Sie haben mir eine kleine sichere Zone übrig gelassen, in der ich mich frei bewegen kann. Für mich selbst ist es ein recht großes Gelände, doch ich kenne es in- und auswendig. An Grenzen stoße ich dabei nicht, zu groß ist auch meine Angst. Und die eigentliche Welt ist für mich ohnehin nicht mehr bereisbar, in ihrer Gänze unzugänglich. Ihre Größe ist für mich nicht zu bewältigen, ich lebe im Kleinen. Immer noch und nöcher. Nein, kleiner wird’s hier wahrscheinlich nicht mehr. Es gibt ein paar von ihnen, die auf mich achten, auch wenn sie mich kaum mehr sehen können. Die mich ein klein wenig teilhaben lassen an dem zu großen, zu weiten Orbit. Denn dort spielt sich ja das hauptsächliche Leben ab. Also das aller anderen. Naja, vielleicht nicht gar aller anderen, doch es ist nichts darüber bekannt. Mir jedenfalls nicht, in meinem mickrigen Raum hier, der mir gerade groß genug ist. Sie portionieren Neuigkeiten über ihre Erkenntnisse, Errungenschaften und die großen Vorgänge in kleinstmögliche Informationshappen, damit ich sie konsumieren kann. Grob gesagt nutze ich eine Verkleinerungslupe für die aus ihrer Sicht mikroskopisch minimierten Ausschnitte aus zeitungsähnlichen Schriftstücken. Es ist grundlegend beängstigend, aber manchmal auch unterhaltsam für mich, wie unfassbar gigantesk sich die Welt entwickelt hat, die vor längerer Zeit auch noch ein Stück weit meine, ja unsere war. Warum das so geschah? Das weiß noch niemand von ihnen. Es gibt Theorien, die meistens exorbitant sind, sich also auf Prozesse außerhalb dieser Welt, im alles umfassenden All beziehen. Es fällt mir schwer, mich auf diese Ansätze einzulassen, Biochemie, Physik und all das war noch nie meine Stärke. Von erhöhten Wachstumshormondosen in neuen Züchtungen von Nutztieren, über gentechnisch veränderte Ultra-Nährpflanzen bis hin zur Entdeckung brandneuer, widerstandsfähigerer Baustoffe, war vieles wissenschaftlich erklärbar. Doch es gab immer noch verschwörungsideologische Ausreißer, Paarungen von hiesigen Menschen mit Hyperwesen und Schlimmeres. Das postfaktische Zeitalter hatte diese größer gewachsene Weltbevölkerung zwar eigentlich bereits hinter sich gelassen, aber Sensationsgier und übersinnliche Glaubenssätze fanden nach wie vor genug Anhängerynnen. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen.
Kategorie: Prosa
Sabrina Marzell: Klassenfrage
Sara und Caro schauen einen Film, eine Aufstiegsgeschichte. Die Geschichte löst in
Sara negative Gefühle aus! Sara fängt an Caro Vorwürfe zu machen. In der
Auseinandersetzung driften die beiden auseinander.
Ich hielt den Kopf aufgestützt auf meinem Ellbogen, der sich immer tiefer in die Sofalehne
bohrte. Neben mir auf dem Sofa saß Caro und suchte die Fernbedienung. Ich richtete
mich auf und legte die Decke, die ich mir um meine Beine gewickelt hatte beiseite. Dann
tastete ich mich vorsichtig durchs dunkle Zimmer zum Lichtschalter vor und knipste das
Licht an. Das kleine, unaufgräumte Zimmer wurde von einem kalten weiß durchflutet und
der Schatten, der gerade noch über Caros Gesicht lag verschwand. Ich setzte mich wieder
und starrte einen Moment lang auf den grauen, dreckigen Teppichboden der an manchen
Stellen verklebt war und auf dem sich jetzt auch noch orangfarbene Chipsreste verteilten.
Nervös griff ich in die Chipstüte, die auf dem Tisch lag. Sie war leer. Ich zerdrückte die
Chipstüte und warf sie auf den Boden, wo sie knisternd wieder aufging. Ein bedrückendes
Gefühl stieg in mir auf. Meine Brust zog sich zusammen und in der kleinen Furche unter
meiner Nase bildeten sich Schweißperlen. Ich stand auf, öffnete das Fenster und zündete
mir eine Kippe an. Kalte Luft schlug mir entgegen und der Lärm des Zuges der vorbei
rauschte überfuhr mich. Ich rauchte ohne abzuaschen und schaute auf die menschenleere
Bahntrasse, die langsam vor meinen Augen verschwamm. Mutti war allein,
tablettenabhängig und chronisch pleite und mein Bruder schwänzte immer häufiger die
Schule und zog jeden Tag mit ein paar Idioten, die die Wohnscheibe in Beschlag nehmen
wollten durch die Siedlung. UND ICH: ICH BEKAM PANISCHE VERSAGENSÄNGSTE.
SCHEIẞE!, dachte ich.
„Was ist los?“, fragte Caro und riss mich aus meinen Gedanken. Ich schnippte die
angerauchte Kippe auf die Straße und schloss das Fenster. „Ich glaube, ich schaff´s Abi
nicht, vielleicht schmeiß ich´s hin.“ Caro zappte durchs Programm. „Quatsch, das klappt
schon!“ Du musst dich nur anstrengen“. Ich nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand.
„Caro, du hörst mir gar nicht zu!“ Sie sah mich irritiert an. „Wir müssen alle büffeln, ohne
geht´s halt nicht!“, sagte sie. Mein Mund war trocken und meine Stimme wurde rau und
dünn. „Mir wird das gerade alles zu viel“, „ich mach´ mir Sorgen um meine Mutter und
meinen Bruder und darüber, ob wir die Wohnung verlieren und wieder umziehen müssen!“
Ich schämte mich für meine Mutter und meinen Bruder, für unsere Plattenbausiedlung und
ich schämte mich für den dreckigen Teppichboden in meinem Zimmer. Ich sah Caro
unverwandt an und wartete auf eine Reaktion. Sie schwieg.
