Anna Hofmann: Etwas

Immer wieder sehe ich auf den Tankstand und vergewissere mich, ob genügend Sprit bleibt. Seit eineinhalb Stunden lenke ich das Auto über eine völlig unbefahrene Straße, es verändert sich nichts an der Kulisse um die Windschutzscheibe. Bäume ziehen groß und dunkel an uns vorbei. Türme aus Samt oder aus Stahl, ich weiß es nicht. Ich versuche sie nicht anzusehen. Die Dunkelheit umschließt uns schon seit die Sonne unspektakulär und schnell irgendwo hinter uns untergegangen ist.
Er sitzt auf dem Rücksitz und ist eingeschlafen, kostbar liegt er ganz matt in seiner Schale. Ich sehe oft in den Rückspiegel, ob er noch da ist. Es kommt mir noch immer so vor, als könnte er einfach verschwinden.
Das Autoradio rauscht Störgeräusche in unsere Kapsel, ich suche nach einem Sender und tatsächlich schafft es einer und rastet ein. Klassik perlt leise auf den Beifahrersitz. Ich denke an Autofahrten mit meinen Eltern, an Klassik, die ihre Streitigkeiten untermalt. Ich saß immer auf dem linken Rücksitz und schaute aus dem Fenster. Dann stellte ich mir vor, taub zu werden. Es war nicht so einfach, aber wenn ich mir ausmalte, meine Ohren würden von innen zuwachsen, musste ich das Geschrei nicht mehr hören. Manchmal klappte es, dann war Ruhe. Am Ende schrie mein Vater sie immer an: Jetzt beruhige dich doch, verdammt nochmal!
Meine Augen werden müde, aber ich konzentriere mich auf den Lichtkegel vor mir: ein beständiges Immer an Straße und Bäumen. Wir müssten das Haus ungefähr in einer Stunde erreichen. Als Erstes trage ich ihn aus dem Auto und bringe ihn ins Haus, werde ihn ins Bett legen, dann noch einmal kurz rausgehen und die Taschen nach Innen tragen. So mache ich es. Und morgen früh holen wir dann zusammen im Dorf Brötchen. Es gibt nur einen Bäcker in der Ortschaft, aber die Frau hinter dem Tresen ist freundlich und freut sich immer uns zu sehen.
Aus dem Nichts kommt etwas von links. Ich kann nicht sagen, was passiert, ich weiß nicht, was es ist. Etwas Großes, dünnes. Blitzschnell bewegt es sich auf die Straße und ich drücke auf die Bremse, ich drücke sie ganz durch, und dann sehe ich zwei leuchtende Augen. Das Auto quietscht, es schlingert, ich beginne die Kontrolle zu verlieren. Dann knallt es. Es macht einen Ruck durchs ganze Auto, ich schreie, er wacht auf und stöhnt.
„Mama“, sagt er.
Und ich sage noch:
„Ja!“
da kommt das Auto zum Stehen und ich höre ihn atmen und mich atmen. Ich drehe mich um und frage panisch, ob ihm was weh tut.
„Bist du ok? Oh Gott, alles wird gut. Alles wird gut.“
Am Beifahrersitz stütze ich mich so ungelenk ab, als ich mich versuche zu ihm umzudrehen, dass etwas in meiner Schulter knackt und ich greife nach seiner Hand. Was ist passiert? Ich will die Zeit zurückdrehen. Nur ein paar Sekunden.
„Mama, was war das? Ich hab geträumt, …“
„Ist gut, alles ist ok! Wir können gleich weiter, ja?“
Mir wird schlecht. Ich steige aus und gehe ums Auto herum.
Alles ist ok.
Alles ist ok.
Ich öffne seine Tür, er sieht mich mit dem verwirrten Blick an, der mich am meisten schmerzt. Vorsichtig taste ich ihn ab, kein Blut. Er ist ok.
Alles ist gut.
„Mama, du hast da was im Gesicht“, sagt er und ich fasse mir an die Stirn. Ok, hier ist Blut, das muss warten. Ich küsse ihn auf den Kopf und sage:
„Schlaf ruhig weiter, ich bin gleich wieder da!“
Vorsichtig schließe ich die Autotür und drehe mich um. Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und schalte die Lampe darauf ein. In kleinen Schritten laufe ich die drei Meter zu dem Etwas zurück und halte das Licht darauf. Das Etwas bewegt seine Lippen, es öffnet den Mund. Ich will sagen: Nein, sprich nicht. Es blutet am Bauch oder am Rücken, der Asphalt glänzt ein bisschen. Ach du Scheiße, denke ich.
