Jörg Hilse: ABBAstan

Anfangs fühlte sich Jonas Neum etwas unwohl, wenn er daran dachte den Urlaub in einer Stadt zu verbringen, in der es nicht üblich war mit Bargeld zu bezahlen.
Aber als in der Küche immer öfter ABBA statt wie sonst meistens Helene Fischer zu hören war, wenn seine Frau abwusch, sagte er „Na gut, fahren wir“ und Sie buchte im Internet eine Woche Stockholm. Jonas Neum war beruhigt die Sache seiner Frau überlassen zu können und nur seinen Teil der Kosten zu übernehmen. Er fand das Ganze zu kompliziert weil man seinem Gefühl nach, hunderte von Passwörtern dafür zu brauchen schien. So überließ er solche Dinge stets ihr wenn es ging, floh geradezu innerlich davor, fast wie einst der biblische Jona vor den Weisungen Gottes. Um so mehr wusste er, wie sehr er ihr diesen Urlaub schuldig war, denn Sie wollte unbedingt einmal ins ABBA Museum. Und wenn man gerne Bücher liest, so wie er es tat, lernt man viel über die Kraft von Träumen und Wünschen.
Zwei Tage bevor es los ging fand er beim Durchblättern eines Reiseführers etwas das seine Aufmerksamkeit erregte. Das wollte er sich ansehen. Am frühen Dienstagmorgen flogen Sie los und einen Vormittag später öffneten sich für beide die Pforten des ABBA Museums. Für seine Frau war es überwältigend. Sie sahen die Kostüme die die Vier bei ihren Auftritten getragen hatten und hörten von den Videoleinwänden die Entstehungsgeschichte der Band. Am Beeindruckendsten fand sie den Nachbau des ehemaligen Tonstudios mit seinem riesigen Mischpult. Eine Sache erinnerte beide an ihre Urlaube in England. Kein Museum ohne großen Souvenirshop.
„ Mekka nährt sich von den Pilgern und die Pilger nähren sich von Mekka“ meinte Jonas als seine Frau ein ABBA T Shirt mit zur Kasse nahm. Kurz darauf ergab sich allerdings eine ungeahnte Möglichkeit wieder Geld zu sparen. Zurück in der Altstadt, die Gamla Stan genannt wird, entdeckte Sie einen großen IKEA und sagte „ Irgendwie hab ich jetzt Lust auf Köttbullar.“ Deine Idee klingt ein bisschen nach dem Film „ Memphis Belle“ erwiderte Jonas. „ Wie meinst Du das“ fragte Sie. „ Weißt Du noch, die eine Szene : „ Wenn ich nochmal von Deiner Idee höre, das Du nach dem Krieg eine Schnellimbiss-Kette aufmachen willst, hau ich dir eine rein. Niemand will in einer anderen Stadt das Gleiche essen.“ Antwort: „Oh doch, es ist so beruhigend“ Sie lachten und gingen dann hinein. Beim anschließenden Bummel durch die Strassen fragte Jonas: „ Können wir vielleicht zu diesem Denkmal gehen, das ich im Reiseführer gefunden habe?“
Es war gar nicht weit zu dem kleinen Platz mit der Adresse Mosebacketorg 1-3.
Die mannshohe Skulptur zeigte zwei Frauen, Rücken an Rücken stehend, eine von Beiden hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Andere schien etwas zu tragen.
Ein kleines Schild, unten auf dem kurzen Sockel verriet den Namen der Skulptur und des Künstlers der es geschaffen hatte. Systrarna- die Geschwister, Nils Sjögren 1945.
Jonas setzte sich auf eine Bank in der Nähe und las noch einmal den Wikipedia Artikel darüber was den Künstler inspiriert hatte diese Skulptur zu schaffen.
Es erinnerte an ein tragisches Ereignis das sich 1911 in Stockholm ereignet hatte. Zusammengeschnürt, Rücken an Rücken ertränken sich zwei junge Frauen gemeinsam im Hammarby See. Die Zeitung „ Dagens Nyheter“ schrieb das die Beiden „ eine herzliche Freundschaft in Zusammenhang mit etwas Überdrehtem“ gehabt hätten. „ Sie hatten ihre Körper an den Hüften zusammengebunden und ihre Säcke mit Steinen gefüllt, um sie mit ihrem Gewicht in die Tiefe zu ziehen- daraus ging hervor dass die beiden jungen Mädchen gemeinsam den Tod gesucht und gefunden hatten.“ Der Wikipedia Artikel erwähnte noch, dass die Skulptur heute als Symbol der Erinnerung an die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transgender Menschen in der Queeren Bewegung gilt.
Still saß Jonas auf der Bank in der Sonne und dachte in diesem Moment an viele seiner Kollegen.
An Jens, den Zugbegleiter aus Köln mit dem er seine letzte Schicht vor dem Urlaub nach Brüssel gefahren war. Wie selbstverständlich, begrüßte ihn ein anderer Kollege mit den Worten „ Hallo Jens, wie geht’s Deinem Mann?“ An die Autorin Sabine Brandl aus München, die einmal auf einer Buchmesse gebeten wurde, ihre Bücher vom Tisch ihres Verlages zu entfernen, nur weil Sie lesbische Liebesgeschichten schrieb, an denen nichts auch nur entfernt Anstößiges war. Jonas mochte ihre Erzählungen. Sie handelten von der Suche nach Freundschaft und Liebe , den Schwierigkeiten und den Enttäuschungen die jeder in Sachen Partnerschaft erlebt. Dann kam ihm ein anderes Denkmal in den Sinn, das er einmal zu Hause in Frankfurt gesehen hatte. Es erinnerte an das grausame Schicksal jener KZ Häftlinge die mit einem rosa Winkel an der Kleidung gekennzeichnet wurden, nur weil ihr „ Verbrechen“ darin bestand Männer statt Frauen zu lieben. Nicht wenige von den Juristen die sie damals in die Lager schickten durften nach 1945 weiterhin solcherlei „Recht“ sprechen, der berüchtigte Paragraf 175 wurde erst 1994 endgültig abgeschafft.
Kurz bevor er sich wieder erhob fiel Jonas noch ein Gespräch ein. Einmal, am Kölner Hauptbahnhof hatte er Pause und zwei Kollegen beratschlagten dort ihre Teilnahme am Christopher Street Day.
Sich schrill und laut zu gebärden, so wie dort war eigentlich nie Jonas Sache gewesen, er war nie in der Lage sich in einen derartigen Zustand der Euphorie zu versetzen. Er liebte eben die Stille und seine Bücher.
Doch hier in Stockholms Strassen, vor dieser Skulptur Nils Sjögrens, verstand er warum man dort buchstäblich mit Pauken und Trompeten für die sexuelle Gleichbehandlung demonstrierten musste.
Weil niemals und nie mehr ein Mensch ausgegrenzt, verurteilt oder gar in den Tod getrieben werden durfte, nur weil er anders fühlte und liebte, als der Andere.

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