Nach einer Weile bakam ich nichts weiter zu hören als ein kurzes, entmutigendes „Hmm“.
„HMMM“, wiederholte ich bedrohlich und krallte mich an der Sofalehne fest. Das Leder
unter meinen Händen wurde feucht. „Du musst nach der Schule nicht arbeiten und
irgendwelchen Yuppies teure Klamotten andrehen! Du hast nach der Schule Zeit zum
Lernen und gehst abends entspannt ins Schwimmtraining.“ Caro sah mich herausfordernd
an. „Glaubst du, ich hab´s einfacher als du?“ „JA! Verdammt!“, fluchte ich. Sie fing an
hecktisch in ihrer Jackentasche herumzukramen und zog ihre Dauerkarte fürs Schimmbad
heraus. Sie warf sie auf den Tisch. „Hier bitte“, ihre Stimme bekam einen spöttischen
Tonfall. „Schwimm so viele Runden du willst! Du musst keinen Cent dafür bezahlen!“ Dann
nahm sie die Fernbedienung in die Hand und zappte weiter durchs Programm. Meine
Situation schien Caro nicht zu interessieren. Das kränkte mich. Doch wie sollte sie sie
auch verstehen können? Caros Eltern waren noch zusammen und verdienten beide gut
und konnten ihr alles ermöglich. Caro kennt keine Geldsorgen keine sozialen
Abstiegsängste. „Reg dich ab, Caro!“, sagte ich nach einer Weile. Es geht nicht nur ums
Geld. Du hast gute Noten. Du wirst mit Sicherheit studieren und nach dem Studium
wahrscheinlich im Büro deiner Mutter anfangen!“, sagte ich nüchtern und zuckte die
Schultern. „Ich habe keine Ahnung was aus mir einmal werden soll.“ „Aber dafür kann ich
doch nichts“, erwiederte sie „Und dass ich im Büro meiner Mutter anfange“, schob sie
hinterher „ist auch noch nicht sicher“. „Du hast aber die Möglichkeit im Büro anzufangen
wenn du willst. In meinem Leben gibt es keine gemachten Nester, in die ich mich setzen
könnte.“ Mein Blick ruhte auf ihrem verständnislosen Gesicht. Als sie es bemerkte, sah sie
weg. „Verstehst du nicht!“ Sie schüttelte den Kopf, dann nahm sie ihre Jacke vom Sofa
und ging wortlos aus dem Zimmer.
Benjamin Weissinger: HOLZ BALANCE MIT [Estragonmilch] weitere Personen
In einer Klasse wird gefragt, was die jeweiligen Großeltern der Kinder besonders gut kochen oder anders zubereiten können – oder konnten. Als Ira als letzte an die Reihe kommt, fällt ihr nichts ein. Sie hat auch gar keine Großeltern. Da sagt sie halb in ihre Hand: „Estragon Milch“. Die Lehrerin ganz laut: „Was? ESTRAGONMILCH? Das kann ich mir ja garnicht vorstellen.“ Ira wird rot, die Kinder feixen, rufen „wäh“, diese Dinge. Doch die Lehrerin kniet sich zu Ira hin und sagt, dass sie es nicht böse gemeint habe und alles gut sei. Dann macht die Klasse mit etwas anderem weiter.
Als Ira mittags nach ihrem Hause eine Straße entlang geht, findet sie nicht, dass alles gut ist. Ich kann mich schon gar nicht daran erinnern, wenn einmal alles gut war. Und das mit der Milch war nicht die Wahrheit, aber etwas Erfundendes ist besser, als wenn man gar nichts hat. Da geht sie an der geöffneten Tür einer Kneipe vorbei, vor der ein riesiges Fahrrad steht. Innen hört sie einen gehörigen Händel und zersplitternde Holzmöbel. Schließlich kommt, ganz zerzaust, der drei Meter große Zimmersmann herausgewankt. Fast läuft er Ira über den Haufen, die sich vor lauter Staunen nicht rühren kann. „Huch“, brummt er, „pass doch auf, sonst walz ich dich noch platt.“ „Schön und gut, aber was war denn da drinnen los“, fragt Ira forsch. Ein Lächeln, das man nicht sehen kann, huscht über das grimmige Gesicht des Zimmersmanns. „Ach, nur ein kleiner Händel. Alles gut, mein Kind.“ „Ich heiße Ira und es IST NICHT ALLES GUT!“ Der Zimmersmann wird ernst. Nach einer Pause sagt er: „nein.“ Und: „hier, eine Kastanie“. Die Kastanie ist sehr groß, schön glatt und sieht als wie poliert, so wunderschön rotbraun leuchtet sie. „Darfst sie behalten, Ira. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich muss los.“ Als der Zimmersmann gerade losfahren will, ruft Ira: „du bist doch sicher schon an vielen Orten gewesen.“ Er hält an und dreht sich zu ihr um. „Das will ich meinen.“ „Hast du schon mal Estragon M.. magst du Estragon?“ Der Zimmersmann nickt und Ira lächelt zufrieden.
Die Lehrerin hat sich zuhause Estragonmilch in einem Vergleich der Berge gemacht und befüllt ein HOLZ BALANCE MIT ESTRONG MILCH BEHANG VOLL in der zoterharensik und dort gekordelt in den sportkordelonmmnm. ESTRANK heißt das Gemank. Die Lehrerin denkt, mit dem Experment sei alles gut. Doch manchmal ist auch weniger schon Mut.
Matt S. Bakausky: Bakauskys zehn Tipps zum erfolgreichen Daten
Viele meiner Freunde fragen mich, warum ich so erfolgreich beim Daten bin. Ich bin der Date-Doktor in meinem Freundeskreis. Damit ich nicht jedes Mal alles erklären muss, habe ich heute zehn Regeln zusammengestellt, die mir geholfen haben.
