Susanne Stiegeler: Das, was Könige nicht sehen

Manchmal weckte uns Mama ganz früh am Morgen und sagte: „Kommt Kinder, aufstehen! Zieht Euch an! Heute werdet Ihr etwas sehen, was sogar die Könige nie sehen!“

Dann ging sie mit uns in die Natur: Auf ein Feld, um den Sonnenaufgang zu beobachten, oder in den Wald, um zu sehen, wie die Natur und alle Tiere des Waldes nach und nach erwachten. Es war immer wunderschön, friedlich und irgendwie zauberhaft. Sie erzählte uns, dass wir das schon gemacht hätten, gemeinsam, als Papa noch lebte; und dass unser Opa Joao in Portugal mit dieser Tradition begonnen habe.

Könige bekämen diese wunderbaren Schönheiten nie zu sehen, weil sie immer viel zu lange schliefen…

Susanne Stiegeler: Gewitter

Mama hatte große Angst vor Gewitter. Angeblich hatt sie in ihrer Jugend zwei Menschen gekannt, die von einem Kugelblitz getroffen starben und zumindest durch Verbrennungen entstellt worden waren. Und so war sie ständig auf der Hut: War der Himmel nur auf trügerische Weise blau? Verhießen die Wolken am Horizont nicht ein nahendes Gewitter?

Man durfte keinesfalls und unter absolut überhaupt gar keinen Umständen außerhalb seiner Wohnung sein, sollte ein Gewitter losbrechen. Und selbst dann war man keinesfalls in Sicherheit: Die mussten die Fenster unbedingt geschlossen bleiben, die Stecker aus den Steckdosen gezogen. Es kam häufig vor, dass sie bei schönstem Sonnenschein in Befürchtung eines Gewitters aus ihrem Garten nach Hause floh. Oder sie rief mich an, um mich vor der Bedrohung zu warnen: „Susaninha! I habe gesehen, bei Euch gibt es gleich ein Gewitter! Bleibt zuhause! Geht nicht raus!“

Sogar der Hund fürchtete sich vor Gewitter: „Das Mädschen hat Angst, Angst, Angst! Sie zittert und versteckt sich unter dem Bett!“

Anne D. Plau: Erinnerung im Regen

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte. Zur Verteidigung hieß es.
„Wie immer,“ murmelte ich und wandte mich ab. Mich betraf das nicht, für die Großen war ich unsichtbar. Ich rollte die Kniestrümpfe runter und zog ein Bonbon aus der Hosentasche.

„Das jetzt mit den Bauern. Reine Vorkehrung. Letztes Mal ist er völlig verdroschen worden“, flüsterte jemand. „Komm“, erwiderte sein Nachbar, „suchen wir bessere Plätze. Aber nicht zu nah dran!“

Die zwei Männer schoben mich zur Seite. „Pass doch auf, Bub!“

Ich unterdrückte mit geballten Fäusten eine Erwiderung. Oberstes Gebot: Wer angreift, muss immer mit einer Verteidigung rechnen. So wie bei den Bauern, zu denen nun andere eilten. Selbst ihre Pferde führten sie herbei, sie wieherten und schnaubten.
Ein Raunen erfüllte den kleinen Saal, dann hielten alle den Atem an. Eine Dame lief eilig einige Schritte und blieb in der Mitte stehen.

„Schmeißt sie raus!“, rief einer laut. Einige klatschten.

So gemein, dachte ich. Und auch heute, so viele Jahre nach dieser Begebenheit, fühle ich Wut. Wäre ein Faustkampf im Stall für sie nicht angebrachter? Wo das das Brüllen vom Stroh gedämpft wurde?

„Macht sie fertig!“, schrie jemand.

Doch die Dame wich nicht zurück, sie lief mit erhobenem Haupt weiter. Um ihren weißen Hals lagen sehr feingliedrige Finger. Ich drängelte mich ganz nach vorn.

Diese Hände. Sie waren anders als die der hiesigen Bauern. Sie waren kleiner, sogar noch viel kleiner als meine. Sie strichen langsam über die Krone der Dame, bevor sie sie anhoben und die Figur schräg vor dem schwarzen Turm abstellte.

