Eine Mauer umgab ihr Wesen. Für Außenstehende wirkte sie zuweilen, als würde sie sich bewusst gegen die Außenwelt abschotten, um mit sich selbst allein zu sein. Niemand ahnte, dass sich diese Mauern, die früher zum Schutz vor ihrem gewalttätigen Vater aufgebaut worden waren, inzwischen so sehr um ihr Wesen verfestigt hatten, dass sie keinen Menschen mehr an sich heran ließ. Keinen einzigen.
Vor allem nicht die Menschen, denen sie auf der Arbeit begegnete. Sie lieferte tadellose Arbeit ab, machte so gut wie nie einen Fehler, und selbst, wenn ihr einmal einer unterlief, konnte man ihr kaum böse sein, da sie so willfährig diesen anerkannte, um bloß keinen weiteren Ärger und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie duckte sich generell weg, wenn es darum ging, in irgendeiner Form aufzufallen und fehlte nicht selten auf Betriebsfesten oder verließ diese zu früher Stunde. Und das immer, ohne groß mit ihren Kollegen anzubändeln – denn das war nicht ihr Wesen. Jenes Wesen, das von Mauern umgeben blieb.
Aber alles ändert sich einmal, und auch dieser Zustand auf der Arbeit sollte sich alsbald ändern, als der alte Abteilungsleiter queraufsteigen konnte und ein neuer auf der gleichen Position eingestellt wurde. Da dieser neue ebenfalls quer aufgestiegen war und niemanden in der Abteilung vorher kannte, gab es einen vollständigen Neustart für alle Angestellten. Für restlos alle.
Während der alte Abteilungsleiter vor allem auf die Leistung achtete und es ihm mehr oder minder gleich war, ob sich einer in dem Team integrierte oder eher am Rande stand, machte der Neue gleich von Anfang seine Marschrichtung klar, indem er auf dem ersten gemeinsamen Abteilungsmeeting deutlich machte, dass er sich ein Team wünschte, in dem alle auf einer Stufe stünden. Sie alle hätten zusammenzuarbeiten, zusammengeschweißt, gemeinsam, als Team, im Verbund, als Gemeinschaft, jeder für jeden, alle für einen, alle zusammen.
Diese Vorstellung war eine Schreckensbotschaft für jenes eingemauerte Wesen, denn sie befürchtete, dass sie nun mehr aus sich herausgehen müsse, um mit der Geschwindigkeit der Teambildungsmaßnahmen Schritt halten zu können. Denn Schritt halten mit den anderen war gerade das, was ihre Mauern nicht nur erschwerten, nein, sie verhinderten jedes Bewegen außerhalb des eigenen Wesens.
So kam es, wie es kommen musste, denn schon bald fokussierte sich der neue Abteilungsleiter auf die drei Mitarbeiter, die er am Rand des Teams ausgemacht hatte, und während die anderen beiden aktiv daran arbeiteten, mit in die Mitte der Gemeinschaft zu rücken, verstärkte das ummauerte Wesen mit jedem Versuch seinerseits nur die eigenen Mauern. Hinzu kam, dass der neue Abteilungsleiter eine Art an sich hatte, die sie an die wenigen netten Momente mit ihrem Vater erinnerte. Jene netten Momente, aus denen nicht selten ein kleines Pflänzchen an Vertrauen erwachsen war, das mit dem nächsten Gewaltausbruch auch wieder zertrampelt wurde.
Mit jedem Einzelgespräch, die alle äußerst unangenehm waren, und mit jedem Gruppengespräch, die sich wie eine gefühlte Hölle für das ummauerte Wesen anfühlten, wuchs die Unsicherheit, und es schlichen sich aufgrund der permanenten Anspannung Fehler um Fehler in ihre Arbeit ein, sodass aus den teamintegrierenden Gesprächen mehr und mehr jobgefährdende wurden.
Das ummauerte Wesen besaß einfach nicht die Kraft, gegen ihre eigenen und die Widerstände außerhalb der Mauern anzukämpfen, und da sie niemanden auf ihre Seite ließ, musste sie irgendwann dem Druck nachgeben und schied ohne großes Auffallen von der Arbeitsstelle aus. Zu Hause, ohne Arbeit und ohne Netzwerk, das ihr in dieser Not helfen könnte, mauerte sie sich noch weiter ein, baute eine Trennmauer vor die andere, solange, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. Keinen Fußbreit mehr.
Mit den Jahren hatten die vielen Mauern ihr Wesen verhärtet; sie lebte von der geringen Hilfe, die ihr eine unpersönliche Behörde gab, und war einfach. Mehr nicht. Sie war. Musste sein. Denn mehr ließen ihre Mauern nicht zu, so eingeschlossen hatte sich ihr ummauertes Wesen.