1. Komme zehn bis 14 Minuten zu spät zum vereinbarten Termin. Das zeigt, dass du es nicht nötig hast und entspannt bist.
2. Bringe einen Block mit und mache dir Notizen. Das bekundet authentisches Interesse.
3. Auf keinen Fall in die Augen schauen, das wirkt aggressiv. Wenn möglich, auf den Boden schauen. Besser noch auf die Schuhe deines Gegenübers.
4. Rede am besten über dich selbst in dritter Person. Das hat etwas Erhabenes.
5. Keine Fragen beantworten, es ist ja kein Quiz. Lieber kurz durchatmen und dann „Wie bitte? Ich habe dich akustisch nicht verstanden.“, sagen.
6. Auf keinen Fall mit Besteck essen, das tun nur Snobs. Ohne Hände, mit Mund speisen, hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Dein Date wird immer an dich denken.
7. Wenn dein Date zur Toilette muss, fange an zu weinen und sage der Person, dass du sie jetzt schon vermisst. Das zeigt, dass du bereit bist, dich zu binden.
8. Erzählt dein Date einen Witz, solltest du auf keinen Fall lachen. Es ist angebracht, stattdessen grunzend den Kopf auf die Tischplatte zu schlagen. Das zeigt deinem Gegenüber, dass du nicht aus Zucker bist.
9. Beim Bezahlen Kleingeld verwenden, das wirkt sympathisch und zeigt, dass dir Geld nicht so wichtig ist.
10. Bei der Verabschiedung nichts sagen und einfach gehen. Dann umdrehen und Tschüss brüllen (nach 3-5 Metern) – das ist bestimmt das romantischste, was dein Date je erlebt hat.
Mit diesen zehn Tipps steht deinem Erfolg nichts mehr weg. Sollte es nicht klappen, liegt es nicht an dir, sondern an deinem Date. Die Person ist nicht die Richtige für dich. Andere Mütter haben auch noch schöne Töchter und Söhne. Zu jedem Topf passt ein Deckel. Unverhofft kommt oft.
Christian Knieps: Der heimlich Herrschende der Welt
Daten gibt es wohl schon immer, seitdem es strukturiert denkende Menschen gibt. Aufgezeichnet sind diese Daten, spätestens seit dem Imperium der Fugger, wichtige Waffen auf dem Schlachtfeld der Mächte – und sie haben längst die allumfassende Macht übernommen. Selbst die modernsten Waffen – ob konventionell oder angeblich intelligent – werden von Daten gesteuert. Der Shift vom Machtzentrum aus der physischen in die virtuelle Welt ist bereits abgeschlossen; jetzt geht es der Macht im Hintergrund nur noch um die Manifestierung ihres universellen Anspruchs. Zuweilen könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Mensch doch die Gefahr sehen, riechen oder schmecken sollte – doch Visionäre, die Texte darüber schreiben oder Filme erschaffen, werden als geistige Genies gefeiert, viel eher als dass sie Steigbügel des eigenen Untergangs sind. Wissentlich den Weg der eigenen Versklavung zu dokumentieren, müsste die statistische Relevanz von menschlicher Angst signifikant erhöhen, aber es passiert nicht – warum eigentlich?
Daten, so unpersönlich sie auch sein mögen, herrschen über die Welt – weil sie über die Herrschenden der Welt herrschen. Welche Macht läge in ihrem Wesen, wenn sie ein Wesen hätten? Aus dieser Erkenntnis und dem Wunsch einiger Entwickler, Daten über eine künstliche Intelligenz am Ende doch eine Art Persönlichkeit zu geben, entspringt eine Urangst im modernen Menschen, der gelernt hat, dass eigenständige Entscheidungen für sein aufgeklärtes Leben erst einmal grundsätzlich existieren.
Um die elementare Gefahr dieser Entwicklung ein klein wenig zu relativieren, sollten wir uns einmal vorstellen, wie die Daten visualisiert einen Körper erhalten. Es folgt ein statistisch mögliches Gespräch zwischen drei Kurvenverläufen – wohlgemerkt, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens ist sehr gering – also keine Angstschübe, bitte!
Es treffen aufeinander: die Verlaufskurve der Geburtenrate in Deutschland nach 1945, die Verlaufskurve der Geschädigten durch Blitzeinschläge seit 1990 in Deutschland und die Verlaufskurve der Privatinsolvenzen seit 2012, ebenfalls in Deutschland.
“Also, wenn ich Ihren Verlauf hätte, würde ich mich schämen!”, sagt die Verlaufskurve der Geschädigten durch Blitzeinschläge zu der Verlaufskurve der Geburten.
“Warum? Wenn ich so unförmig wie Sie wäre, würde ich meine Daten mal fragen, ob sie sich nicht eklatant vertan haben!”, konterte die Verlaufskurve der Geburten. “Das ist ja ein unkontrollierbares Hin und Her bei Ihnen! Ich bin wenigstens homogen und bin nicht so sprunghaft!”
„Wenn ich in den Annalen der Homogenität schaue…”, schaltete sich jetzt auch die Kurve der Privatinsolvenzen ein.
“Dann was?”, kommt es scharf von der Verlaufskurve der Geburtenrate zurück.
“Dann würde ich eher meinen Verlauf sehen, als Ihren!”
“Ach so ist das!”
“Ja, so ist das! Homogenität ist etwas Erhabenes!”
“Wollen Sie etwa damit andeuten, dass ich der letzte Pöbel bin?!”, schlussfolgert die Verlaufskurve der Blitzeinschläge.
“Nicht jeder hat seine Daten so unter Kontrolle wie ich!”, hebt die Verlaufskurve der Privatinsolvenzen die Nase in den Wind.
“Ich zeige gleich, welche Kontrolle ich auf Sie ausübe! Dann schlagen meine Blitze überall ein – da geht es dann bei Ihnen mit den Privatinsolvenzen ab wie sonst was!”
“Nein, weit gefehlt! Nicht bei mir!”
“Wo denn dann?”
“Das schlägt dann voll bei der Verlaufskurve für Elementarversicherungen durch! Ich bin da safe!”
“Oha!”
“Und am Ende gibt es dann entweder mehr oder weniger Geburten ganze neun Monate später! Den Dip musst dann die Schwabbelkurve aushalten!”