Der Turm wurde angehoben. Er setzte sich in Bewegung und glitt auf das Feld a4.

Es schien, als habe sich Schwarz damit eine bessere Position geschaffen. Ich schob mich an allen vorbei, ganz nach vorn.
Der weiße Läufer eilte schnurstracks auf die linke Spielseite. Warum denn das? Ich schaute vom Schachbrett auf und erblickte nun gänzlich die Person, die mit den weißen Figuren spielte. Ein Mädchen. Auf dem Schoß ihres Vaters, sie biss sich auf die Lippe, kniff die Augen fest zusammen und setzte den Läufer.
Dann schaute sie im Raum umher, auf Augenhöhe blickten wir uns an. Sie blinzelte. Schau, ich werde gewinnen.
Die schwarzen Türme kämpften, die schwarzen Läufer flitzen über das Brett. Jedes Aufbäumen ließ das kleine Mädchen ins Leere laufen, sie übersprang mit ihrem weißen Pferd die Barriere, bedrängte die Türme, ließ ihre Dame erneut eilen, direkt bis vor den schwarzen König, der nun „Schach matt“ sagte. Wohin hätte er auch gehen sollen?

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte.

Noch immer denke ich an das schachspielende Mädchen und lange stellte ich mir vor, aus ihr wäre eine Meisterin geworden. Alle hätten geklatscht bei ihren Siegen. Damals, in dem Saal der Wirtschaft, hatten die Bauern jedoch nach dem Spiel lediglich murrend einzelne Münzen in die Mütze ihres Vaters geworfen.
Dieser hob das Mädchen vorsichtig auf seinen Arm. Zusammen traten sie aus der Tür hinaus auf den Dorfanger. Das Mädchen sah mich die ganze Zeit ernst an. Siehst Du? So ist es. Lange starrte ich ihnen hinterher.

Aus dem Fenster meines Arbeitszimmers beobachte ich den Regen, der langsam die Scheiben entlang fließt. Ich bedauere noch immer, sie nicht nach ihren Namen gefragt zu haben. Die weiße Dame jedoch hatte ich gerettet und sie verstohlen in meine Hosentasche gleiten lassen.
Sie steht bis heute auf meinem Schreibtisch.

Miriam Gil: Regenbogencocktails oder: Der Durst nach Salzwasser

Lange Zeit wusste er nie genau wann er geboren worden war. Seine Papiere hatte er bekommen als er beinahe schon erwachsen gewesen war und in Gambia wurde man früher erwachsen als in den europäischen Ländern.

Wenn er sein Passbild auf dem Ausweis im Tageslicht schwenkte, dann schillerte das Hologramm in den schönsten Farben des Regenbogens.

Mamudu war 23 Jahre alt und war alleine auf das Boot gestiegen, seine Mutter hatte ihm noch viel Glück gewünscht und hatte beinahe geweint aber nur beinahe.

„Nicht!“

Er spürte eine Hand auf seinem linken Oberschenkel, hörte aber nicht auf seine Blase über den Schlauchbootrand hinweg direkt in das offene Meer hinein zu entleeren.

Sanfte Wellen mit vom Urin gelblich gefärbten Kronen aus Meeresschaum schwappten auf die am Boden kauernde jungen Männer in verblichenen Baumwoll T-Shirts in den vielfältigsten Farben und zerschlissenen Shorts.

Mamudus Sandalen hatten eine rutschige Sohle, der abgetretene Gummi rutschte nun nervös auf dem nassen Holzbrett neben dem Treibstoffkanister auf und ab, trommelte an die mit Rissen versehene Bootswand.

„Nicht!“

äffte er den Kerl nach, der noch immer seine Hand in Mamudus Richtung erhob. „Was willst du von mir?“ dachte er und blickte auf die Salzflecken auf seinen Shorts. Weiße Ringe die langsam in der gellenden Sonne zu Pulver vertrocknen. Ein ungenießbares Kokain aus den Tiefen der Meere.

