Andii Weber: Stuttgarter Heimatspaziergang

Versuch einer Trivialvermatschung

HEUTE OPEN AIR KONZERT mit NIKITA BAMBULE um 16:30, dazu Rhababerkuchen. Nikita müht sich ab unten am Fuß des Berges. Er hat einen orangenen Amp der Marke Orange mitgebracht und singt irgendwas mit Liebe und Schmerz. Auf den Stufen vor ihm beginnen Menschen zu kuscheln, zu küssen und schließlich zu kopulieren. Ein erhebender Anblick, wenn man von oben draufguckt. Wie als versuche man, mit einem Buntstift der Farbe “Mitteleuropäer” einen Zeichentrickfilm mit der Faust zu malen. Eine Masse aus Fleisch und Körperflüssigkeit und das mitten in der Stadt.

Hinter dem Palais riecht es süsslich, ein bisschen nach Gras und ganz schön nach Verwesung. Da ist bestimmt ein Vogel verreckt, weil er zu viel gekifft hat. Aha, da geht es einen Berg hoch. In der Eisdiele nehmen sie jetzt nur noch Altgold als Zahlungsmittel. Aber das scheint zumindest zu schmecken. Fast hätt ich mir überlegt, diesen wunderschönen Tag mit einer Kugel Schlumpfeis zu feiern aber die Schlange vor der Eisdiele mit dem lustigen Pinguin als Maskottchen staut sich bis auf die Autobahnauffahrt.

Das Wetter ist schön und auf den Balkonen blühen die Tomatenpflanzen in diesen dekorativen Zinneimern. Ein junges Pärchen kommt vorbei. Sie tragen gemeinsam eine Autobatterie spazieren und sehen sehr sehr glücklich aus. Hachja, der Frühling.

Ich steige den Berg weiter hinauf und muss irgendwie an Gehröcke denken. Ich glaube, die Straße heißt Rockstraße. Ehrlicher, handgemachter Rock eben. Vielleicht ist vor hunderten Jahren Caspar David Friedrich (oder Peter Maffay) hier heraufgestiegen, um dem fiesen Feinstaub zu entfliehen und ins giftwölkige Thal zu blicken. Ein einziges Baustellenmoloch und Schuld ist nur diese Kessellage.

(beschwingt gesungen) Ja, die Kessellage. Kessellage, Kessellage die Kessellage sie ist gut! Ja, die Kessellage, Kessellage, Kessellage, sie fordert den Tribut.

Ein topologischer Albtraum, besonders mit dem Fahrrad. Der Gehweg führt vorbei an einer Villa, an der die Bewohner ein Schild angebracht haben. Was draufsteht? Mal schauen. Irgendwas mit Kunst. Und im Garten stehen so bunte Plexiglaskreisel, die jemand auf Stangen gestellt hat, um seine Geschmackssicherheit zu untergraben. Daneben ein Zahnarzt. Typisch. Ich greife mir einen dörrigen Zweig und stelle mir vor, es wäre ein Wanderstock voller bunter Plaketten mit kleinen, elegischen Dorfdarstellungen. Eine angenehme Fadigkeit überkommt mich wie ein seichter Zug. Wie ein kleines Kind lasse ich den Stock am Zaun rattern. Ein
alter Mann schreit mich aus einem Haus an und droht mir mit Schlägen. Sowas hätte es früher nicht gegeben; die Alten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ich schreie zurück dass ich ihm den Stock hier gleich quer in sein Fressbrett schiebe. Er nickt zufrieden und macht das Fenster zu. Da ist ein Brunnen, den irgendeine Fürstin zum Geburtstag bekommen hat. Das Wasser ist trinkbar und kalt. Auch hier sind Menschen, die kopulieren allerdings nicht (ganz so heftig).

Einkaufszettel Schinken (Bier) Bier! Zahnstoc​k​er. Mörderdinger. Gerstenmalz Ahornsyrup Mehl. Kartoffeln Apfelmus Hirnrindenfresser. Chips

Ich bau‘ ’ne Stadt für dich Aus Glas und Staub und Stein Und jede Straße die hinausführt Führt auch wieder rein Ich bau‘ eine Stadt für dich und für mich

Du bist das Pfaster, auf meiner Seele, deutsches Weib und deutscher Sang!

