es an die staubigen Bier- und Weingläser, die schon lange nicht mehr in Benutzung waren, ehe auch die allerletzten Reste in anderen Schubladen verschwinden, und ich mich ernsthaft zu fragen beginne, ob ich eine leeren Schrank im Wohnzimmer haben möchte.
Kurzerhand entschließe ich mich, im Schlafzimmer das Bett abzuschlagen – die Matratze kommt mit ins Wohnzimmer. Ab jetzt ist ein großer Teil des Schlafzimmers Ablagefläche für die Müllsäcke, aber auch nach und nach für die Möbel, die ich abbaue – beginnend mit dem Bettgestell und dem leeren Wohnzimmerschrank.
Ich merke, wie die Wohnung große leere Flecken erhält, und am Nachmittag ist der erste Raum komplett leer. Nichts, aber auch rein gar nichts habe ich aus dem Wohnzimmer als bewahrungswürdig für mein weiteres Leben identifiziert, und so führt mich mein nächster Weg in die Küche. Hier fliegen zunächst die vielen Geräte, die ich nie nutze, aus den Schränken, ehe ich die Anzahl an Geschirr drastisch reduziere. Ich brauche keine zwölf Teller oder vierzehn Kaffeebecher, je ein Set muss genügen.
Auch die Küche leert sich immer weiter; nur die Kaffeemaschine und der Kühlschrank scheinen noch eine gewisse Wichtigkeit in meinem Leben zu besitzen. Dann aber beschleicht mich ein Gedanke, der alle aufkommenden Fragen für immer und ewig beantworten könnte: wenn ich doch gar nichts so richtig besitzen muss – warum muss ich überhaupt eine Wohnung besitzen? Diese Frage arbeitet sehr stark in mir, und ich muss zugeben, dass ich einige Probleme nicht auf Anhieb lösen kann – wie zum Beispiel die Klamottenversorgung -, doch soll ich mich von diesen Unwägbarkeiten etwa abhalten lassen? Vom absoluten Besitzlosenzustand? Wobei… Ja natürlich! Ich besitze dann immer noch meine Erinnerungen, Gefühle, Leidenschaften… doch ich bin dafür wenigstens den ganzen Pröll los! Endlich!
Christian Knieps: Bremsspur
Die Gesellschaft um mich herum hat sich in einen wahnsinnigen
Geschwindigkeitsrausch versetzen lassen, der alleine dazu dient, die
Gegenwart durch immerwährenden Wandel nicht zu langweilig werden zu
lassen. Die Moden wechseln derart schnell, dass man eine verpasste Mode
nicht mal bemerken muss, und ganz bestimmt muss man sich keine Gedanken
darüber machen, denn die nächste ist schon da! Solange man nicht zu viele
Moden verpasst und als outdated oder immergestrig gilt, ist alles reparabel, da
das Gedächtnis mit diesen Moden ebenso leidet wie oft der Geschmack.
Ich wage jetzt etwas Verwegenes! Ich durchbreche diesen wahnsinnigen
Geschwindigkeitsrausch und bremse mit ordentlicher Spur ab, halte kurz ein,
betrachte die Moden, die an mir unberührt vorbeiziehen, und stelle mit
leichter Freude fest, dass absolut nichts Neues dabei ist – allenfalls eine neue
Abmischung verschiedener Moden der Vergangenheit. Die Beschleunigung der
Kurzfristigkeit der Moden führt zu dem absurden Phänomen, dass
Normalaltwerdende eine Mode mehrere Male erleben können, was den
unschlagbaren Vorteil mit sich bringt, Kleidungsstücke nicht mehr entsorgen
zu müssen, da diese in wenigen Jahren wieder en vogue sein werden – wobei
jedoch der Nachteil des zu kleinen Kleiderschranks ebenso mehr als evident
wird.
