Angelina Roth: Szenen einer Sucht

Ich gehe zum Bahnhof
und kaufe eine Zeitung am Kiosk,
als wäre nie etwas gewesen.
Ich fühle mich wie ein Junkie,
der jetzt clean ist
und an der Heroin-Abgabe vorbeifährt
schön frisiert, mit neuem Leben,
der Tochter über den Kopf streicht.

Durchsagen dröhnen durch den Lautsprecher
und vermitteln dieses unbeschreibliche Gefühl:
Einfach einsteigen und wegfahren.
Hinter dem Abteil liegt der Flughafen
und dahinter das Meer.
Check-in, check-out,
so schlug mein Puls,
Berlin, New York, Kapstadt.
Bis ich eines Tages aufwachte,
und nur noch schrie.
Ich wollte bleiben,
stornierte meine Reisen,
legte mich auf den Boden,
und wartete bis der Teufel meinen Körper verlassen hatte.

Seitdem ist der Bahnhof für mich kein Tor zum Glück mehr.
Er ist ein Gebäude wie jedes andere auch.
Ich hole mir ein Stück Kuchen
und schwelge in dem guten Gefühl, frei zu sein.

Ich brauche dich nicht mehr,
schreie ich leise gegen das Gemäuer,
spaziere zwischen den Shops hindurch
Hand in Hand mit meiner Sehnsucht
Heute sind wir Freunde – vorbei die Zeiten,
in denen wir uns zerstörerisch geliebt haben.
Unsere Finger ineinander verhakt,
gehen wir Richtung Gleise.

“Schau”, sage ich, “hier musste ich früher hin,
um mich lebendig zu fühlen.”
Heute sehe ich den anderen zu,
wie sie zu den Zügen hasten
und lächle über ihren Zwang.

Die Sehnsucht bleibt stehen
und schaut mir tief in die Augen
Sie zieht mich näher an sich heran.
“Du weißt doch, dass wir das lassen wollten”,
sage ich gestresst.

Sie hebt ihre Finger an meine Wange
und streicht sanft darüber.
“Aufhören”, fauche ich und versuche, sie wegzustoßen.
Sie kommt noch näher und ihre Lippen
berühren fast mein Gesicht.
Ich spüre ihren Atem und erinnere mich
an unsere verhängnisvollen Nächte.

Eine Sekunde und ihre Lippen berühren meine,
weich, fordernd, erobern sie sie mühelos.
Ich werfe alles über Bord und drücke mich gegen sie.
Die Sehnsucht umarmt mich noch heftiger
und flüstert mir atemlos ins Ohr:
“Lass uns abhauen von hier,
ein Wochenende, nur du und ich”,
und zieht mich zu den Gleisen.

Angelina Roth: Watching a Crime

Ich sinke in Gedanken.

Die Treppen zur U-Bahn hinunter.

Sehe Menschen.

Höre Schreie.

Weine leise.

Ich fliege in Gedanken.

Durch die Straßen von Kiew.

Sehe Soldaten und erkenne nicht,

zu welchem Heer sie gehören.

Unter mir mein Schatten.

Oder bin das ich?

Am Fenster steht ein Kind.

Oder ist es schon erwachsen?

Der Himmel dröhnt.

Was war, ist auf einmal wieder, was sein wird.

Nichts kann meinen Flug durch die Stadt stoppen.

Ich sauge den Schmerz auf,

gerate in Taumel,

und mein Körper stirbt im Bombenhagel der Vergangenheit.

Ich stehe auf und laufe zu Fuß weiter.

Es ist Krieg.

Heute und morgen gibt es nicht mehr.

Es gibt nur noch diesen Krieg.