Er hatte vier jüngere Geschwister davon eine Schwester. Es gab ungefähr dreihundert Meter von der Flüchtlingseinrichtung einen Spätkauf für Tabakwaren und Kaltgetränke. Spätkauf bedeutet auch Öffnungszeiten bis in den Abend hinein. Vor dem Eingang standen zwei Bänke und ein kaputter Sessel. Die LED-Lichterkette wechselte blinkend die Farben des Regenbogens und das Radio im Hintergrund verströmte poppige Rocksongs, Verkehrsmeldungen und Hits der jeweiligen Festivalsaison. Jedoch war die Musik immer leise, Nachbarn hatten sich zwei Mal beim Ordnungsamt beschwert. Die Anwohner hatten sich auch schon beschwert als entschieden worden war dass die alte Bürosiedlung hinter dem Schwimmbad zu einer Unterkunft für Personen mit Fluchthintergrund aus allen Herren Länder werden sollte. Das wussten die Neuankömmlinge meistens nicht da sie die Schrift auf den Schildern der Demonstranten nicht entziffern konnten. Außerdem hatte der Demonstrationszug seinen Auftritt in Regionalzeitung und Lokalradio bevor die ersten Familien vom Düsseldorfer Hauptbahnhof im Camp nach einem zusätzlichen besonders für die Kinder beschwerlichen Fußmarsch von der Bushaltestelle angekommen waren. Angekommen. Willkommen. Jedenfalls von der Bürgerinitiative für mehr Vielfalt in der das Ehepaar Kraus sogar einen Deutsch Konversationskurs mit Kinderbetreuung anbietet. Im kleinen Saal des Braukellers an jedem dritten Donnerstag im Monat. Die Kleinstadt hatte ihre eigene kleine Bierproduktion. Bei den Veranstaltungen mit den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern gab es nur Apfelsaftschorle und Kräutertee. Mamudu hatte allerdings den Deutschlehrer bereits in der örtlichen Kneipe  Bier trinken gesehen. Seine Frau hatte eine Karaffe mit rotem Wein vor sich stehen gehabt. In Düsseldorf hatte er auch Jugendliche mit alkoholischen Getränken am Bahnhof gesehen. Mamudu selbst hatte das erste Mal getrunken als er längst erwachsen gewesen war nämlich mit 19 Jahren auf einer großen Feier seines Onkels. Es gab ein paar Flaschen Bier und Whisky mit Eiswürfeln und Coca Cola. Der Whisky brannte die Kehlen der jungen Männer um ihn herab wie die tiefroten Chilischoten im Garten seiner alten Tante. Die Flüssigkeit glänzte bernsteinfarben in der Flasche mit dem goldenen Etikett. Urin wurde auch dunkler je länger er im Körper verweilte. Nach drei Tagen schimmerte die Pisse bernsteinfarben in den Sprite Flaschen der Bootsflüchtlinge und schmeckte salzig, aber gerade noch nicht so salzig wie das klare Meerwasser welches bedrohlich mehrere Zentimeter hoch im Boot stand. Und gerade noch nicht so salzig wie der Schweiß auf den Stirnen der Elendsgestalten auf offener See.

Wenn Mamudu die Augen schloss in der brütenden Hitze dann schimmerte das Wasser neben dem Treibstoffkanister wie ein Regenbogen am Horizont nach der Regenzeit. Regen. Wie süß kann dieser eigentlich schmecken sieht man sich umgeben in einem Grab aus Salzwasser wie es nur der Hälfte der Fische eine Heimat bietet. Er hatte in der Heimat das Schwimmen nie richtig gelernt da der Ozean als gefährlich und unberechenbar galt. Nur erfahrene Fischer machten sich regelmäßig vor Sonnenaufgang auf in das schwarze Meer ohne Boden hinauszufahren und die Kinder jubelten jeden Mittag bei deren Rückkehr mit halbgefüllten mehrfach geflickten Netzen aus Nylonfaser.

Wahrscheinlich konnten die anderen Bootsinsassen genau so wenig Schwimmen wie Mamudu der ohne Gepäck eingestiegen war. Der Durst nach Salzwasser war so groß. Dieser Durst war eine Folter unter dem Sternenhimmel ohne Ränder und Ende. Nur wenige Tropfen Süßwasser sammelten sich jeden frühen Morgen auf der Reling des bunten Bootes. Gerade so viel um seine salzigen und trockenen Lippen zu benetzen und für einen Moment zu vergessen, dass dies weiße Kristall den Kampf gegen die nach Erfrischung flehenden Adern längst gewonnen hatte.