Während die Moden so an mir vorbeizischen, überkommt mich das Gefühl
einer latenten Nervosität, dass ich am Ende durch meine Pause doch mehr
verpassen würde, als ich es noch vor wenigen Momenten stock und steif
behauptet hätte. Ich muss meine gesamten Übungen zu Atemtechniken
auffahren, dass ich nicht in einen Zustand der Hyperunsicherheit gerate –
denn, wenn man einmal in einem solchen Zustand ist, ist man dem Wahnsinn
ausgeliefert, ohne Macht und Widerstand, ohne Willen und Resilienz. Dann
können Populismus und Metamoden viel einfacher in das eigene Gehirn
einziehen und sich dort breitmachen, als Folge eines Abgehängtseingefühls,
das man nie wieder verspüren möchte.
Ich für meinen Teil bekomme gerade noch mal die Kurve, das Vehikel, in dem
ich mich befinde, versetzt nur kurz, bricht aber nicht aus, sodass ich dagegen
ankämpfe, gegen einen Teil meines Selbst kämpfe – und traurigerweise die
tiefere Erkenntnis habe, dass ich auch verliere, wenn ich gewinne! Was ich
aber auf jeden Fall gewinne, sind die vielen abschätzigen Blicke meiner
Mitmenschen, die bisher dachten, dass ich aktuell und hip wäre, doch jetzt
erkennen sie den wahren Kern von mir: den gestrigen, noch nicht den
Ewiggestrigen. Vielleicht ist auch bei diesem turning point die Antwort 42,
denn seit Überschreiten dieser Grenze habe ich das Gefühl, dass sich das
Hetzen nach vorne nicht mehr so lohnt, denn statistisch ist es die zweite Hälfte
des Lebens – und anders als im Fußball gibt es keine dritte Halbzeit, in der
gefeiert wird.
Ich stehe also hier und sehe die nächsten Moden an mir vorbeiziehen, trage
meine alten Klamotten auf, verhalte mich, als wäre ich in der Entwicklung
irgendwann stehengeblieben, höre mir von meinen Kindern an, dass ich super-
mega-cringe bin, weil ich die neuesten Moden im social network mit vollem
Herzen missachte, und fühle mich gut damit.
Das Lustige an diesem Morgen ist, dass sich die Moden so sehr einmal um sich
selbst gedreht haben, dass ich mit meinem Stil und meiner Art wieder ein
angesagter Sportsfreund bin, was ich inzwischen etwas peinlich finde – doch
ich ahne, dass diese Mode spätestens beim nächsten Kaffee schon wieder
cringe bin. So soll es auch sein! Metamoden, was für ein Käse!
Christian Knieps: Räum auf!
Letztens kam ich in das Zimmer meines pubertierenden Sohnes und es sah aus, als hätte er den nicht ernst gemeinten Auftrag ernst genommen, jeden Quadratmillimeter seines Bodens mit irgendeinem Gegenstand zu bedecken. Zwischen dem Gefühl der Freude, dass mein Sohn etwas mit einer solchen Konsequenz betrieben hatte und dem aufwallenden Zorn, dass mein eigentlich gemeinter Auftrag wieder einmal völlig ignoriert worden war, fand ich im hinteren Bereich des Zimmers eine kleine Ecke, wo ich den Boden sehen konnte – und das Gefühl der Freude hatte keine Chance mehr. Ich nahm tief Luft und ließ den Zorn über meine Stimmbänder entweichen, doch die erwartbare Reaktion meines Sohnes zeigte mir, dass er seine Legierung mit Teflon überpinselt hatte, denn es kam nicht mehr der zarteste Hauch einer Kritik bei ihm an. Doch, o Wunder, bemerkte ich plötzlich eine Regung in seinem Gesicht und ein noch etwas unausgereifter Blick der Überlegenheit – man möchte nicht gleich sagen: Überheblichkeit! – zeigte sich.
»Dein Vorwurf, lieber Vater«, begann er mit einer viel zu freundlichen Stimme, »läuft ins Nichts, da Chaos im Griechischen weiter, leerer Raum bedeutet, und ich interpretierte das so, dass mein leeres Zimmer nicht unaufgeräumt sein kann!«
Ich gebe zu, ich war baff, aber vor allem musste ich mir selber eingestehen, dass das Gefühl der Freude plötzlich die Oberhand hatte. Mein Sohn sah und genoss seinen klaren Sieg, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sicherlich die Momente des Bildschirmanbetens maximieren würde.
