Die Sonne steigt langsam über die sanfte Hügelkette, zerfurcht das nebelverhangene Tal und dringt zaghaften in bis in die tiefen Züge des Tales ein. Ich kenne dieses Schauspiel, habe ihm schon unzählige Male schweigend beigewohnt und es sorgsam beobachtet, habe im Laufe der Jahrzehnte jedes noch so kleine Detail perfektioniert und auch die winzigsten Makel beseitigt.
Die Hügelkette, die sich an den Horizont schmiegt wie ein frisch verliebtes Mädchen.
Die Tektonik der Täler.
Der dichte Wuchs der Gebirgsausläufer.
Der leichte Wolkenflaum, der ohne Wiederstand den Weg des Morgenlichtes freigibt.
Die Farbschattierungen der Graslandschaft.
Das Plätschern der verworrenen Bäche.
Meine Idee, ein Sonnenaufgang direkt aus meinem Geis, erschaffen nur für mich.
Pure Perfektion.
Ihn mit anderen zu teilen, möglich, natürlich. Nur ein Gedanke entfernt.
Von Horizont zu Horizont reicht mein Blick und darüber hinaus, ins Unendliche, wenn ich denn möchte. Und ich möchte, wir alle möchten.
Ich kann mit einem Satz im tiefen Regenwald stehen, ohne eine Schritt zu machen.
Auf dem Meeresgrund wandern, ohne die Luft anzuhalten.
Auf einem Atom reiten.
Durch das Weltall fliegen.
Mit Goethe im Teehaus sitzen.
Durch meinen eigenen Körper spazieren.
Japanisch lernen.
In den Krieg ziehen.
Jedes Bild in meinem Neuronensystem, jede Möglichkeit dieses Universums, ich muss sie nur denken und bin. Ich denke, also bin ich.
Ich schwebe. Ich schwebe, ich treibe, ich tauche. Hier, im Jetzt. Mein Körper, er schwebt, er treibt. Naphtolyt. Ich schwebe in Naphtolyt, schon mein ganzes Leben lang. Ich wurde darin gezogen und ich werde darin entsorgt, wenn die Funktionswerte sinken. Ein Prozess von tausenden von Jahren. Naphtolyt, es nährt mich, mich und alle Menschen, alle Menschen dieser Erde. Mein Platz C19 Delta 420, mein Platz von Anfang bis Ende. Mutter passt auf uns auf. Mutter zieht uns. Mutter nährt uns. Mutter kontrolliert die Neoronaltranszenz, verband uns nach dem Ziehen damit und lässt uns nicht mehr los. Mutter verband mich mit dem System in meiner Stunde Alpha, Mutter löst es am Tag Omega. Das System ist meine Augen, meine Ohren, meine Beine. Das System lässt mich wandeln, unendlich weit.
Das System, die größte Erfindung unserer Spezies, die größte und die letzte. Es aufzubauen erschien wahnsinnig, den Widerständen zu trotzen schier unmöglich. Doch die Erkenntnis war zu klar, zu zwingend: In dem Moment, in der wir das Universum verstanden und alle erreichbaren Winkel bereist hatten, gab es einfach keinen Grund mehr, noch weiterzugehen.
Warum den Körper belasten, wenn der Geist doch alles erreichen konnte?
Warum auf Füßen stehen, wenn es dafür keinen Grund mehr gibt?
Warum Hände haben, wenn es keine Arbeiten mehr notwendig sind?
Warum Augen haben, wenn die Bilder sie nicht benötigen?
Warum fortpflanzen wie die Tiere, wenn Mutter eine fehlerlose Reproduktion ermöglicht?
Das System und Mutter, wir legten unsere Spezies in ihre perfekten, schützenden Arme. Wir machten den nächsten Schritt in unserer Entwicklung. Wir stiegen von Affen zu Göttern auf.
Die Sonne legt sich über das Tal. Sie steigt nicht gleichmäßig, sondern gehorcht der Fibonacci-Folge, meine Symphonie des Lichts. Meine Blicke folgen ihrem Weg, erkennen jeden Grashalm, kennen die Wahrheit in den kleinsten Dingen.
Pure Perfektion.