In Deutschland tranken die Kinder. Er hatte sie gesehen. Sie tranken Limonade mit Alkohol, der einem in den Kopf stieg. Einmal war ihm schlecht geworden. Vom Bier.

Auf dem Boot war ihm auch schlecht gewesen. Die Leute übergaben sich auf das raue Meer. Der Geschmack von Magensaft begleitete ihn auf dem Weg über das Mittelmeer, auf dem Weg über dieses unendlich tiefe und weite Massengrab.

Einmal hatte er Weißwein probiert, dessen Säure ihn sofort an diesen Geschmack erinnerte, der nicht besser wurde trocknete einem langsam der Mund aus vor Durst.

Er ekelte ihn. Rotwein ging besser. Es gab ihn süß in großen Literflaschen neben den Monatsangeboten. Wenn er sich mit Freunden auf einer Parkbank traf nahm Mamudu eigentlich immer zwei Flaschen Wein oder ein paar Bierdosen mit. Er mochte das Gefühl nach den ersten beiden Dosen, oder der ersten halben Flasche Wein wenn alles ein wenig lustiger wurde. Die Gespräche mit den Bekannten wurden laut und komisch, wenn man ein wenig einen sitzen hatte und am wichtigsten war, dass man nicht mehr an die Mutter und  Geschwister in der Ferne dachte. Schmecken aber tat er ihm nicht, der Alkohol. In eigentlich keiner Form. Der Spätkauf hatte auch bunte Gummischlangen und Brausekugeln, Kaugummis und Lakritzstangen vor den Tabakwaren und den Getränken und manchmal zögerte Mamudu beim Kauf einer dritten Flasche Wein und war stark versucht eben solch Süßigkeiten zu kaufen statt der grünen Glasflasche. Schokolade war auch fein. Der Alkohol aber brannte, schmeckte nach Magensäure oder war so süß, dass man ihn in winzigen Schlucken trinken musste wollte man nicht heimlich würgen.

Es kostete Überwindung alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Willenskraft. Es war ein Kampf gegen seine eigenen Geschmacksnerven aber diese gewisse Leichtigkeit, welche sich nach den ersten kühlen Schlucken einstellte überwog an Wichtigkeit und Dringlichkeit.

Auch wenn man fast am Verdursten ist muss man langsam trinken.

In winzigen Schlucken kriecht der giftige Regenbogen in deinen Schlund wenn du neben dem gekenterten Boot aus bunten Leitplanken schwimmst. Es ist ein stiller Tod man wird erst ohnmächtig und entgleitet dann langsam und lautlos in die Tiefen des Meeres.

Nur in den Matrosenfilmen aus den 1950er Jahren wird ein solcher Tod majestätisch von kreisenden Möwen begleitet, in Wahrheit sinkt man auf den Grund ohne dass es jemand mitbekommen würde. Die zivile Seenotrettung berichtete dann über solche Todesfälle, aber den Rest der Welt interessierten die Leichen auf dem Grund des Mittelmeeres nicht.

Mamudu war nicht gekentert. Er hatte es geschafft.

Manchmal, wenn er spät am Abend heim kam dann wankte er wie ein Seekranker auf rutschigem Deck. Er war aber noch nie gestürzt.

Eines Abends saß er in einer der wenigen tropischen Nächte alleine auf der Parkbank und trank eine Flasche Rotwein, da schimmerte der Wein in der Abendsonne tiefrot wie Blut. In seiner Heimat alleine war die Sonne so tiefrot am Horizont zu sehen und zwar in den langen und heißen Sommermonaten. Er trank und trank und während er trank schloss er die Augen wie so oft und sah sich in den Armen seiner guten Mutter. Er hatte es geschafft. Und er wollte es schaffen. Er hatte kein Geld. Für den Alkohol reichte es.

Rausch nach Leben. Leben für ein bisschen Rausch.

