Tibor Baumann: Volition – brennt hinter dem Rubikon

Er sagte: „nun“ Es gibt keine Entschuldigung. Ich erinnere mich gut, plastisch. Die Sonderausgabe wog schwer, limitiert, Fadenbindung. Es ist nur ein Schritt über den Fluss ohne Wiederkehr.
Wussten Sie: Es wird ein System entwickelt, um Autoren pro angefangener Seite zu bezahlen. Flatratelesen. Spannung ist die Motivation. Wie oft ein Spannungsmoment aufgebaut werden muss, wie viele Zeichen es braucht, bis der nächste Coitus Interruptus stattfinden muss, errechenbar. Dann schreibt man nur mit Ziel; Volition, klar so weit?
Mir war das nicht klar. Es tut mir so leid. Ich hatte schon immer Angst, dass ich einfach so – eines Tages – versuche sanft umzublättern, ein mir ganz kostbares, geliebtes Buch, eine Sonderausgabe; und ich bekomme einfach die Seite nicht zu fassen. Es geht einfach nicht. Und dann stehe ich auf, ganz ruhig. Stelle das Buch an seinen Platz, gehe hinaus – und zünde das Haus an.
Wussten Sie: zu verfassen kann sich an keinen Zweck binden außer der Tat. Klar soweit? Es ist nur ein Weg – nur Motivation; nie Volitation!
Und er…er sagte „nun“. Eine Phrase. Weniger! Eine Hülse; nur noch Betonung.
Ereignisse geschehen immer, wenn man sie liest. Aber verfasst man sie, ist es eine Tat: Ich hätte das nicht tun dürfen. „Nun“ – eine kalte Nadel durch weiche Membran. Mein Schritt über den Fluss.
Wussten Sie: für mein erstes Manuskript, haben sie mir angeboten, es zu beobachten. Das wilde Tier. Frei verfügbar auf einer Literaturplattform. Klar soweit? Klickklickklick – klickt es oft, dann ist es gut. Vielleicht druckwert. Neoliberalliteratur.
Er sagte „nun“ – und es klang beinahe antiquiert. Umblättern, zivilisiert, mit Ziel, kontrolliert: Das entglitt mir. Nur für einen kurzen Moment. Ich fühlte mich, als würde ich ganz plötzlich, ganz schnell meinen Kopf schütteln; so schnell, das ich nur noch ein Farbklecks bin – ohne, dass ich damit begonnen hätte. Ohne Anfang. Nur die Tat. Nur im Verfassen. Nur verfassen und suchen. Nur erfassen und die Ungreifbarkeit des Moments akzeptieren. Die Seite loslassen. Den Fluss ohne Umkehr übertreten.
Ich habe den Entwurf erklärt und er sagte: „Das klingt ja alles sehr spannend – wer ist denn nun die Zielgruppe?“
Ich habe das Buch genommen, bin zu ihm hinter den Schreibtisch – und habe ihm die Sonderausgabe so lange ins Gesicht geschlagen, bis die Treffer klangen wie Schritte im Matsch am Flussufer.
Es hat gebrannt und ich habe kein Wasser geschöpft um zu löschen.

Andii Weber: Beim Augenarzt

„Immer wenn ich auf die Straße gehe, werden meine Augen feucht!“

„Das kenne ich, das kenne ich!“

Der Augenarzt hat Ihren Kopf an einem mannshohen Gerät festgeschraubt. An den Schläfen ist eine Art Schraubstock befestigt, an dem er stetig dreht, bis sie den Schädelknochen knacksen hört. Sie will schreien, stöhnt dann aber nur kurz.

„Sie stöhnen. Vielleicht bedrückt sie ja etwas? Das könnte schon ein Hinweis sein. Sind sie traurig?.“

Sie kann nicht antworten, da ihr Kopf nun vollständig fixiert ist.
Jetzt hat der Arzt sie genau da, wo er sie haben wollte.

Vor ihren Augen tut sich etwas. Sie kann nicht erkennen, was es ist, da die Gerätschaften außerhalb des Schärfebereiches ihrer Augen liegen. Wir hingegen wissen, dass der Arzt eine Nadel in ihr Auge führen wird, um Gewebeproben der Netzhaut zur weiteren Untersuchung zu entnehmen. Für ihn reine Routine.