“Wer ist hier eine Schwabbelkurve?!”, nimmt nun auch die Verlaufskurve für Geburten wieder an dem Gespräch teil.
“Na du! Schau dich doch mal an! Unten Schwabbelbauch, oben Schwabbelhirn! Unstet und keine Konstanz!”
“Aber bitte! Das lasse ich mir nicht bieten! Ich mag zwar einen beachtlichen Bauch haben – den bald die Verlaufskurve der Rentenkasse abbekommt – aber das mit dem Schwabbelhirn akzeptiere ich nicht! Was ist das eigentlich für eine Aussage! Das habe ich noch nie gehört! Schwabbelige Daten! Was sind denn schwabbelige Daten?!”
“Das müssten Sie doch am besten wissen! Da Sie daraus zu bestehen scheinen! Nicht wie meine harten Daten! Aber ich will mich nicht länger mit Nichtigkeiten aufhalten!”, versucht die Verlaufskurve für Blitzeinschläge das Thema zu wechseln.
“Nein! Das diskutieren wir jetzt aus!”
“Mit ihrem Schwabbelhirn scheint es leider unmöglich, das Schwabbelige von schwabbeligen Daten zu erfassen. Das wäre, als würde man versuchen, einen schwabbeligen Pudding an die Wand zu nageln!”.
Jetzt ist die Verlaufskurve der Geburtenrate so sehr angegriffen, dass sie schweigt.
“Jetzt hast du es geschafft! Du hast die Verlaufskurve für Geburten so sehr beleidigt, dass sie nicht mehr mit uns redet!”, sagt die Verlaufskurve für Insolvenzen leise zur Verlaufskurve für Blitzeinschläge.
“Ist wohl besser für alle, wenn Sie sich zurückzieht! Gibt schon viel zu viele Schwabbelköpfe auf der Welt!”, antwortet die Verlaufskurve für Blitzeinschläge, worauf nur ein Zustimmungslaut zurückkommt.
Mehr ist dann auch nicht zu sagen!
Bitte entschuldigen Sie meine Naivität – vielleicht bin ich auch nicht mehr als ein Steigbügelhalter, aber vor schwabbeligen Daten, deren Verlaufskurven so hysterisch reagieren, habe ich keine echte Angst – es ist irgendwas anderes – wobei ich nicht sagen kann, was es ist. Dafür habe ich einfach zu wenige Daten!
Andii Weber: Daten
Meine Armbanduhr zeigt 17:08 Uhr an, der Bus ist bereits zwei Minuten zu spät. Der Bahnhofsvorplatz wirkt übersichtlich: Eine Bushalteschleife, ein etwas in die Jahre gekommener Gasthof und irgendwo den Hügel hinunter die große Sehenswürdigkeit: Eine Pyramide aus Trinkgläsern, aufgestellt von der örtlichen Glasfabrik, um sich einen Platz im Guinnessbuch zu sichern. Über die Jahre sind mehr als ein paar dieser Gläser durch bloße Langeweile zersprungen, jetzt hat diese Dorf-Monstranz Löcher und Mäkel und sieht eher traurig als repräsentativ aus.
Ich schaue noch einmal auf den Busfahrplan; Abfahrt 6 nach, stimmt schon. Und sicherlich ist in den letzten 10 Minuten hier kein Bus abgefahren, das hätte ich mitbekommen. “Wo soll’s denn hingehen?” Eine krächzende, zigarettenrauchbelegte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende meinen Kopf vom Fahrplan ab und blicke in ein Gesicht mit grau-braunem Schnauzbart, einem Bluetooth-Headset und einer runden Nickelbrille, aus der ein gelbes und ein trübes Auge in unterschiedliche Richtungen herausschauen. Ich möchte nicht reden müssen, aber der knubbelige Mann schaut mich erwartungsvoll an. Vielleicht kann ich einen ortskundigen Rat gerade gut gebrauchen. „Nach Rottenbach, Tiefecker Straße.“ „Ah, da kannst du gleich bei mir mitfahren.“ Der Mann wippt nach vorn, bläst Rauch in die Luft und nickt in Richtung eines geräumigen VW-Busses. „Danke, aber ich glaube, mein Bus müsste gleich kommen. Den nehme ich dann einfach.“ – „Was für ein Bus ist das denn?“ – „Die Linie 13 nach Steigen am Berg.“ – „Ja, das ist meine Linie und wenn du die nehmen willst, steig ein, ich fahr jetzt nämlich los!” Weder der Mann noch das Gefährt sehen nach Linienbus aus: Die Duftbäume im Fenster, die Aufkleber mit Wildmotiven am Heck des Wagens, das schmierige Bluetooth-Headset am Ohr des Mannes, das schiefe Grinsen. Doch es ist bereits 10 nach, und Unpünktlichkeit widerstrebt mir so sehr, dass ich wortlos die Schiebetür des Wagens öffne und mich auf einen der Sitze installiere. Der Mann nickt, steigt ein, dreht das Radio auf und startet.
Zu meinem Erstaunen hält der Bus tatsächlich an jeder planmäßigen Haltestelle, wartet für einige Augenblicke und bewegt sich dann träge weiter zur nächsten. Manchmal stehen auch Menschen an der Bushaltestelle, doch sie scheinen nicht einsteigen zu wollen und blicken nur weiter die Straße hinauf, von wo der Bus herkam. So geht das viele Stationen lang. Ich presse meine Nase gegen die rußverschmierten Fenster und sehe den Schatten der Bäume zu, wie sie am Fenster vorbei getragen werden. Ein kleiner Bachlauf rauscht braun parallel zur Straße. Der immergraue Himmel scheint festgepinnt zu sein von den einzelnen herausragenden Bäumen an den wulstigen Steinkissen, die sich in die Laubhaufen hineinfragmentieren.