Und als er so dasaß und in den Himmel blickte verspürte er einen unbändigen Durst nach Salzwasser. Er fühlte sich auf einmal einsam und verlassen, spürte seine müden Knochen und den verspannten Rücken, die Müdigkeit hatte sich angesammelt in den letzten Wochen der Schlaflosigkeit. Deutschland war ein kaltes Land. Viele lange Monate war es bitterkalt und dunkel. Auch die Menschen begegneten ihm eher kalt. Er hatte nur wenige Leidensgenossen kennengelernt, mit welchen er die Freizeit verbrachte. Die Freizeit überwiegte, er hatte ja noch keine Arbeit und wenn er durch die Kleinstadt mit dem Fahrrad fuhr begleiteten ihn neugierige, aber nicht besonders freundliche Blicke.

Das nächste Mal wollte er sich eine bunte Brausekugel kaufen und sie langsam im Mund zergehen lassen. Und es fing an zu regnen und als der Schauer vorüber war ging Mamudu unter einem Regenbogen, der schimmerte wie ein Ölfilm auf Salzwasser unter der brennenden afrikanischen Sonne.

Er war erwachsen und er wollte es schaffen.

Vincent Eivind Metzger: outsider art

Es gibt Kunst, die bewegt Menschen. Sie polarisiert, sie regt zum Nachdenken an, sie bringt Menschen zusammen. Ich hasse diese Kunst. Ich hasse Nachdenken. Ich hasse Zusammenkünfte. Meistens. Oft liebe ich sie auch. Jede*r kennt es, aufwachen, schlechte Laune, heute wird kein guter Tag. Oder eben aufwachen, Motivation, gute Laune. Ich kenne beides. Mehrmals am Tag im Wechsel. Immer. Es sitzt in meinem Kopf und diktiert mir, wie ich zu leben habe. Es setzt mir unaufhörlich Gedanken in den Kopf. Es entscheidet, ob ich heute 10 oder doch nur 3 Stunden schlafen kann. Es ist dafür verantwortlich, dass mein erster Blick nach dem Aufstehen aus dem Fenster in die Tiefe geht. Ich weiß nicht was Es ist, ich weiß nicht wieso Es ist, ich weiß nicht wo Es herkommt; das einzige, was ich weiß, ist, dass Es hier ist. Und dort ist. Und in mir ist. Kunst kann versuchen, unbegreifliche Dinge greifbar zu machen. Die Frage ist, welche Dinge sind unbegreiflich? Wer muss Tag ein Tag aus mit unbegreiflichen Dingen leben? Du kannst lernen zu zeichnen, Musik zu komponieren, Gedichtrythmen zu perfektionieren. Aber du kannst nicht lernen, wie es ist, mit dem Es leben zu müssen. Freu dich darüber. Für Menschen, die das Es nur allzu gut kennen, ist Kunst keine Muse, für sie ist Kunst ist ein stummer Hilferuf. Verstehst du die Intention? Was ist deine Intention?

Ich hasse es hier zu sein. Aber meine größte Angst ist nicht hier zu sein.

Matt S. Bakausky: Abriss

Wie Major Kong in „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ ritt David Hasselhoff – zwar nicht auf einer Wasserstoffbombe –  jedoch auf einer Abrissbirne 1989 gegen die Berliner Mauer.

So habe ich es zumindest in Erinnerung. Er trug eine Lederjacke mit Weihnachtsbeleuchtung und sang „I’ve Been Looking For Freedom“. Das war der Anfang vom Abriss von der sogenannten Berliner Mauer. Aber heute geht es nicht um die Berliner Mauer und auch nicht um das, was David Hasselhoff da getan oder nicht getan hat, sondern es geht um die Partypics von letzter Nacht und somit einem anderen Abriss. Ganz ohne Lichterkette und Abrissbirne. Zu sehen ist Bakausky, wie er Shotglas um Shotglas leert, sie sind in einer Zehnerreihe hintereinander aufgestellt, und wie er sich dann auf die Tanzfläche begibt, um abzutanzen, wie eine Abrissbirne pogt er die sprichwörtliche Menschenmauer um sich ein und gelangt bis vorn auf die Bühne und singt dort Miley Cyrus Hit „Wrecking Ball“ – zu Deutsch „Abrissbirne“. Das kommt beim tobenden Publikum hervorragend an, wie David Hasselhoff 1989, nur besser. Es ist die Nacht der Nächte, Karaoke-Nacht im Club Kong.