„das wird jetzt kurz pieken“

Und dann fühlt es sich genauso an, als ob man eine Nadel in das Auge einführt, um Netzhautproben zur weiteren Untersuchung zu entnehmen.

Der Arzt braucht drei Anläufe, bis er die richtige Stelle trifft.
Nach jedem Fehlversuch lacht er überaus laut auf, um seine Verlegenheit zu übertünchen. „Haha! Da bin ich wohl etwas unkonzentriert heute. Naja, dann halt nochmal.“

Die Prozedur wiederholt sich auf dem anderen Auge.
Der Arzt verlässt zum Zwecke der Netzhautuntersuchung den Behandlungsraum. Der Kopf bleibt fixiert, nur für den Fall.

Da sie aber den besten Augenarzt der Stadt ausgewählt hatte, war er schon nach zweieinhalb Stunden wieder im Behandlungsraum, mit blutiger Metzgerschürze und brandaktuellen Ergebnis:

„Also eines lässt mit bestimmter Sicherheit sagen: Sie sind nicht traurig. Sie können mir das ruhig glauben, ich bin Augenarzt.“

Andii Weber: Paratext

Dieser Text ist eine scharfe Analyse, ein herrlich leichter Abgesang auf den Zauber der Jugend. Und vor allem: Schön geschrieben. Auch der Textsatz ist recht gelungen. Scheinbar leichtfüßig füßelt er zwischen Pop und Avantgarde und kleidet sich dabei zuweilen in windige Allegorien auf die große Freiheit aber auch den goldenen Käfig des Lebens.
Große Kunst, wer mit so wenigen Worten so bildgewaltig die kleinen Gefühle auf das Textblatt machen kann. Mystifiziert der Text das Leben? Wahrscheinlich. Übermystifiziert er es? Vielleicht auch, ja.
Der Text könnte auch eine Anspielung sein. Auf Alles. Er verbirgt sich zwar selbstunsicher hinter einem prätentiösen Schleier eingeschobener und entstellter Zitate
“Was uns micht unbrimgt. macht und mur stärker” (Niesche)
und unwichtigen Einschüben
Heute Abend im Bus ist mir eingefallen, dass ich ja noch einen Text schreiben wollte. Es war ganz komisch. Auf einmal war da so ein Gedanke an einen Text, der von nichts anderem , als sich selbst handeln soll. Wie schön wäre das bitte, noch nie hatte ich eine bessere Idee gehabt. Wirklich. Beim daran denken, dachte ich aber auch, dass es eine ganz und gar furchtbare Idee war, aber das würde sich dann schon im Schreibprozess legen.
Ich fing also an, während der Bus, der voller Smombies war, ein Wort, dass sich windige Sprachwissenschaftler, die zu allem Überfluss – aber was ist schon Überfluss? – sich auch noch, zur reinen Distinktion, als, man höre und staune, Jugendsprachexperten bezeichnen, an Glascontainern, die, natürlich, wie sollte es auch anders sein, zum Bersten gefüllt waren, vorbeiholperte, während … jetzt habe ich den Faden verloren. Wo waren wir noch gleich?
die den Textfluss extrem hässlich unterbrechen, aber das wollen wir, und damit meine ich uns Sprecher*Innen, dem Text gerne verzeihen.
Man spürt eine Müdigkeit beim Vorlesen des Textes, die lustig zwischen den lakonisch hingeschmierten Zeilen mitschwingt. Auch wenn ich versuche, den Text besonders spannend auszuacten, er ist einfach so dermaßen dröge und belanglos, dass er sich zu nichts formen lässt.
Ging es am Ende nur darum, ein Paar Worte hinrotzen um möglichst schnell möglichst viel Zeilengeld zu kassieren, um dann endlich an sich rumspielen zu können? Wollen wir das nicht alle? Ist es nicht so, dass das Zeilengeld das täglich Brot des kleinen Mannes ist, der großen Frau? Dieser Text stellt uns viele Fragen. Er ist aufwühlend und belanglos zugleich.
Zurück zur Banalität des des Künstlerlebens: Ein Käsebrot kündigt den scheiternden Wendepunkt dieses Textes an. Es liegt auf einem Teller irgendwo im Text herum und der Käse beginnt langsam, harte Ränder zu entwickeln. Iss schon. Iss das gute Käsebrot, dass du dir selbst geschmiert hast. Und es ist schön geschmiert. Hunger, ich habe so einen Hunger! Immer diese animalischen Triebe, sie ziehen sich quasi als Leitmotiv durch den gesamten Text. Aber echte Kunst entsteht ja auch nur mit leerem Magen, insofern scheint dies wohl genial zu sein. Eigentlich ganz cool.
Und was dann geschah, brachte mich wirklich zum staunen: Obwohl es eigentlich noch weitergeht, höre ich an dieser Stelle einfach auf, vorzulesen.
Toll geschrieben!