Das Etwas wird vor meinen Augen zu einem Reh, es nimmt organische Gestalt an, es entwickelt sich zu einem Tier. Ein Tier, das ich angefahren habe. Was mache ich denn jetzt ? Ruft man in so einem Fall die Polizei? Den Tierarzt, Jäger oder Förster? Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es atmet, ich leuchte es erneut an und es blinzelt. Alles wird gut, sage ich und weiß in diesem Moment schon, dass das eine blöde Lüge ist. Für uns wird alles gut, für meinen Sohn wird das ein Schreck bleiben, für mich eine schlimme Nacht aber du, du wirst mir hier jetzt wegsterben und ich kann nichts dagegen tun. Plötzlich überkommt mich eine geballte Woge Schuld, ich fange an rotzend zu weinen und in der Zeit, in der ich mein Handylicht von ihm kurz abwende und es wieder darauf richte, bewegt es sich nicht mehr.
Mein Körper zittert. Ich warte darauf, dass etwas passiert, aber es bleibt dunkel und still. Ich stehe auf und sehe mich um, kein Auto ist weit und breit zu sehen. Aus dem Wagen höre ich ihn Mama rufen. Es ist ein fragender Laut, ein unsicheres Wimmern. Ich renne zu ihm und öffne die Wagentür. Er sieht mich verschlafen an und fragt:
„Was machst du?“
„Alles wird gut“, sage ich und beginne mich zu sortieren. Es gibt Dinge zu tun, denke ich.
Ich schalte das Handylicht aus und wähle die Telefonnummer der Polizei. Kurz danach meldet sich ein Mann mit erschöpfter Stimme, im Hintergrund hört man Telefone klingeln und ruhige Stimmen. Ich stelle mir vor, dass es dort warm ist und dass sie bestimmt Filterkaffee trinken und Sudokus ausfüllen. Jetzt muss ich sagen, warum ich anrufe.
Ich nenne ihm meinen Namen und die Landstraße, auf der sich mein Auto mit meinem Sohn befindet, auf der ich stehe und auf der dieses Reh liegt. Ich sage ihm, dass es mir leid tut und frage, was jetzt zu tun sei.
„Gibt es Verletzte?“, murmelt er.
„Ja, das Reh ist tot.“
„Nein, ob es Verletzte gibt? Sind Sie verletzt?“
„Uns geht es gut. Aber hören Sie, das Reh ist glaube ich gerade gestorben.“
„Dann stellen Sie ein Warndreieck auf und fahren Sie weiter. Wir schicken jemanden. Wenn Sie möchten, können Sie beantragen, dass man Ihnen ein neues Warndreieck zuschickt. Das Formular können Sie auf unserer Website downloaden.“
„Und das Reh? Was machen Sie mit ihm?“
Er schweigt und ich höre wieder Telefonläuten im Hintergrund, ein Kollege ruft einen anderen und ein Stuhl quietscht.
„Das können wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Wir schicken jemanden.“ sagt er noch einmal.
Ich will ihn fragen, was das bedeutet. Ich will wissen, wer das Reh holt und was mit ihm geschieht, aber er hat bereits aufgelegt.
Langsam gehe ich zurück zu dem Häufchen auf der Straße. Es liegt ganz still da und ich überlege, es wiederzubeatmen oder einen Krankenwagen zu rufen, aber es wird wohl zu spät sein, denke ich, es ist wohl zu spät. Ich atme tief Nachtluft ein und muss husten. Es wird ein Anfall, der sich zu einem erneuten Weinen zu entwickeln droht. Abrupt drehe ich mich zum Auto und öffne den Kofferraum. Das Warndreieck liegt da und sieht mich an
Ich habe dir doch gesagt, du würdest mich mal brauchen.