Und dann ist irgendwann vor gespult auf den nächsten Tag. Der Putzdienst schiebt die letzten Gäste raus, das Licht im Saal brennt in Bakauskys roten Augen. Die Party, der Abriss, ist vorbei. Genau wie David Hasselhoff und 1989. Schade.

Katharina Wasmeier: Botswana

Eine alte Bekannte von mir war fit in Wortspielen. Wenn sie sagte „Heut Abend geh ich nach Botswana“ hieß das, sie würde später ein Bad nehmen statt sich in der Kneipe zu treffen. Mir fällt das grade ein, weil gestern war ich nämlich auch in Botswana. Eine für die meisten von euch vermutlich nicht weiter spannende Information, sondern vielmehr alltägliche Handlung der Reinigung, Wellness und Entspannung. Für mich problematisch, weil Badewanne bedeutet Zwangsstillegung, Unbequemheit und Stress und kann deswegen nur in Ausnahmesituationen als ultima ratio herangezogen werden.

So zum Beispiel „Ich hab Halsweh und mir ist arschsaukalt schon den ganzen Tag. Ich glaub ich muss in die Badewanne.“ Wenn ich gewusst hätte, welch sagenhafte Handlungskette größter Betriebsamkeit diese nebensächliche Information auslöste – ich hätt’ sie mir verkniffen. „Mir war nicht klar, dass ‚Badewanne‘ ein Codewort für ‚Wohnungsputz‘ ist!“ hab ich gejammert und den Toilettenrand dick mit Reinigungsschaum ausgekleidet, während im Arbeitszimmer Aufbewahrungsschachteln durcheinandergewürfelt wurden und im Waschbecken Wanderschuhe eingeweicht sowie im Flur großformatig Kabel einer Schlagbohrmaschine zu den selben Mandalas ausgefächert lagen, die ich eigentlich in einem Bett aus wohlduftenden Blubberblasen längst gern gemalt hätte. Doch es kam anders.

Weil ich lediglich die ungeliebte Wanne (zu kurz, zu eng, zu wenig Kissen) wenigstens kurz wischen wollte, kam mir der Gedanke, dass wenn Lappen und Reiniger schon in der Hand sind, damit auch geschwind das Waschbecken durchgefeudelt werden könnte und weil’s ja nur ein Handgriff mehr ist auch das Klo. In der Zwischenzeit trug der Mann („Gell, du möchtest einfach nur, dass es mir möglichst gut geht. Und nicht etwa, dass ich möglichst lange in der Wanne bleibe, damit du möglichst lange Ruhe vor mir hast?“) beflissen Hocker, Tee und Kerzenschein ins Badezimmer und frug, wonach ich mich noch sehnte. „Nichts weiter, und bei dem Licht hier lauf ich auch nicht Gefahr, einzuschlafen und zu ertrinken“, bemerkte ich mit Blick aufs gleißende Halogen.

Weswegen eine Klemmlampe im Vorratsraum abgebaut wurde. Weswegen ein Verlängerungskabel fürs Bad gesucht wurde. Weswegen eine Mehrfachsteckdose gesucht wurde. Weswegen dabei eine Aufbewahrungsschachtel gefunden wurde. Weswegen darin Festplatten („Die müsste man mal durchschauen!“), Handyschutzfolien („Das Handy gibt’s ja gar nicht mehr. Die stell ich schnell bei Ebay ein.“), Smartphonehalterungen („Das hast DU unbedingt haben wollen und jetzt liegt’s originalverpackt nur rum!“) gefunden wurden. Weswegen Platz für einen Klemmspot geschaffen wurde. Weswegen eine dabei entdeckte Pflanze dringend umgetopft werden musste. Weswegen man doch eigentlich das neue Schuhregal … Ich sag mal so: Halsweh ist jetzt weg, ich fühl mich pumperlgesund. Nach Botswana muss ich erstmal nicht mehr.