Andii Weber: Eine kleine Erlösungsgeschichte.

„Erst aussteigen lassen, dann einsteigen!“ hat sie gesagt, dann schob sie sich in den Bus, noch bevor sich die Türen geöffnet hatten.
Der  Busfahrer hat eine goldene Feder am Ohrläpppchen. Er befreit sich unter Aufbietung von Kräften aus seinem Busticketkäfig und holterdipoltert den Gang entlang zur Türe des Fahrzeugs. Er stöhnt kurz, zieht an zwei kleinen Metallösen im Boden und klappt eine Zugbrücke aus Eichenholz nach außen.
Der Rollstuhlfahrer betritt den Raum [Applaus].
Busfahrer ab.
Aus der hinteren Ecke, da wo die Coolen sitzen, löst sich unvermittelt ein Schrei: „Hey! Der ist ja querschnittsgelähmt, das ist voll schlimm!“ [Lautstärke: Ü30] „Ich hab immer voll Mitleid mit diesen Typen, Ey!“ Es schallt durch den Bus. Draußen blinkt der Schnee blau. „Alter, kann ich dir helfen? Du tust mir voll Leid, Digger!“
„Ich glaube, das ist nicht nötig, guter Mann: Man steht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Füße unsichtbar.“
„Wow! Das ist aus dem einen Buch, dass mir meine Mutter immer zum schlafen vorgelesen hat, gell? Die Blechtrommel, oder? Alter, du bist ja  voll krass drauf!“
Dann sehe ich aus dem Augenwinkel ausgestreckte Hände, die den Rollstuhlfahrer an der Stirn berühren.
Kurze Stille, gefolgt von Jauchzen und Frohlocken.
„Ein Wunder! Ich kann wieder sehen! Oh, welch unbeschreibliches Glück!“
Der Rollstuhlfahrer steht auf und moonwalkt aus dem fahrenden Bus.

Peter Momberg: Helden

Radio hat mich gefragt wer mein Vorbild ist.
Mein grosses Vorbild ist Christian Grey. Habe gelesen Bücher eins bis drei, in denen er sein Leben als Multimillionär beschreibt. Er hat viele Freunde aber im Herzen will er nur eine Sache: Liebe.
Das ist wie bei mir. Mombi möchte auch Liebe. Ich möchte geliebt werden, aber keine will mich lieben.
Christian Grey hat es aber geschafft, weil er ein Firmen Impernium besitzt, sehr sportlich ist, Hubschrauber fliegen kann und ein total kranker Mann ist.
Darauf stehen die Frauen, das zeigen Bücher.
Er heiratet und bekommt viele Kinder.
Ich weiß nicht wo ich anfangen soll. Mein Firmen Impernium ist pleite gegangen, Mombis Maulbomber sind die Maultaschen der Zukunft gewesen, aber nicht von heute. In Summe keine verkauft, schlechter Deal. Sportlich bin ich auch. Hubschrauber ist mein Onkel Costa-Raul in Vietnamkrieg geflogen. Er ist viel Hubschrauber geflogen.
Weil wir so viele Ähnlichkeiten haben ist Christian Grey mein Vorbild. Ich möchte so werden wie er. Er ist mein Stern am Himmel. Wenn ich nicht weiß, was ich kann, frage ich mich, was hätte Christian Grey jetzt gemacht. Wenn ich nicht weiß wer ich bin frage ich mich, wer ist Christian Grey. Wenn ich meinen Körper hasse frage ich mich warum Christian Grey so einen schönen Körper hat.
Er ist der starke Mann von heute.
Ich bedanke mich außerdem bei meinem Freund Mats Hummels für die Unterstützung die er mir in schweren Zeiten gegeben hat. Danke.