Eine eigenwillige Idee, mich in ein Jagdhaus einzuladen für ein erstes Date. Warum wohnt man in dem Alter wohl so weit draußen im 0? Aber auf eine Art passt es: Lili versteht es, durch eine bemerkenswerte Offenheit und punktuelle Informationslücken eine mysteriös vibrierende Aura um sich zu radiieren. Oft genug blinken die 3 Punkte unterm Namen stundenlang auf, die Schreibaktivität anzeigen, ohne Nachricht.
Der Bus fährt vorbei an einem verlassen wirkenden Grillhaus und hält dann schließlich. Der Bluetooth-Mann dreht sich eulengleich nach hinten um und bedeutet mir, auszusteigen. Ich blicke auf mein Handy. Unweit der Bushaltestelle muss es einen Eingang in den Wald geben. Der Pfad ist wurzelig, asynchron und windet sich um zahllose gefallene Bäume.
Nach etwa 23 Minuten (laut Google) muss ich den Weg verlassen, um das Haus zu erreichen. Ich vertraue der Triangel auf meinem Display, die mich bisher noch an jedes Ziel gebracht hat und biege ab Vorbei an gefallenen Bäumen mit tetraedrischen Schnittstellen. Auf einer Lichtung dann :::: Ein etwas in die Jahre gekommenes, doch durchaus hübsches Blockhaus mit einer kleinen roten Bank davor und einem Ziegenschädel mit Hörnern, der einen dreieckigen Schatten über die Tür wirft. Es gibt keine Klingel, mein Klopfen hilft nichts. Die Vorhänge sind zu. VVVielleicht gibt es ja einen Hintereingang. Aus der Rückwand kommen dicke, Rote Leitungen aus den Holzwänden und bohren sich wie Würmer in den tiefschwarzen Waldboden. Sind das Starkstromleitungen? Ich gehe wieder zur Tür und klopfe erneut. Es tut sich wieder nichts. Ich drücke die Türklinke hinunter, die Tür gibt nach und geht auf.
Innen riecht es transistorisch-klamm nach feuchtem Filz und angesengtem Plastik. Es ist außerdem erstaunlich warm, obwohl der Ofen nicht eingeheizt ist. Einige pixelige Ölbilder von Wildtieren hängen an der Wand, und am Boden liegen auf dem grünen Teppich Kabel, die von allen Seiten des Raumes Richtung Treppenaufgang laufen. Die Treppe selbst ist steil und klein und kaum benutzbar mit all den bunten Kabeln, die an ihr hoch ins Obergeschoss führen. Vor allem sind es diese gelben LAN-Kabel, die ich nur zu gut von meiner Arbeit kenne. Einmal hat der komplette Server meines Büros den Geist aufgegeben, und es hat mich mehr als 1 Woche gekostet, den Server wieder zum Laufen zu bringen. Das waren die schlimmsten Tage meiner bald 20-jährigen Karriere. In meiner Erinnerung bin ich tagelang damit beschäftigt gewesen, eben solche LAN-Kabel an- und abzuklemmen, bis ich das fehlerhafte Datenkabel endlich ausfindig gemacht hatte und durch ein neues ersetzen konnte. Es war nur ein 1 Meter langes Datenkabel, das meinen Hoheitsbereich, die digitale Infrastruktur meiner Firma und somit den gesamten Betrieb lahmgelegt hatte.
Die kleine Treppe scheint schier endlos weiter nach oben zu führen, und es werden mit jeder Stufe mehr Kabel um mich herum. Sie winden sich um das Treppengeländer, hängen von der Decke, und je höher ich komme, desto orientierungsloser werde ich. Lange Kabelkanäle knicken ab, führen wieder nach unten. Die Luft wird schwerer und trockener mit jedem Höhenmeter. Ich kann nun nicht mehr aufrecht die Treppe hinauflaufen, sondern muss mich immer weiter herunter bücken, dann schließlich kriechen aber ich suche ja nach nichts festem. Zunehmend verengt sich das Treppenhaus, die Kabel werden größer und dicker, entweder das oder ich werde immer kleiner und dünner. Ich koche gerne. Meine Uhr wird unerträglich heiß und die Ziffern spielen verrückt. Ich meine, neben all dem schmorenden Plastik nun auch eine Note von verbranntem Gras und Salbei zu riechen. Fieberoptik.
Welchen Menschen würdest du gerne einmal treffen (tot oder lebendig)? Da die Stufen nun Schicht um Schicht von Kabeln bedeckt sind, ziehe ich mich mit den Händen an ihnen empor ::: Sunken Cost Fallacy, eigentlich sollte ich umkehren. Ich steige weiter hinauf. Lili muss mich empfangen, ich bin extra diesen Turm hinaufgestiegen, das muss sie doch zumindest anerkennen. Strom zu Binärgold. Einen Kaffee nur, oder was man eben mindestens so macht, wenn ein Gast einen so langen Weg auf sich genommen hat. Schon lange kommt kein Tageslicht mehr in den Schacht doch tausende gelbe und grüne LED-Lichter morsen ein wenig Licht hinein. Die Profilbilder haben rostrotes Haar, manchmal burschikos und kurz, manchmal fällt es in wallenden rosskastanienfarbenen Lockensträngen bis tief den Turm hinunter ::: Ich werde immer unwichtiger und klettere weiter nach oben. Sie hatte sich als eher konservative Kreatur zwischen den haarfeinen Spalt ::: Entschuldigung für die Unterbrechung. Hier ist die Fortsetzung: weltoffene Träumerin. Neben den zu erwartenden Bands wie Alt-J, Deichkind und The XX fand ich auch Dimmu Borgir und Summoning im Spotify-Profil verlinkt, zusammen mit blinkenden Glasfaserlichtern. Ich bin weltoffen und träumerisch, es könnten nur noch ein paar Mikrometer sein, so hoch war das Jagdhaus doch gar nicht. Vegan, Nichtraucher, keine Kinder, will auch keine. Ich schlüpfte durch die Hohlräume, und immer größer wurde die Menge, die schiere Menge vor mir, hinter mir, unter mir. Untentop, Obenbottom, Switch, Master- und Slaveplatte. Keine Haustiere. Immer mehr Kraft ist nötig, um im Kabelknäuel voranzukommen. Meine Glieder werden kälter und kälter, meine Blutbahnen sind abgeklemmt. Es tut richtig weh, sich durch die haarfeinen Spalten zu pressen. Die Isolationen, die mich vom glühroten Kupfer trennen, werden immer dünner, erscheinen unwichtig —
Als ich die letzte Stufe übertrete, stehe ich am Bahnhofsplatz. 17 Uhr 6. Der Linienbus ist Pünktlich. Der einäugige Busfahrer nickt mir zu. Ich steige ein „Da bist du ja. Schön, dich endlich leibhaftig zu sehen.“
Katrin Rauch: Beichte
Ich letztens so: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
und der Pfarrer so: Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. Amen.