Heimat ist da, wo die Daumen rechts sind. Heimat ist im laufe der Zeit anders. Heimat ist da, wo ich das Wlanpasswort kann, sagte mein Opa immer. Heimat kommt selten allein: Votr und Mudr. Ein Kumpel von mir hat auf Facebook ein Bild von sich gepostet, wie ihm eine dicke Phillipinen die Hornhaut von den Füßen raspelt. Ich finde das befremdlich. Rüstige Rentnerin bietet klasse Kinderbetreuung. Rufen Sie mich an! Heimat ist, was man daraus macht.

An einem anderen Ort spaziert derweil eine Katze mit einem Nichtauge die Straße entlang, vorbei an einem glatzigen Mann, der eine Beule am Kopf trägt. Ein riesen Ding das, ich schwör! Die Beule sagt “Ahhhh” und ich sage “Bhhhhhh”. Sie schaut mich verdutzt an und kommt ins stottern. Jetzt erzählt sie vom Leben als Bowlingkugel. Was unpraktisch ist, da sie an einem Hinterkopf klebt. “Doppelkugel gültet nicht”, sagen die Vereinskollegen dann und hauen den Hinterkopf mit Sandförmchen. Die Beule schaut jetzt sehr traurig drein. Ich streichel ihr ein bisschen über die Haarstoppeln. Ein Träne rinnt dem Mann vom Hinterkopf. Er schreit seine Beule an, dass er jetzt endlich reingehen will in sein Haus und das tun sie dann auch. Die Beule sagt “Schüss” zu mir und ich trabe weiter.

Ein alter, grauer Mann mit Fahrrahd streitet sich mit einem jungen Bärtigen Menschen in einem weißen BMW darüber, ob es moralisch vertretbar ist, heutzutage mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Der Streit eskaliert. Es fliegen Bucheckern, Kastanien und Eicheln Richtung Auto. Der junge Mann steigt aus. Er ist spindeldürr und hat einen astrein gepflegten Bart. “So ein Bastard!” Und er rennt auf den Alten zu und holt mit der Faust aus.“Halt mich zurück! HALT MICH ZURÜCK!” Wie in einem perfekt einstudierten Frühlingstanz springt ein dicker junger Mann aus dem BMW und hält den Dünnen zurück. Die Welt hat eben doch Ihre Ordnung. Eine Frau mit Kind steckt enttäuscht ihre Smartphonekamera zurück in den Holster. Die Show ist beendet und der BMW fährt mit donnerndem Auspuff ab.

Ich lege mich ein bisschen auf den Gehsteig und lausche den Bienen, wie sie in den Ritzen des Kopfsteinbeulenpflasters ihre Pollen sammeln. Ach, was ist das Leben nicht schön? Plötzlich kitzelt mich etwas am linken Ohr. eine nasse Substanz rinnt mir in den Gehörgang. Ich lausche dem Blut in meinen Ohren. Es klingt nach Petersilie. Ich werde langsam müde, aber bin erfüllt von diesem wunderbaren Gefühl, heute nichts verpasst zu haben. Vielleicht ist jetzt auch mal gut und ich bleib einfach die nächsten Tage oder Wochen genau hier liegen, bis ich im Rinnstein verschwunden bin.

Andii Weber: Kuhsee, 140x190cm, 1989

Plätscher, Plätscher, Dümpel dümpel, zisch.
Tschirp schirp.
“mama ich will ein eis”
tröpfeltröpfel. Dümpel dümpel. Surrrrrrr.
Tschirptschirptschirptschirptschirp.
Rauschhhhhhhhhhhhhh
”Ach schätzchen wir haben noch eis in der gefriertruhe. warte, bis wir zuhause sind dann kriegst du schönes Marzipaneis von weihnachten noch”
Hühüüühühühü tröpfeltröpfel dümpelzischhhh.
Surrr. Dümpel dümpel. Rausch.
Brummm Tschirp. Huhuhuhuhu. klatsch.
Dümpel plätscher
“ach menno. flennflenn dümpelzisch. brumm huhu tschirp dümpelklatsch.