Auch ich nahm mein Handy aus der Tasche und wollte mich nicht so einfach geschlagen geben, denn ein verlorener Kampf macht noch keine verlorene Schlacht, und ich wühlte mich durch eine Vielzahl an unwissenschaftlichen Meinungstexten, ehe feststand, dass er zwar gewonnen hatte, es aber allenfalls ein Pyrrhussieg sein würde! Ich stapfte meinem Sohn hinterher ins Wohnzimmer, stellte den Ignoranten, wie er seinen Bildschirm anbetete, und fabulierte über die Zusammenhänge der griechischen Mythologie, redete über Chaos, Kosmos, Gaia, Nyx, Tartaros, Erebos, Eros und wie sie auch alle hießen, ehe ich zu dem Punkt gelangte, den ich vor allem machen wollte, und zwar den etymologischen Beweis, dass sich die Bedeutung des Wortes über all die Jahrhunderte verändert hatte und nun einfach nur Unordnung bedeutete, doch da war es wieder, das Teflon! Ich bemerkte viel zu spät, dass mir mein Sohn so gar nicht zugehört hatte, und vor meinen Augen stand das Endergebnis dieser Schlacht: 3:0 für ihn. Tief in mir sammelte sich etwas, das sich wie die Urwut anfühlte, doch bevor ich meine letzte Elternwürde aufs Spiel setzte, sollte ich ihn anschreien, sprang ich über meinen Schatten und bot an, sein Zimmer mit ihm zusammen aufzuräumen. Auch wenn ich dann sicherlich mehr als drei Viertel der Arbeit machen musste, würde unser Leben von einer großen Unordnung wieder ein klein wenig mehr in Richtung Ordnung geschoben – die Seite des Lebens, die ich einfach viel mehr mag!
Christian Knieps: Guerilla Sale
In einem Geschäft für Schlafzimmermöbel. An einem Schreibtisch sitzt ein gelangweilter Verkäufer und schlürft an seinem Kaffee. Beide Füße, an denen weiße Golfschuhe prangen, liegen auf dem Tisch. Es ist nichts los im Laden. Plötzlich ertönt die Eingangstüre, und ein potentieller Kunde kommt in den Laden. Dieser geht schnurstracks zu dem Verkäufer und setzt sich an den Tisch auf einen bereitstehenden Stuhl. Beide mustern sich eine Weile.
Verkäufer ohne sich zu regen:
Kann es sein, dass Sie gar nichts kaufen wollen? Sondern nur hier sind, um Stunk zu machen und meine Zeit zu fressen? Wenn Sie eine Beratung wollen, gehen Sie irgendwo hin, aber stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit!
Kunde:
Lassen wir das dumme Gequatsche! Mein Kumpel hat mir gesagt, dass es hier in diesem Laden einen Verkäufer gibt, auf dessen Beschreibung Sie haargenau passen, und der es schafft, Möbel zu horrenden Preisen zu verkaufen, ohne dass man eigentlich überhaupt was kaufen wollte! Nun, sind Sie das?
Kurze Pause.
Verkäufer:
Wenn es mich interessieren würde, wer Ihr Kumpel ist, würde ich mich jetzt am Kopf kratzen. Der Kunde schaut ihm auf dem Kopf. Anstatt, dass ich mir den Kopf kratze, kratze ich mir den Sack. Gehen Sie, bevor Sie noch mehr meine Zeit stehlen!
Kunde:
Mein Kumpel nannte es Guerilla Sale, was Sie machen würden. Ich bin ganz offen und ehrlich! Ich habe wenig Kohle und möchte auch nichts kaufen, will aber erfahren, wie Sie meinen Verstand brechen, um ein völlig überteuertes Geschäft zu machen, das ich weder brauche noch möchte.