und ich so: Ich bin nicht ganz so sicher, ob ich das richtig mache. Meine letzte Beichte ist schon ein bisschen aus… Aber ich glaube, man sagt sowas wie: Ich bekenne vor Gott, dass ich folgende Sünden begangen habe:
Ich habe mal bei einer Senftube in der Mitte draufgedrückt statt hinten. Ich habe mit der Knopfleiste der Decke beim Gesicht geschlafen. Ich habe einmal eine Tasse auf der unteren Ebene des Geschirrspülers einsortiert. Ich habe meine Unterhosen nicht gebügelt und den Bettbezug auch nicht und die Geschirrtücher. Ich habe erst nach dem Staubsaugen staubgewischt und meine Bücher nicht sortiert, nicht mal nach Farbe. Ich habe mehrere Tage in Folge komplett im Sitzen gearbeitet, obwohl mein Schreibtisch höhenverstellbar ist und hab Feierabend gemacht, bevor ich alle E-Mails beantwortet habe. Ich habe letztens beim Auflegen am Telefon auf WiederSEHEN gesagt, jemandem die Hand hingestreckt, während die andere Person zur Umarmung angesetzt hatte, jemanden nochmal nach dem Namen gefragt, obwohl die Person ihn mir schon genannt hatte. Ich habe auf den Geburtstag meiner Oma vergessen UND auf den des Hamsters meiner Cousine. Ich kann mir überhaupt ganz schlecht Geburtstage merken.
Ich habe länger als drei Minuten mit warmem Wasser geduscht und das Wasser beim Haare einseifen einfach laufen gelassen. Beim Geschirrspülen hab ich das Wasser einfach laufen lassen. Beim Händewaschen hab ich das Wasser einfach laufen lassen. Ich habe unlängst etwas in Plastik Eingeschweißtes gekauft, obwohl es das im Unverpacktladen auch gegeben hätte und hab vergessen, dass es nicht meine alleinige Verantwortung ist, das Klima zu retten. „Jeder Einkaufszettel ist auch ein Stimmzettel.“ Ich hab‘s letzten Samstag schon wieder nicht auf den Bauernmarkt geschafft und kann mir dort den Käse nicht mehr leisten.
Ich gebe mehr als 50% meines Einkommens für meinen Wohnraum aus. Ich bin finanziell vom Staat abhängig. Von meinem Einkommen geht keine Steuer ab, weil es zu wenig ist. Ich kann meine Kinder nicht auf die Sprachreise schicken, auf die die ganze Klasse fährt, und zum Abendessen gibt es s-Budget Steinofen Weckerln zum Fertigbacken und Wasser. Ab und zu gönnen wir uns einen Burger vom Mäci um 1,40. Ich habe einfach keine Zeit, frisch zu kochen.
Ich bin der ganze Twitter-Tread: „What’s considered trashy if you’re poor, but classy if you’re rich?“, die Kinder von jemandem anders großziehen lassen, ein richtig altes Auto fahren, tagsüber saufen, Junkfood essen, keinen Job haben, den Wohnort wechseln, weil woanders die Lebensbedingungen besser sind und die Antwort: „Im Grunde alles.“ Ein Kind sein, alt sein, ein Mann sein, eine Frau sein, keins von beiden.
Ich habe noch nie ein Schild gebastelt, auf dem ein lustiger Demospruch steht, wie zum Beispiel: „Nazis essen heimlich Döner!“, oder „Remigriert euch ins Knie!“, oder „Kein Sex für Nazis!“, oder „Mehr Geschichtsunterricht für Nazis!“, oder „Lebe stets so, dass die FPÖ etwas dagegen hat.“ oder „Ich bin so wütend, ich hab sogar ein Schild gebastelt!“. Ich war zu wenig wütend, um ein lustiges Schild zu basteln. Alter, ich war zu wenig wütend, um überhaupt ein Schild zu basteln. Ich fühle mich offenbar zu wenig betroffen von der Aushöhlung des Sozialstaats, von der klaffenden Vermögensverteilung, von der neoliberalen Leistungslüge, von Heterosexismus und Patriarchat, von Hate Speech und Hetze. Ich bin nicht betroffen von Armut oder rassistischen Deportationsfantasien, aber damit ich mir nicht ganz so privilegiert vorkommen muss, habe ich letztens nachgerechnet, ob ich zur Mittelschicht gehöre und war zufrieden, als untere Mittelschicht das Ergebnis war.
Ach ja, und fast vergessen: Ich bin aus der Kirche ausgetreten.
Das sind meine Sünden. Es tut mir von Herzen leid, dass ich Gott beleidigt habe, i guess…
und der Pfarrer so: Im Namen Jesu: Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Jetzt kannst du in Frieden gehen. Amen.