Immanuel Reinschlüssel: FaKotäne

Man nimmt sich vor all das zu tun, wofür man sonst keine Zeit hat. Die alten Platten mal wieder anhören, Bücher lesen, den gottverdammten Roman endlich schreiben, Spanisch lernen. Und dann wacht man auf, schleppt sich vom Bett zum Sofa, weiß nicht, wie spät es eigentlich ist und welcher Wochentag gerade vergammelt werden muss – und klickt ohne Ziel durch das endlose Angebot von Netflix, das plötzlich gar nicht mehr so unendlich erscheint. Die Entmystifizierung dieser unendlichen Weiten dauerte genau 45 Tage. Die Fenster sind verdreckt, die Frühlingssonne zeichnet jede einzelne Schliere mit größter Sorgfalt nach. „Morgen werden die Fenster geputzt.“, sagt man sich. Ja klar. 

Da sowohl Wochentage als auch Tageszeiten keine Rolle mehr spielen, wird getrunken. Und zwar sehr viel früher, als man es irgendjemandem erzählen wird. Aber niemand wird spontan anrufen oder vorbeikommen, man muss nicht ohne Vorwarnung zu einem Treffen oder einem Termin erscheinen, also kann man sich genauso gut dem dämpfendherrlichen Gefühl des leichten Seiers hingeben, der fließend in einen amtlichen Suff übergeht und das schlechte Gewissen über all die ungelesenen Bücher und ungehörten Alben, den gottverdammten Roman, Spanisch und den Rest der Welt gleich mitschwemmt. All die halbleeren Flaschen mit Fusel, die von vergangenen Feiern übriggeblieben sind und auf den Schränken verstauben – jetzt schlägt ihre große Stunde, hier ist ihr Auftritt. Bühne frei für den 4,99 Gin aus dem Aldi, Vorhang auf für Wein im Tetrapak, Spot auf den Kopfweh-Bourbon, füllt die Gläser mit Fanta-Korn.  

Je ähnlicher sich die Tage werden, desto undeutlicher erscheinen die Erinnerungen an das „davor“. Hat man einen Job? 

Hat man eine Freundin irgendwo? 
Leben die Eltern eigentlich noch? 
Wie heißt man eigentlich? 

Irgendwann muss man diese Informationen wieder zusammensammeln, sie erscheinen wichtig. Aber nicht jetzt, jetzt ist der FaKo an der Reihe, mit Fanta geht einfach alles und mit etwas Übung geht auch alles runter. Hardcore-Workout für Leber und Gedärme, ein staatlich finanziertes Säufertrainingslager, bei diesen geistreichen Gedanken fängt man an zu lachen. Richtig zu lachen, aus voller Kehle, lang und anhaltend, ein Lachen geboren in Langeweile und Fanta-Korn. Nachdem man sich beruhigt hat merkt man, dass dies der erste Laut war, den man seit Wochen von sich gegeben hat. Das beunruhigt. Man öffnet den Mund, kommt sich dumm dabei vor aber macht es trotzdem, man öffnet den Mund und sagt einen Satz. Etwas Saudummes wie „die Sonne scheint“ oder „Hallo, hallo, Test, Test.“. Ein komisches Gefühl ist das, die eigene Stimme zu hören und den Nachhall der Worte im Mund zu haben. Man schließt die Augen und schmeckt die Worte auf der Zunge förmlich nach.

Ein ganz kritischer Moment ist das jetzt, ein ganz, ganz kritischer. Hier entscheidet sich, wie es weitergeht. 

Links: Etwas dämmert, ein Gedanke manifestiert sich, man fragt sich, was man hier eigentlich macht und wie es so weit kommen konnte. Man stellt das Glas zur Seite, nimmt eine kalte Dusche, sucht sein Handy und ruft die erstbeste Nummer an, die man findet. Und dann alle anderen, die wichtig erscheinen. 

Rechts: Man nimmt einen tiefen Schluck FaKo, trottet ins Bad zu einem längst überfälligen Schiss und singt auf der Schüssel schief Lieder von Radiohead. Dann torkelt man in die Küche und schüttet Fanta und Korn im Verhältnis 1:1 in ein großes Wasserglas und zurück geht es aufs Sofa.