Als ich zurück laufe und versuche das Dreieck so aufzustellen, dass es vorbeifahrende Autofahrer früh genug bemerken und dann einen Bogen darum fahren können, überlege ich das Reh im Wald zu vergraben. Ich könnte versuchen es über die Leitplanke zu heben und wenigstens mit etwas Moos bedecken. Ich würde es schon schaffen, irgendwie. Ratlos sehe ich es mir an und schätze sein Gewicht.
Es gibt Dinge zu tun. Ich wende mich ab und laufe zurück zum Wagen. Langsam öffne ich die Fahrertür und setze mich. Als ich den Schlüssel in die Zündung stecke und den Wagen anlasse, leuchten die Lichter der Amatur auf, Klassik beginnt sich um uns auszubreiten. Er ist schon wieder eingeschlafen, als wir langsam beginnen die Landstraße weiter zu fahren. Ein Blick durch den Rückspiegel lässt nicht mehr erahnen, wo das Reh liegt. Ich hätte bei ihm bleiben sollen, denke ich.

Anna Hofmann: Déjà-Vu

Die ganze Welt dreht sich um einen Punkt zwei Meter neben mir und ich schlafe rückwärts. Im Traum scheint mir die Szenerie real, am Tag ist mir das meiste fremd.
Alles hier ist stimmig. Als ich in seine Wohnung trete, sehe ich Bücherstapel auf dem Tisch liegen, sie sind parallel zur Kante ausgerichtet. Ich schaudere und denke über äußere und innere Ordnung nach. Er sitzt neben mir und redet so viel, er spricht nicht mit mir, er redet und mein Hirn pocht gegen die Schädeldecke. Früher nannte ich das Migräne, aber es ist ein chronisches Klopfen in meinem Kopf geworden. Er wird platzen, denke ich und dann wird er sich über die Sauerei beschweren. Sein letzter Satz hängt in der Luft und wiederholt sich in meinem Kopf so lange, bis er ein Ohrwurm wird.
man kann es sich nicht aussuchen
man kann es sich nicht aussuchen
man kann es sich nicht aussuchen
Ich spüre, dass meine Mundwinkel schon wieder zu Blei geworden sind, nicht imstande zu lächeln, lasse ich mir neue Ausreden einfallen, warum ich nach Hause muss. Nach Hause, das ist auch übertrieben, dieses Loch Zuhause zu nennen aber ich kann nicht sagen, dass ich allein sein muss, ohne noch mehr erklären zu müssen. Meine Jacke habe ich schon am Anfang auf die Stuhllehne in der Küche gehängt. Als wäre ich immer auf der Flucht merke ich mir genau, wo ich meine Siebensachen liegen lasse und wie ich schnell wieder nach draußen komme.
Obwohl er noch nicht zu Ende erzählt hat, gehe ich. Während ich die Straße entlang laufe, denke ich über den Punkt zwei Meter neben mir nach. Was, wenn es immer nur um diesen Punkt ging und das Streben dahin eine ständige Verbiegung bedeutet, die mich irgendwann ganz schief hat werden lassen? Ich wiederhole innerlich, was er gesagt hat und sehe nur Fehler in dem, was ich geantwortet habe. Der Boden unter meinen Füßen scheint zu zittern und meine Augen versuchen einen Punkt auf der Straße zu finden, der lohnenswert wäre, fixiert zu werden.
Ich will zu ihm zurücklaufen, ich schwärme meinem Verstand bereits vor, wie schön das wäre, wie sehr er sich freuen würde, wie normal alles sein könnte, da erinnert mich etwas daran, dass Normalität lange her ist. Sonst müsste ich jetzt nicht gehen. Sonst hätte ich nie von irgendwo gegen meinen Willen und mein Vorhaben gehen müssen. Ich hätte keine Probleme gehabt, das Haus zu verlassen, ich würde einfach immer tun, wonach mir ist.
Es begann zu schneien und wenn es schneite, dachte ich an etwas früheres, angstloses. Jetzt machte mir beinahe alles Angst, ich konnte nur noch wenig aus dem Haus. Meine Wohnungstür war mir irgendwann wie eine magnetische Schwelle vorgekommen, die ich nicht übertreten konnte. Manchmal hatte ich die Wohnung wochenlang nicht verlassen, nicht einmal dem Lieferservice hatte ich in die Augen sehen können und unangemessen viel Trinkgeld gegeben. Oft hatte ich es probiert, aber jeder neue Versuch entmutigte mich mehr und nachdem ich meine Jacke dreimal an- und wieder ausgezogen hatte, legte ich mich zurück ins Bett.
