Mord und Gesetzlosigkeit, Schatten und Verlorenheit. Fern vom Licht, zwischen Nebel, Dunst und Finsternis, ragt der Höllenschlund der Großstadt. Dort im Regen treffen sie sich, die Figuren aus dem Film noir, finden sich wieder in diesen dunkelsten Ecken der menschlichen Existenz, wo sie schließlich doch nichts anderes erwartet als Verderben.
Film noir, der „schwarze Film“, was ist das für ein Genre, das – wenn man es überhaupt so nennen kann – die Filmgeschichte seit Jahrzehnten durchzieht und einige der bemerkenswertesten Werke der internationalen Filmkultur hervorgebracht hat?
Mit dem Ausdruck Film noir wird im Wesentlichen ein stilistisches Phänomen des amerikanischen Films der 40er und 50er Jahre benannt. Eingeführt wurde der Begriff 1946 durch die französische Rezeption der düsteren amerikanischen Kriminalfilme aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Großteil der klassischen Film noirs – angefangen mit John Hustons Die Spur des Falken von 1941 – sind Thriller, Detektiv- oder Gangsterfilme, wobei genreübergreifende Definitionen auch Western, Horrorfilme und Melodramen einschließen. In diesem Fall lässt sich der Film noir weniger als zeitlich begrenzte Bewegung begreifen, sondern eher als Sammelbezeichnung für alle Filme, die sich der Gestaltungsmittel und Motive des Film noirs bedienen, wodurch sich das Phänomen von den 30er Jahren bis in die Gegenwart ausdehnt.
Die frühen Werke des Film noirs stammen aus einer Zeit der politischen Instabilität. Die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs und die latente Bedrohung des Kalten Krieges erzeugen eine bedrückende Atmosphäre der Trauer, Wut und des Zynismus. Viele Figuren des traditionellen Film noirs wie etwa Murder, My Sweet oder Double Indemnity (beide 1944) verkörpern die kollektive Identitätskrise einer Gesellschaft, die bis in ihre Grundfesten erschüttert ist: Da ist der desillusionierte Ermittler, dessen eigenwillige Methoden sich oft selbst am Rande der Kriminalität bewegen. Oder die mysteriöse Femme fatale, die ihm als schicksalhafte Bedrohung zur Seite gestellt wird.
Ganz egal, ob man den Film noir als Genre, Bewegung oder Stilrichtung betrachtet, der Katalog seiner ästhetischen und narrativen Merkmale bleibt stets der gleiche. Nebelverhangene Städte, dunkle Spelunken und regennasse Straßen gepaart mit einem über allem schwebenden, beklemmenden Pessimismus prägen die Bildwelten des Film noirs. Wortkarge, verbitterte Charaktere winden sich durch labyrinthische Erzählmuster mit zahlreichen Rückblenden. Unterstützt wird die komplexe zeitliche Ordnung durch das Voice-over des Protagonisten, dessen Blick auf die Welt häufig durch eine subjektive Kamera vermittelt wird. Starke Hell- Dunkel-Kontraste und auffällige Schattenspiele komplettieren den visuellen Stil der Film noirs. Die Handlungen kreisen um Gewalt, Korruption und Verrat, wobei weniger die Aufklärung der jeweiligen Verbrechen, sondern vielmehr die einzelnen Figuren im Mittelpunkt stehen. Es sind ihre moralischen Zwickmühlen, ihre existenziellen Krisen und kaputten Beziehungen, die die eigentlichen Themen des Film noirs begründen. Seine düsteren Geschichten brachen mit den Erzählkonventionen des klassischen Hollywoodkinos und entwickelten sich über die Jahrzehnte hinweg zu einem Kulturphänomen, das neben seiner ganz speziellen Ästhetik vor allem eine Weltanschauung markiert. Der Nihilismus und Zynismus des Film noirs bilden die Quintessenz einer Bewegung, die den Filmmarkt bis heute durchdringt. Nach Prototypen wie Laura, Dark Passage oder Der dritte Mann signalisiert Orson Wells Im Zeichen des Bösen von 1958 daher längst nicht das Ende des Film noirs. Seine gebrochenen Charaktere und Verfahrensweisen leben weiter in Filmen wie Taxi Driver, Blue Velvet und Sieben, sie begegnen uns erneut in Blade Runner, Sin City oder The Dark Knight.
„Film noir – das impliziert unabwendbar Stil und Stimmung, aber zuallererst eine besondere Sichtweise auf die Welt, eine pessimistische, zynische oder nihilistische Sichtweise,“ schreibt Norbert Grob in seinem Standartwerk Filmgenres – Film noir aus dem Reclam Verlag von 2008. Die Weltsicht, von der er spricht, ist kein Genre, sondern ein Ausdruck. Ein Ausdruck, der über die Leinwand hinaus nachwirkt und den Film noir zu einer Erfahrung macht, die so vielschichtig und rätselhaft ist wie er selbst.
Literaturquellen zum Noir-Text:
- Grob, Norbert (Hrsg.): Film Genres – Film Noir. Reclam Verlag 2008.
- Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Reclam Verlag 2011.