Verkäufer:
Wie viel Bargeld haben Sie dabei?
Kunde:
Zweitausend. Frisch von der Bank abgehoben. Jetzt ist das Konto leer!
Verkäufer:
Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Blankovertrag hinlege, wir tragen die zweitausend Euro als Betrag ein, Sie unterschreiben, gehen nach Hause und bekommen von mir irgendwas geliefert? Irgendwann einmal. Mit ein bisschen Rabatt sogar, wenn ich einen guten Tag habe. Dann wäre das ein angemessener Stundenlohn dafür, dass ich mir schon seit einer gefühlten Ewigkeit Ihr dummes Gewäsch anhören muss!
Kunde:
Man unterschreibt doch keinen Kaufvertrag, in dem zwar die Summe, aber nicht der Lieferinhalt aufgeführt ist!
Verkäufer:
Meine Kunden schon!
Kunde:
Ich werde das nicht unterschreiben!
Verkäufer:
Dann ist das Gespräch hiermit beendet. Sie kennen ja den Weg zum Ausgang. Sind ihn auch hierher zum Stuhl gekommen. Einfach zurückgehen und aufpassen bei der Tür. Die ist von innen geschlossen! Nicht, dass Sie sich den Kopf stoßen!
Der Kunde ist das erste Mal verwirrt. Nach einem Moment des Schweigens steht er auf und nimmt die zweitausend Euro aus dem Portemonnaie und legt sie auf den Tisch.
Kunde:
Ich will was verkauft haben!
Verkäufer:
Und ich will Ihnen nichts verkaufen! Versuchen Sie es an der Ecke bei der Pommesbude! Die verkaufen Ihnen sicher eine Currywurst, Pommes rotweiß, und Sie müssen nicht mal zweitausend latzen. Also, Tschüss jetzt. Gehen Sie mir aus der Sonne!
Kunde:
So funktioniert das nicht! Sie haben hier Angebote stehen, die ich annehmen werde. So funktioniert das in einem Kaufhaus! Sie machen Angebote, ich suche mir eins aus und kaufe es! Sie können nichts dagegen machen!
Verkäufer:
Klar kann ich das! Ich sage Ihnen, dass das, was Sie sich aussuchen, leider schon verkauft ist. Wir haben keine Ware im Angebot! Kurze Pause. Wären Sie jetzt so freundlich, Ihr Geld einzupacken und zu verschwinden! Wenn andere Kunden reinkommen, die wirklich was kaufen wollen, dann spüren sie die schlechte Stimmung, die Sie hier verbreiten und gehen dann wieder! Das wäre mir übrigens sehr unrecht – daher Abmarsch!
Der Kunde lässt sich nicht beirren und die zweitausend Euro auf dem Tisch liegen. Er geht durch den Laden und schaut sich die Schlafzimmermöbel an.
Kunde:
Was ist das für ein Bett?
Verkäufer:
Ist ein verkauftes Bett!
Kunde:
Und das hier?
Verkäufer:
Auch verkauft!
Kunde:
Und das?
Verkäufer:
Wollen Sie jetzt wirklich alle Betten durchgehen, um festzustellen, dass kein einziges hier ist, das ich Ihnen verkaufen kann? Würden Sie jetzt endlich meine Stimmung schonen und abdampfen?
Kunde kehrt zum Tisch zurück:
Nein, das werde ich nicht! Ich bleibe solange, bis Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Der Laden schließt in dreieinhalb Stunden. Wenn Sie so viel Zeit haben, bleiben Sie einfach sitzen. Dann können wir warten, ob Sie nicht doch einen Blankovertrag unterschreiben, sagen wir mit einer Summe von zehn-, fünfzehntausend. Dann würde sich meine Laune deutlich steigern.
Kunde:
Wo soll ich so viel Geld herholen?