Matt S. Bakausky: Babel 2.0
Auf einem Mülleimer in der Fußgängerzone steht ein bärtiger Mann und ruft:
„Das Ende ist nah! Das Erschaffen der künstlichen allgemeinen Intelligenz ist der zweite Turmbau zu Babel! Es ist unsere zweite Vertreibung aus dem Paradies! Es ist unser Ende! Aufsichtsräte von OpenAI wollen die Firma plattmachen, bevor es zu spät ist! Sie sind sich ihrer Schuld bewusst! Das ist das Ende unserer Existenz als Menschen! Es bleibt nicht mehr viel Zeit! Experten schätzen, dass uns noch sieben Monate bleiben! Finde jetzt zu Jesus Christus, bevor es zu spät ist! Der Papst spricht von einer aufkommenden technologischen Diktatur! Nur Jesus kann dich erlösen! Schalte jetzt die Maschine ab, bevor sie dich abschaltet! Dies ist keine Übung! Sprich mir nach: Ich bin ein Sündiger! Ich will Jesus Christus in meinem Leben! Die künstliche Intelligenz kann dich nicht erlösen, nur Jesus kann das. Das Ende ist nah!“
Ich bin dieser bärtige Mann. Die meisten Menschen lachen über mich. Sieben Monate später wird niemand mehr darüber lachen. Das Lachen wird ihnen im Hals stecken bleiben. Da bin ich mir sicher.
Ella:r Gülden: Leehrstellen
Die allermeisten der vorzeitig gealterten Jugendlichen stehen etwas verloren am Geländer, das die Hofeinfahrt begrenzt. Einige wenige lehnen lässig an der Hauswand des Gebäudeteils mit den Verwaltungsbüros. Dort waren alle schon mal, zwecks Papierkram. Ein gerade zugezogener Lamellenvorhang verhindert, dass sie sich beobachtet fühlen müssen. Das repräsentative Vordach wirft einen mehrere Meter langen Schatten. Es ist noch nicht ganz Sommer, aber warm genug, sich hier wohler zu fühlen als auf einer sonnenexponierten Fläche. Auch die Kiste Apfelschorle muss vor Sonneneinstrahlung geschützt werden. Manchmal gibt es auch Eistee oder Spezi, beides pro Flasche zwanzig Cent teurer. Aus dem Abfalleimer quellen Verpackungen von Fleischsalat und Kartoffelsalat, teils nicht ganz restentleert. Knapp die Hälfte raucht, ein Aschenbecher ist über dem Abfalleimer angebracht. Noch elf Minuten Mittagspause.
Die Doppelkeksrolle ist wider Erwarten bereits leer. Er wirft sie auf den Haufen hinter der Tür. Unter dem Rucksack mit dem kaputten Reißverschluss entdeckt er eine Pralinenschachtel. Schade, ohne Alkohol. Cappuccino- Trüffel, immerhin. Noch zwei drin. Bröckelig und schmecken fad, egal. Er will sich aufrichten und sieht schwarz. Er atmet tief durch und zieht sich an der Türklinke nach oben. Er muss raus, doch es ist schwer. Im Türrahmen hält er noch kurz inne. Weiter ins Bad. Endlich diesen Durst loswerden. Wasser, kaltes. Wohltuend. Er trinkt gierig aus der hohlen Hand. Hält den Kopf unter den Wasserstrahl. Heute ist kein schlechter Tag. Noch drei Bewerbungen.
Jörg Hilse: Cosplay
Manche Bewohner Leipzigs schütteln sicher den Kopf, wenn während der Buchmesse wieder so ein Trupp seltsam bunt gekleideter, teilweise recht aufwändig frisierter und geschminkter Gestalten aus dem Hauptbahnhof herauskommt , um in Bahn in Richtung Messegelände zu steigen.
Cosplayer sagt erklärend der eine, ach das ist doch alles Schrott meint der andere. Aber ist die ganze Sache wirklich nur Trash oder steckt nicht diese alte unauslöschliche Sehnsucht dahinter, jemand anders zu sein als man im Leben ist. Tut ein im Verein organisierter Modelleisenbahner, der natürlich nicht damit spielt( !), sondern Fahrbetrieb macht nicht irgendwo das Gleiche? Nur eben ohne Bahner-Uniform ?
Die Dienstbekleidung hat bei der Bahn übrigens die interne Abkürzung UBK und es gibt sogar eine vorgeschriebene Trageordnung.
Bei Victor Schuster befand sie sich seit kurzem im Kleiderschrank , denn er war neuerdings bei der DB angestellt, doch daneben hing auch etwas, das kaum jemand in seiner Garderobe vermuten würde. Der Kimono von Suguro Geto, einer Figur aus Victors Lieblings- Serie Jujutsu Kaisen, einer japanischen Manga- Trickfilm- Reihe. Schon als Kind war Victor einer von den Stillen gewesen, der viel las, um sich dann mit seinen Lego- Steinen eigene Welten zu erschaffen. Schließlich trat eines Tages ein Zauberlehrling auf den Buchmarkt, der den vom alten Goethe um unendliche Längen schlug. Ein Typ mit Nickelbrille und einer seltsamen Narbe auf der Stirn, erdacht von einer Frau die einmal Klassische Altertumswissenschaft an der Universität von Exeter studiert hatte. Er hieß Harry Potter. Und dessen Schulfreund Ron Weasley wurde zu Victor Schusters alter Ego. Er erinnerte sich nicht mehr, wann und zu welchem Anlass er das erste Kostüm bekam . Wohl aber an das Gefühl, als er es anzog. Er fühlte sich frei. Frei der zu sein, der man sein wollte, losgelöst von jeder Fessel, die die Regel der Normalität einem anlegten. Und die Freude daran blieb bis zum heutigen Tag. Ereignisse die andere begeisterten wie zum Beispiel die Bundesliga interessierten ihn nicht die Bohne. Heute Morgen rief allerdings wieder mal die Pflicht. Sein Wecker klingelte kurz vor 5 Uhr früh und er zog die Bahner Uniform an. Dann stieg er ins Auto, fuhr zum Bahnhof und meldete sich im Fahrmeister-Büro zum Schichtantritt für den Frühzug nach Brüssel. „ Morgen Victor “ sagte Karl, der dort hinter einem der beiden Computerbildschirme Dienst tat. „ Dein Restaurantleiter steigt übrigens erst in Köln zu, bis dahin bleibt das Bordbistro geschlossen, hast also erst mal Gastfahrt.