Man geht nach links.

Man wacht auf, der Kopf schmerzt. Man hat viel gelernt in den Telefonaten, das Meiste wollte man eigentlich gar nicht wissen. Man hatte eine Freundin, sie wohnt scheinbar in Berlin, man war über zwei Jahre zusammen, ihr Name ist Jana. Sie hat die Sauferei aber endgültig satt und weil man sich mehr als sechs Wochen nicht bei ihr gemeldet hat ist es jetzt endgültig aus. Man findet Fotos auf dem Handy, Jana war wirklich sehr hübsch. Man arbeitet anscheinend in einer Agentur, weder der Chef noch die Kunden haben gemerkt, dass man im Homeoffice seit Wochen keinen Finger gerührt hat. Na gut, muss er ja nicht wissen. Die Eltern leben noch, sie hören sich wirklich sympathisch an, man freut sich ganz ernsthaft auf ein baldiges Treffen mit ihnen. Sie scheinen ein bisschen überrascht darüber zu sein. 

Man heißt …

Elisabeth R. Hager: Du räumst auf

An einem Tag, der kommen wird, steh ich morgens auf der Straße und erkenne nach Jahren, in denen du tot warst, an einem Menschen in der Ferne deinen Gang. Ich weiß noch das karierte Hemd (von einem deiner Brüder, viel zu groß) & die abgeranzten, ausgelatschten Turnschuh‘. Du bist es wirklich. & wie du den Kopf unterm Arm die Straße runter rennst, könnt‘ man denken es wär alles normal. Nur das Pfeifen kommt von etwas tiefer unten & eine Kragenweite enger bist du auch. Da bin ich platt, da schau ich her hinter dir, schau wie du mit dem Riesenkopf die Straße runtergehst. Trophäe eines allzu kurzen Lebens. Statuiertes Exempel einer Kritik der Moral.

An einem Tag, der kommen wird, steh ich morgens am Bahndamm und schaue dir zu, wie du Haare aufsammelst, deine Haare auf den Schienen von Gleis drei. Mit ernstem Fleiß hältst du den Schädel ins Gebüsch, deinen Suchscheinwerfer, greifst hinein, ziehst Büschel heraus, unternimmst du nach zehn Jahren Schlaf eine etwas verspätete Rekonstruktion. In meinen Ohren – sitzten fest an mir dran – erhebt sich ein‘ Moment lang ein Gemurmel, ein satanischer, wüster Gesang. Dann ist es still auf einmal, nur das Hämmern eines Spechtes an der Borke eines Baumes & das Läuten der Glocke am Bahnübergang. Langsam drehst du dich um zu mir. Dein Gesicht lächelt lässig in die Seite gestemmt, dein abgerissener Kopf sieht aus wie neu. Du winkst mir zu. Wir blicken uns an. Sorror is worn out joy...

„Danke, dass du aufräumst“, bringe ich endlich heraus, doch da rauscht schon der Zug durch den kommenden Morgen & eh‘ ich begreife bist du auf und davon.

Katrin Rauch:Schlager

Jacques Prevert: Je suis comme je suis

Je suis comme je suis
Je suis faite comme ça
Quand j’ai envie de rire
Oui je ris aux éclats
J’aime celui qui m’aime
Est-ce ma faute à moi
Si ce n’est pas le même
Que j’aime à chaque fois
Je suis comme je suis
Je suis faite comme ça
Que voulez-vous de plus
Que voulez-vous de moi

Je suis faite pour plaire
Et n’y puis rien changer
Mes talons sont trop hauts
Ma taille trop cambrée
Mes seins beaucoup trop durs
Et mes yeux trop cernés
Et puis après
Qu’est-ce que ça peut vous faire
Je suis comme je suis
Je plais à qui je plais

Qu’est-ce que ça peut vous faire
Ce qui m’est arrivé
Oui j’ai aimé quelqu’un
Oui quelqu’un m’a aimée
Comme les enfants qui s’aiment
Simplement savent aimer
Aimer aimer
Pourquoi me questionner
Je suis là pour vous plaire
Et n’y puis rien changer