Andii Weber: Motten

Es fing alles mit den Motten an. Er brachte es einfach nicht übers Herz, die eine kleine Motte zu erschlagen, die da so nebenbei in seine Wohnung geflattert kam. Er blinzelte ihr sogar noch zu und nannte sie liebevoll Fred. Tatsächlich kam Fred aber nicht alleine: Er hatte seine Verlobte im Schlepptau. Die Wohnung gefiel den beiden sehr und da sie ohnehin auf der Suche nach einer neuen Bleibe waren, blieben sie.
Das Mehl begann zu leben, der Reis begann zu leben, ja sogar die leeren Amazon™ – Kartons neben dem Stapel von Anzeigeblättern, die Er jeden Sonntag gewissenhaft aus seinem Briefkasten fischte, auch sie begannen zu leben. Und so lebte das ganze Zimmer.
Seiner Meinung nach war nun aber doch etwas viel Leben in der Bude; Er wollte seine geliebte Ruhe zurück. Dazu gab es einen simplen Plan in seinem Kopf – Er musste Dustin gewähren lassen. Dustin, das war sein Erzfeind. So sehr Er auch Tiere liebte, Spinnen hasste Er. Doch nun musste Er es zulassen, dass Dustin sich vermehrte. Und so ward es.
Aus dem weißen, klebrigen Haufen, die Dustin in der Wohnung hinterließ, wurde eine große Horde kleiner Dustins. Sie bevölkerten die Gratiszeitungen, die Amazon™ Kartons, den reis und, ja, sie bevölkerten auch das Mehl. Er ekelte sich vor den Dustins doch bald schon würde zumindest die Mottenplage vorüber sein. Er räumte einige Stappel des durchweichten Zeitungspapieres (Nanu, woher kommt denn das ganze Wasser her?) zur Seite und legte sich schlafen.
Die Kinder von Fred wollten sich verpuppen und kletterten dazu die Wände hoch. Sie nahmen die beigen Gardinen ein und schenkten ihnen ein lebendes Muster. Doch die Dustincrew war schon zur stelle und war auf Konsum aus. Die Schlacht hatte begonnen.
Es war ein Gemetzel.
Es war ein Gemetzel.
YAY!
Irgendwie war die Situation außer Kontrolle geraten. Die Motten waren weg. Dustin und seine Homies waren noch da.
Er wollte sich am Hinterkopf kratzen, aber er konnte nicht.
Alles klebte.

Andii Weber

(Foto: Simeon Johnke)

Andii Weber wurde 1992 geboren im sträflich unterschätzten Fürth und ist gleich anschließend aufgewachsen im hemmungslos überschätzen Oberasbach. Hühner waren deren Kindergärtner:innen.

Irgendwann ging es dann auch mal zur Schule und weil das alle irgendwie machten, schloss Andii diese auch ab. Es folgte die Ambition, als nächstes die Welt zu verbessern und daraus resultierend ein FSJ in der Psychiatrie.

Dey machte kein Work-and-Traveljahr in Australien und/oder Neuseeland.

Danach schickte das Schicksal Andii auf die Designfakultät der Technischen Hochschule Nürnberg, wo es irgendwas mit Film und auch ein bisserl Texten zu studieren gab.

Nun, als gesetzte, erwachsene und vollkommen im Leben stehende Figur besteht deren Tagwerk daraus, bunte, bewegte Bilder fürs Kino noch bunter und bewegter zu machen, und sich damit das ein oder andere Brot zu verdienen.

Nebenher macht Andii noch Schrabbel- und Bummbummmusik, Radio, bestückt Theaterstücke mit Geräuschen und legte zusammen mit dem Kollegen Christian Hilgert 2016 das Regiedebüt „Südstadtgeflüster“ vor.


Als Autor:in

Als Sprecher:in