Verkäufer:
Kenne ich Ihre Finanzen? Weiß ich, wie viele Kredite Sie laufen haben? Was Sie angespart haben? Ob Sie nicht irgendein Typ sind, der ein Kaufvertrag unterschreibt, um davon zurückzutreten? Das machen wir übrigens nicht. Wir geben keine Kulanz auf Rückgabe. Nur dass das von vorneherein klar ist. Falls Sie sich doch noch umentscheiden und ein ordentliches Bett kaufen wollen.
Kunde:
Ich habe ein ordentliches Bett!
Verkäufer:
Klar! Wenn das so ist – was machen Sie dann noch hier, außer mich anzunerven?
Kunde:
Ich möchte, dass Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Wie gesagt, das wird nichts! Ersparen Sie uns doch einfach die nächsten sinnfreien Gesprächsfetzen und verlassen Sie den Laden. Das würde uns beiden den Tag retten. Vertrauen Sie mir dabei, ich habe eine riesige Expertise beim Retten von Tagen!
Kunde:
Ach, wirklich?!
Verkäufer:
Ja! Ihrem Kumpel habe ich ja auch den Tag gerettet!
Kunde:
Sie wissen, wer mein Kumpel ist?
Verkäufer:
Das brauche ich gar nicht! Ich kenne den Typen. Verweichlicht, kommt mit seiner Frau, unter deren Fuchtel er steht. Er will eigentlich nichts kaufen, ist pissed und genervt von meiner Laberei. Die Frau ist an mir interessiert, weil ich ein geiler Typ bin, und der Mann denkt sich, was ein Arsch! Aber ein Arsch mit Ahnung, und weil der meine Frau bearbeitet, muss er sich jetzt aus seinem Schneckenhaus hervorwagen und einen Krieg mit mir beginnen, der schneller als gedacht zu Ende ist. Am Ende haben wir vage was abgesprochen, es wird ein Kaufvertrag unterzeichnet und ich kann eintragen, was ich will. Der Gegenstand wird völlig überteuert verkauft, aber weil das immer noch eine richtig gute Qualität ist, ist auch der Kunde zufrieden und schläft in seinem Bett super, weil er entweder wirklich gut schläft oder weil sein Arsch beim Ficken nicht mehr ganz so tief einsackt, wenn die Frau auf ihm reitet. Egal, am Ende ist das eine Win-Win-Situation. Das, was Sie mit mir hier machen wollen, ist Selbstbefriedigung! Und das ist etwas, das mich nervt. Ich will nicht genötigt werden, für was herzuhalten, woran ich keinen Spaß habe. Ich sage Ihnen daher etwas – für unser beider Wohlgefallen: ich sichere Ihnen zu, dass Sie ein Bett erhalten, das einwandfrei ist und auf dem Sie jede Frau glücklich machen, die Sie hineinbekommen. Dafür fülle ich jetzt schnell und dreckig einen Kaufvertrag über fünfzehntausend Euros aus, den Sie unterschreiben. Die zweitausend behalte ich als Vermittlungsprovision, nicht als Anzahlung. Wenn Sie dann unterschrieben haben, fahren Sie nach Haus, sprechen mit Ihrer Bank und überweisen das Geld bis übermorgen.
Kunde sehr verunsichert:
Wann… Wann könnte ich… könnte ich denn dann mit einer Lieferung rechnen?
Verkäufer bewegt sich das erste Mal mit Schwung und klickt ein wenig im Computer an der Seite:
Vermutlich in diesem Jahrtausend noch. Keine Ahnung, solange, wie es halt dauert. Genauer geht es nicht! Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie einmal in dem Bett eingeschlafen sind, werden Sie wissen, dass es die richtige Entscheidung war. Er klickt noch einmal, streckt dann die Hand aus. Meine Provision! Bitte! Der Kunde nimmt den Geldstapel und gibt ihn mechanisch an den Verkäufer. Dieser steckt das Geld weg und zieht ein einzelnes Papier aus dem Drucker hervor. Hier bitte eine Unterschrift! Gibt dem Kunden einen Kugelschreiber, dieser nimmt ihn und unterschreibt den Vertrag. Und jetzt finden Sie ja bestimmt den Weg nach draußen! Einen schönen Tag noch.