Und ich hatte nicht zu seinem Geburtstag gehen können. Das liegt vor allem daran, dass er bereits nachmittags in seine Wohnung eingeladen hatte. Wäre es eine Party gewesen, hätte ich es hingeschafft, aber als würde mir die Nacht meine Melancholie eher verzeihen als das Tageslicht, konnte ich nicht.
Wobei Melancholie ja eine ganz andere Sache ist als das, was ich erlebe. Melancholie lässt noch Spielraum für Ästhetik zu. Man kann sich in den vielen Nuancen baden, man kann es genießen, sie reiht sich in verklärte Vorstellungen von Zweifel und Traurigkeit ein. Aber es kommt mir heute eher so vor, als sei mir ein zerbrochener Spiegel vorgehalten, der mir eine verzerrte Welt und ein zerstörtes Selbst zeigt. Und so bin ich nicht mehr imstande zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ja am Schluss weiß ich nicht einmal mehr wo oben und wo unten ist.
Ich finde immer noch keinen Punkt zum Fixieren, weder außen noch innen und laufe schneller. Bis zu meiner Wohnung sind es noch gut 20 Minuten, aber laufen ist besser als Straßenbahn fahren, dass mir an schlechten Tagen wie eine fahrende Blechbüchse mit vielen anderen Insassen vorkommt. Das Feld vor mir ist im Sommer ein beliebter Grillplatz, heute ist kein Mensch zu sehen, es schneit immer noch.
Aber Schnee. Die Bewegung der tausend kleinen Flocken zieht mich mit nach unten; eine optische Täuschung, die mir plötzlich so verführerisch erscheint, dass ich mir wünsche mit ihnen zu fallen und liegen bleiben zu dürfen. Ich würde dumpfer fallen als die Flocken. Nicht sanft zu Boden pendeln wie sie, ich würde nicht noch einmal nach links und nach rechts schweben, bevor jede von ihnen mit dem Rest verschmilzt. Es wäre eher ein gedämpfter Schlag und dann läge ich dort auf dem Feld und wäre binnen weniger Minuten nicht mehr zu sehen, denn Flocke um Flocke würde mich der Schnee begraben. Man würde mich in den ersten warmen Tagen im April finden. Einen ganzen Winter lang liefe jeder einfach an mir vorbei. Nur wenige würden sich noch einmal umdrehen, sähen über die Felder aus Eis, würden ein Unbehagen spüren, einen Schatten. Sie würden sich fragen, ob sie ihrem Bauchgefühl folgen und nachsehen sollten und dann würden sie sich zur Ordnung rufen. Sie würden sich einreden, das sei Unfug und sich schämen so dazustehen, auf das verschneite Feld starrend. Ihnen würde einfallen, wie viel sie noch zu tun hatten und am Ende würden sie weiterlaufen.
Ich öffne meine Wohnungstür und der Schreck packt mich, ich höre etwas. Jemanden. Er kommt auf mich zu.
Was machst du hier?“, frage ich ihn und er lächelt.
Du bist spät“, sagt er.
Aber, ich war doch gerade bei dir?“
Was meinst du?“
Bin ich nicht vorhin..?“ verwirrt sehe ich mich um. Dies ist meine Wohnung und mein Haustürschlüssel. Ich habe damit aufgeschlossen. Er war schon innen. Wie kommt er hier rein und warum ist er mir nicht böse, er müsste doch..
Ich hab uns was gekocht“, sagt er und geht in die Küche.
Ich will sagen, dass ich keinen Hunger habe, dass mir alles zu viel ist, dass ich nicht mehr weiß, was real und was Traum ist, dass ich müde bin und allein sein möchte. Ich will ihm sagen, dass ich Träume habe, die mir wahrscheinlicher vorkommen als mein Alltag und dass ich so sehr hoffe, er könnte verstehen, wovon ich spreche. Aber ich lasse mich nur auf einen Stuhl fallen und lege meine Jacke über die Lehne.
Es schneit“, sage ich.
Ja“, sagt er, „man kann es sich nicht aussuchen“.