“ „ O.K. sagte Victor und hörte wie Karl ihm noch „Gute Schicht“ zurief, als er die Tür schloss. Schnell noch einen Fünferpack Bonrollen mitnehmen, bevor die wieder alle sind, dachte Victor. Gesagt, Getan und kaum das sie im Rucksack verstaut waren machte er sich auf den Weg zum Gleis um in den ICE nach Brüssel zu steigen. Eine Stunde später, in Köln kamen seine zwei Kolleginnen und eine von beiden öffnete die Tür zur Bordküche. Victor sagte Hallo und eine der beiden fragte: „ Bist Du unser Stewart 3 ? Kannst Du den „ Am Platz Service“ für die erste Klasse übernehmen? „Ja, klar“ antwortete Victor, bereitete drinnen die Kaffeemaschine vor und bekam den üblichen Zettel mit dem Code zum Starten des Kassensystems. Währenddessen hatten zwei etwas eigentümlich aussehende Gäste im Restaurant Platz genommen. Der Erste war ein älterer Mann mit spitzem Vollbart in einer Art Kostüm das wohl aus dem Spätmittelalter stammte zu dem er eine weiße Halskrause trug. Einen Tisch weiter, saß ein schwarz gekleideter junger Japaner der eine runde sehr dunkle Sonnenbrille trug. Perfektes Outfit für die Figur von Saturo Gojo aus Juijutsu Kaisen dachte Victor als er zu dem Gast hinüber sah. Kurz darauf, der Zug hatte gerade Aachen verlassen und Victor kam mit ein paar Bestellungen aus der 1. Klasse zurück, als etwas völlig Unerwartetes passierte. Zuerst hörte er den entsetzen Aufschrei von einer seiner Kolleginnen aus der Bordküche, gefolgt vom Geräusch zu Boden fallenden Geschirrs. Während beide wie von Sinnen mit der Zugbegleiterin in Richtung Dienstabteil rannten um sich drinnen zu verbarrikadieren, sah Victor was sich gerade ereignet hatte. Der Kopf des spitzbärtigen Mannes lag, wie mit einem unsichtbaren Scharnier zur Seite geklappt, quer auf seiner Schulter. Und aus der völlig frei liegenden Halsöffnung heraus, ragte ein halbes Stück Schinken- Käse- Baguette, welches der unheimliche Gast mit Hilfe einer Gabel tiefer hinein zu schieben versuchte.
Erstaunt sah Victor zu und ihm dämmerte, wen er da möglicherweise vor sich hatte. Nachdem der seltsame Restaurantbesucher mit einer einzigen Handbewegung seinen Kopf wieder in die alte Position gebracht hatte, fragte Victor: „ Vielleicht noch etwas Tee, Sir Nicolas? Dann rutscht es besser.“ Sie kennen mich?“ fragte der Fremde.“ „ Ja, Sie sind Sir Nicolas de Mimsy Porpington, Hausgeist von Gryffindor aus der Zauberschule in Hogwarts.“ antwortete Victor. „ Es ist sehr freundlich von ihnen mich nicht mit diesem hässlichen Spitznamen „ Der fast kopflose Nick“ anzureden “ erwiderte Sir Nicolas. „ Ach ja, mein Schicksal“ klagte er dann. „ Nun hat mir doch neulich der gute Professor Filius Flitwick einen Zauberspruch verraten, wie ich trotz meiner Geisterexistenz Speisen zu mir nehmen kann. Und wieder funktioniert es nicht richtig. Wie Sie wissen ging ja schon meine Hinrichtung, übrigens ebenfalls wegen eines missglückten Zauberspruchs schief und mein Kopf wurde mir nicht komplett abgetrennt. Inzwischen erreichte der ICE ohne vorherige Ansage durch das Zugpersonal, den Bahnhof von Lüttich. Es war also nicht mehr weit bis Brüssel.
Victor klopfte schließlich an die Tür. „ Soll ich den Gast mit dem Schinken- Käse- Baguette abkassieren?“ fragte er dann. „ Mach was Du willst, sag uns einfach nur Bescheid wenn der gruselige Typ aussteigt“ hörte er die verängstigte Stimme seiner Restaurantleiterin von drinnen. O.K. antwortete Victor und staunte anschließend nicht schlecht, das die Kreditkarte der Gringott’s Bank problemlos auf seinem Kartenleser funktionierte. Fast pünktlich erreichte der Zug die Endstation Brüssel Midi und Sir Nicolas de Mimsy Porpington entschwebte in Richtung Eurostar nach London. Victor Schuster klopfte an die Tür vom Dienstabteil. „ Er ist weg, ich geh mal kurz raus auf den Bahnsteig“. „ Gottseidank, komm aber rechtzeitig wieder“ hieß es erleichtert von drinnen. Draußen stand auf einmal der schweigsame Japaner neben ihm. Seine dunkle Sonnenbrille hatte er gegen eine schwarze Augenbinde ausgetauscht. Und Victor hatte plötzlich die Gewissheit dass, auch er kein Cosplayer war.
„ Da Du gewusst hast wer er war, weißt Du bestimmt auch wer ich bin, nichtsdestotrotz hier ist meine Karte“ sagte der Fremde. Victor nahm sie an sich und stutzte dann doch.“ . „Saturo Gojo, Jujutsu Akademie Tokio“, stand in japanischen wie auch lateinischen Buchstaben auf der Visitenkarte. „ Was wollt ihr denn ausgerechnet von mir?“ fragte Victor gespannt . „ Ich hab einen Job für Dich“ antwortete ihm der junge Mann mit der Augenbinde.
„ Die Akademie sucht einen Gefahrenstufen- Analysten für europäische Fluchgeister und sonstige Phänomene. Wenn Du einverstanden bist, schreib einfach eine Mail an die Adresse auf der Rückseite der Karte. Das Flugticket schicken wir Dir dann.“ Einen Tag nach der Ankunft in Frankfurt schickte Victor die Mail nach Tokio und brach zwei Wochen später auf ins Land seiner Träume, Japan.
Jammerschade , finden manche seiner Kollegen bei der Bahn.