Kunde ganz verunsichert:
Bekomme ich kein Vertragsexemplar?
Verkäufer:
Warum sollte ich Ihnen denn einen geben? Sie haben ja nicht vor, irgendwas zu reklamieren! Also bis bald! Vielleicht rufe ich Sie an.
Der Kunde steht wie benommen auf und taumelt auf den Ausgang zu. Das letzte im Stück, das man vernimmt, ist der Ton, der ertönt, wenn die Türe geöffnet wird. Alle ab.
Christian Knieps: Tagebuch eines Vollzeitgenervten
Als meine Eltern in den Urlaub fahren wollten und sie das Wort Sommerfrische fallen ließen, dachte ich an Strand und einer frischen Brise und entschied, mit ihnen zu fahren, obwohl ich auch die Chance hatte, zu Hause zu bleiben. Es ist meinem Alter von 16 Jahren geschuldet, dass ich versuche, mich so wenig wie möglich mit meinen Eltern abzustimmen, da mir die lieb gewonnenen Freiheiten sehr wichtig sind. Daraus ergab sich, dass ich Sommerfrische falsch interpretierte und davon ausging, dass wir an einen Strand fahren würden, doch als wir uns auf dem Weg befanden und ich realisierte, dass das Navigationsgerät uns direkt in die Berge nach Österreich führte, schwante mir Übles. Doch ich hätte nie erahnen können, wie übel es werden würde, denn als wir ankamen, stellte ich fest, dass wir keinerlei Internet vor Ort besaßen – weder über kabelgebundenes WLAN, noch über eine ausreichende Datenverbindung via Satellit oder Funk. Wir waren astrein von der Außenwelt abgeschnitten, und mir wurde langsam klar, dass ich weder die richtige Kleidung für die zwei Wochen eingepackt hatte, noch, dass ich einen Plan hatte, was ich die ganze Zeit übermachen wollte, um nicht vollständig abgefuckt zu sein. In der Überzeugung, dass wir nicht in die Berge, sondern an den Strand wollten, hatte ich vor allem dünne, kurze Klamotten eingepackt, und war mir sicher, dass ich, am Strand liegend, die Brise und die Sonne genießen würde, doch es sollte ein Horrortrip am A-Punkt der Welt werden. Am ersten Tag nahm ich das Ganze noch mit einer Portion Humor, doch schon am zweiten Tag wachte ich mit knallenden Kopfschmerzen auf und war mir sicher, dass ich niemals wieder lebend nach Hause finden würde.
Ich verweigerte mich der ersten und der zweiten Wanderung an den folgenden Tagen und gammelte ohne Ziel und Verstand zuhause herum, tigerte durch die Wohnung und suchte nach einer Beschäftigung, doch mir wollte partout keine einfallen. Dem Kontakt zur Außenwelt beraubt, fiel mir nichts Sinnvolles ein, sodass ich am vierten Tag notgedrungen mit meinen Eltern auf eine Wanderung ging, in der Hoffnung, dass ich irgendwo ein Fetzen mobiles Internet finden würde, doch als ich diesen Fetzen endlich auf meinem Display in Form eines zarten Balkens zu sehen bekam, wurde mir schlagartig klar, dass mein Handyvertrag nicht für das EU Ausland freigeschaltet war. In meiner Verzweiflung versuchte ich noch, über die App meines Anbieters die Freischaltung zu erwirken, doch die minimalistische Verbindung reichte nicht mal aus, um die App sauber mit dem Server zu verbinden, geschweige denn, irgendetwas zu ändern. Somit war ich auch meiner letzten Hoffnung beraubt, innerhalb des Urlaubs noch irgendwie mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Als wir am Ende des Tages nach Hause kamen, verkroch ich mich umgehend in mein Zimmer, und meine Eltern waren feinfühlig genug, um zu verstehen, dass ich diese tiefe Kurzdepression mit mir selber ausmachen musste, denn alles, was sie mir in diesem Moment gesagt hätten, wäre zu einer weiteren Vollkatastrophe ausgeartet. Ich weiß nicht, ob jemals jemand in der Weltgeschichte in meinem Alter mit einer solchen Langeweile konfrontiert war, doch mir ging es, als würde die Welt absichtlich stehen bleiben, und wenn ich den Sekundenzeiger auf der Uhr beobachtete, wie er vor sich herkroch, hatte ich das Gefühl, in meinem Geist auch die Hundertstelsekunden mitzählen zu können. Mir war so langweilig, dass ich sogar vergaß, mein Handy zu laden, das mir sowieso nichts brachte, und ich tigerte wieder durch das Haus, in der Hoffnung, dass irgendein Geistesblitz mir half, diese Zeit zu überstehen. Als ich zum Abendessen gerufen wurde, sagte ich meiner Mutter, dass ich kein Hunger hätte, doch sie nötigte mich, wenigstens eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen, und während ich lustlos auf einem Schinkenbrot vor mich herkaute, entdeckte ich an der Seite der Küche, auf einem Regalboden dahinschimmelnd, einen Schreibblock und entschied mich spontan, dieses Tagebuch eines Vollzeitgenervten anzufangen.
