Mein Freund Tobi verbringt die Sommerfrische am liebsten in Südengland. Er packt seine Reisetasche, bucht sich ein Zugticket nach London und fährt von dort aus weiter Richtung Cornwall. Am häufigsten zieht es Tobi auf die Halbinsel Lizard, wo man kilometerlang an den Steilküsten entlanglaufen kann und wo die rauen Felswände schimmern wie die Schuppen einer Eidechse. Schon Virginia Woolf hat gerne Urlaub in Cornwall gemacht und wenn sie keine überzeugende Referenz ist, dann ist es Tobi.
Man kann Tobi als einen Mann in den besten Jahren bezeichnen. Er schätzt rohköstliche Ofengerichte, trägt vorzugsweise Bootcut-Jeans und seine größte Schwäche sind Hunde. Für die würde er vermutlich alles andere stehen lassen. Während meiner eigenen Reisen sende ich Tobi hauptsächlich Fotos von Hundebegegnungen, denn damit bin ich garantiert auf der sicheren Seite. Wenn ich ihm Bilder von örtlichen Sehenswürdigkeiten schicke, stellt er mir daraufhin oft Fragen, die ich nicht beantworten kann und dann schäme ich mich, weil ich mich nicht eingehend informiert und stattdessen meinen halbseidenen Gedanken nachgehangen habe.
Manchmal setzen Tobi und ich uns zusammen im Kontumazgarten an die Pegnitz. Wir trinken mitgebrachten Rotwein, essen Snacktomaten und reden über das Leben. Für gewöhnlich geht es bei diesen Gesprächen vor allem um mein Leben, in dem mal wieder irgendetwas im Argen liegt. Tobi besitzt eine hervorragende Beobachtungsgabe und man kann ihm nichts vormachen. Meistens erkennt er bereits auf den ersten Blick, wie es gerade um mich bestellt ist und was man in dieser oder jener Situation tun kann. Falls Tobi nicht sofort einen Ratschlag für mich parat hat, hört er einfach zu. Auch das kann er ausgesprochen gut. Er guckt unterdessen verträumt aufs Wasser, nippt vorsichtig an seinem Weinglas und macht einen ungemein besonnenen Eindruck. Überhaupt ist Tobi ein sehr feingeistiger Mensch und in den Unterhaltungen mit ihm kann man einiges lernen. Mit seiner Kunstexpertise schlägt er mein halb verflossenes Studienwissen um Längen, seine Kenntnisse der Architektur sind bemerkenswert und das britische Königshaus ist sein persönliches Spezialgebiet. Außerdem mag er Filme. Nur keine von und mit Lars Eidinger. Den hasst er abgrundtief, aber das halte ich für absolut berechtigt.
Wenn Tobi Ferien in Cornwall macht, zieht er jeden Morgen seine bequemen Sandalen an und erkundet die Gegend. In meiner Vorstellung trägt er auf seinen Entdeckungstouren ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, rückt ab und zu seine Sonnenbrille zurecht und sieht so richtig nach Urlaub aus. Er besucht Museen und Galerien, bewundert Kirchen und Kapellen und nicht selten verliert er sein Herz an ein Gebäude, das die meisten Menschen schlichtweg übersehen würden. Gelegentlich verläuft er sich in den Irrgärten der englischen Renaissance, doch weil Tobi stets nach rechts und links schaut, findet er schnell einen Weg hinaus. Anschließend wandert er auf dem Küstenpfad an sattgrünen Hügeln und verschlafenen Schafen vorbei bis zu seiner Lieblingsbucht. Sie liegt abgeschieden zwischen zwei malerischen Fischerdörfern und an glücklichen Tagen ist Tobi der einzige Besucher. Kaum am Strand angekommen, zieht er die Sandalen aus, stellt er seine Füße ins Meer und lässt sich den salzigen Wind um die Nase wehen. Und während er andächtig über den stürmischen Ozean blickt und die turmhohen Wolken am Himmel mustert, vergisst Tobi die bedrückende Hitze der Stadt und die Verantwortung auf seinen schweren Schultern und atmet ganz tief und lange ein.
Ich glaube, dass die Sommerfrische in Cornwall sehr heilsam sein kann. Und vielleicht sollte ich mich baldmöglichst um ein Zugticket kümmern und nach Südengland reisen. Vielleicht brauche ich ein bisschen saubere Luft in der Brust, um die es mir momentan viel zu oft eng wird. Eine kühle Brise, die durch die halbseidenen Gedanken rauscht und mächtig Staub aufwirbelt. Eine freie Sicht auf schimmernde Felsen und meterhoch schlagende Wellen, die sogar einen Frachtcontainer voller Erinnerungen im Handumdrehen fortspülen könnten. Nächstes Wochenende treffe ich Tobi wieder und dann werde ich ihn fragen, wo er seine Sandalen gekauft hat.