Ganz im Ernst! Welcher im Kopf nicht ganz sauber tickende Schwachmat hat sich das mit der Sommerfrische ausgedacht! Ich vermute, wenn Google funktionieren würde, würde ich herausfinden, dass irgendein Schlaumeier vor ein paar hundert Jahren auf die grandiose Idee kam, Kinder mit ihren Eltern in einen langweiligen Urlaub zu zwingen und diesen Sinnlostrip mit dem tollen Wort Sommerfrische aufpeppen zu wollen! Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Köderwort – denn anders kann man dieses Wort nicht beschreiben – in der heutigen Zeit im Strafgesetzbuch unter Kindesmisshandlung steht, denn anders kann ich mir kaum vorstellen, wie das heute gesehen wird! Wie kommen Eltern eigentlich auf die absurde Idee, dass Jugendliche in meinem Alter Bock haben, auf einer rustikalen Almhütte den ganzen Tag ohne Internet und nur mit frischer Luft zu verbringen? Erfüllt es nicht den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, wenn Eltern ihre Kinder nötigen, über mehrere Wochen abgeschnitten von der Gesellschaft und dabei jeglicher Kommunikationsmittel beraubt zu sein, um sich auf sich selbst zu konzentrieren? Wo kämen wir denn hin, wenn das rechtmäßig wäre?! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen werden würden, wenn die Eltern ernsthaft diese Strategie weiterbetreiben dürfen! Gibt es kein verbrieftes Recht auf elementare Kommunikation, das ich besitze? Rechnen wir mal nach! 2 von 52 Wochen sind knapp 4% an Jahreslebenszeit – und da ist die Fahrzeit großzügig rausgerechnet! Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie wären 4 % weniger informiert! Das klingt im ersten Moment gar nicht viel, doch wissen sie eigentlich, wie viel 4 % an Informationsverlust wirklich bedeutet? Das kann in ganz vielen Dimensionen dazu führen, dass man raus ist, denn diese 4 % sind ja nicht verteilt auf ein Jahr, sondern massiert in zwei Wochen. Das bedeutet, wenn in diesen zwei Wochen elementare Dinge in meiner Umwelt passieren, von denen ich nichts mitbekomme und gegen die ich nichts unternehmen kann, sollten Sie mich betreffen, wachsen diese 4 % schnell auf einen Einflussfaktor heran, der mein ganzes zukünftiges Leben verändern kann. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: angenommen, ich wäre in einer Beziehung – und entweder wäre diese Beziehung noch in der rosaroten Anfangszeit oder vielleicht in einer kurz kriselnden Zeit – dann könnte es sein, dass die 4 % dazu führen, dass die Beziehung scheitert und mein ganzes Leben eine andere Richtung erhält! Wer würde für diese elementare Veränderung meines Lebens die Verantwortung übernehmen? Meine Eltern? Ha! Sicher nicht derjenige, der uns das Haus vermietet hat, in dem es kein Internet gibt? Sicherlich ist das in den AGBs ausgeschlossen! Derjenige, der vor hunderten Jahren das beknackte Wort der Sommerfrische erfunden hat? Sie wissen, worauf das hinausläuft! Meine Rechte werden mit Füßen getreten, es scheint allen egal zu sein, was mit meinem Leben passiert, auch wenn es am Ende nur 4 % meiner Jahreslebenszeit sind! Frische hin oder her – da verbringe ich den Sommer doch viel lieber in meiner stickigen Bude, wo mir wenigstens nicht langweilig ist! Lieber frisch in der Birne als frisch im Sommer, der nix Frisches am Start hat! So, da habt ihr meine Meinung zu Sommerfrische – und was mache ich jetzt die nächsten 10 Tage?
Christian Knieps: Sommerfrische
Disclaimer: Achtung! Dieser Artikel kann Hinweise auf Produkte erhalten, die zur empirischen Fallstudie notwendig waren. Da dies kein Warentest im herkömmlichen Sinne darstellt, wird sich an dieser Stelle in aller Form entschuldigt!
Wer kennt das nicht? Es ist heiß im Staate Dänemark, aber auch in der eigenen Großstadt, die in einem Kessel liegend die Grillstufe des Backofens angeschaltet hat, Hitze von oben und unten, und selbst im fast nacktem Zustand kann man erfühlen, wie sich ein Brathähnchen in der Röhre fühlen mag. Die Luft ist stickig, diesig, eine Glocke mit wabernder oder stehender Luft heizt das Ganze weiter an, die Schweißporen streiken, da die körpereigene Kühlung längst überfordert ist. Die Gedanken richten sich im Halbwahn auf nur ein Ziel: Sommerfrische! Ab zum Meer! Raus aus dem Glutofen, hinein in die steife, angenehme Brise, irgendwo auf eine Insel, auf der Touristen das Kommando längst übernommen haben.
Doch o Wunder! Ganz viele kennen das nicht! Aus vielerlei Gründen ist die Zahl derer, die sich das nicht leisten können, in den Jahren stetig gewachsen. Familien, die schlichtweg zu wenig Geld verdienen, um gleichzeitig in einer gekauften Erdgeschosswohnung einen Infinitity Pool zu betreiben, sind oft ohne ausreichende Mittel, und auch Singles, die ihr Geld dafür ausgeben, um den Ausbau ihrer Maisonette-Altbauwohnung zu ermöglichen, da die Anzahl der einmal getragenen Kleidungsstücke unmöglich mehr in die beiden begehbaren Kleiderschränke passen, können es nur per Kredit finanzieren – die Welt ist schon arm dran!
Aus diesem Grund – und aus rein kapitalistischen Aspekten natürlich – hat ein Unternehmen, das zuvor mit seinem Produkt auf dem Holzweg war – glowing Gelantinezuckerformdrops wirken eher abschreckend auf Käuferinnen und Käufer, die befürchten, selber danach zu glühen, was nachts den empfindlichen Schlaf in der Gluthitze weiter stören könnte – dieses Unternehmen also hat ein Produkt entwickelt, das die Sommerfrische in die eigene Wohnung bringt. In den eigenen vier Wänden das Gefühl von Urlaub zu verspüren, ist so erfolgreich, dass niemand mehr in Urlaub fährt, und nur wenige Jahre später sind Massen von Urlaubsorte wirtschaftlich ruiniert – nur ein einziges Dörfchen hat die grandiose Idee, im Urlaub vor Ort verschiedene Erlebnisse zu ermöglichen. Man kann als Gast von einem ins andere Zimmer umbuchen, geht von der Wüste in die Berge, in die Antarktis und bis nach Patagonien, und es bleibt ein Renner, woanders hinzugehen, ohne sich großartig bewegen zu müssen.
Und die Moral von der Geschicht’? Sind wir ehrlich – ist es in Dänemark wirklich heiß oder ist das nur ein Marketing-Gag?