Nicolai Hagedorn: Unwahre Alltagsschurken

Häufig hört man, wirkliche Helden seien Leute, die unbemerkt Großes leisten.
„Held des Alltags“ kann demnach im Grunde jeder werden, der sich irgendwie nützlich macht. Besonders „stille“ bzw. „wahre“ Helden sind beliebt und wer nach ihnen Ausschau hält, findet sich bald in einer Stadt wieder, von der man nur hoffen kann, sie hätte keinen solchen, deren „Mannheimer Morgen“ aber meldet, es reichten oft „kleine Gesten, die Menschen zu Helden des Alltags – und damit zu „Kavalieren der Straße“ – machen.“ Kavaliere der Straße? Jepp, sagen die Mannheimer, man habe bereits über 60.000 als solche ausgezeichnet, sogar zwei Frauen (Eden und Lisa), die einmal ein entlaufenes Pferd eingefangen hätten. Es gibt auch eine FIT FOR FUN-Heldin des Alltags (70 Kilo abgenommen), Wuppertal hat einen „Alltagsheld in Fußballschuhen“, die Schreibwarenfirma „odernichtoderdoch“ vertreibt einen „Schreibtischorganizer A4 Alltagsheld“ und galileo.TV kürte kürzlich den „Gummihandschuh“ zum Alltagshelden, weil er „so widerstandsfähig“ sei: „Saubere Hände, griffige Finger, sterile Operationen: Das alles geht am besten mit Gummihandschuhen.“
Alles in allem, die Auflistung zeigt´s, sind Alltagshelden eigentlich Idioten. Wo und wann immer es hoch her geht, kommen sie angepacet und sorgen für Ruhe und Ordnung auf dem Schreibtisch, ziehen Verkehrsleichen aus den Straßengräben und nehmen dabei dutzende Kilo ab. Mannheim hat derweil offenbar eine Armee von 60.000 Vorbildern aufgestellt, die die Schurken des Alltags durch ihre einzige Superkraft „Schlechtes Gewissen machen“ besiegen sollen.
Ich hingegen bestelle hier noch ein Bier, bevor ich um vier Uhr morgens lärmend durch die Anwohnerschaft bösewichtern, lächelnd die angefahrene Omi auf dem Zebrastreifen liegen lassen werde, um endlich und schnurstrack zur Arbeit, nämlich ins Uniklinikum zu fahren, wo ich ohne Gummihandschuhe die anstehende Transplantation (war es Niere?) durchführe.
Prost am Tisch.

Horst Schulze Entrum: Wie ich das Ozonloch stopfte

Der folgende Text ist mein allererster Action-Text. Und deswegen wollte ich den eigentlich mit der Synchron-Stimme von Robert De Niro sprechen. Aber das darf ich nicht. Reine Rechtefrage. Der Text heißt:
Wie ich das Ozonloch stopfte
Irgendwo da oben musste ein großes Ozonloch sein. Ich beschloss, es zu stopfen. Doch ich war wohl wieder mal ganz auf mich allein gestellt: Im neuen Y-Heft fand ich so schnell kein passendes Gimmick, und auf meine alten Freunde Chuck Norris und Bruce Willis musste ich verzichten. Denn die sind nur reine Fiktion und werden selber von richtigen Schauspielern gespielt.
Aber zum Glück hatte ich noch ein paar olle Edeka-Tüten, eine Packung abgelaufener BigBen-Kondome und die Perlmutt-besetzte Badehaube meiner Omma. So eine Erdenrettung muss gut vorbereitet werden.
Deshalb besorgte ich mir beim Praktiker auch noch eine Leiter, ein günstiges Set Inbus-Schlüssel und eine Tüte Gummibärchen. Die Leiter benötigte ich zum Besteigen, die Inbus-Schlüssel waren einfach nur günstig – ich würde sie nie im Leben benötigen. Und Köttbullar gibt es halt nur bei Ikea, und die verstopfen bekannter Maßen alles – nur bei Ozonlöchern machen die irgendwie schlapp.
Oben auf der Leiter tackerte ich erst einmal alle Edeka-Tüten zusammen. Das war gar nicht so leicht wie sich das jetzt wieder so anhört, weil bei diesem Billig-Tacker jede zweite Klammer völlig verbogen herauskam. Ich hatte ihn bei einem Preisausschreiben meiner örtlichen Volksbank gewonnen, doch nun war es zu spät, ihn zu reklamieren. Da ist die Volksbank immer ganz hartkackig.
Bei stumpfen Anspitzern sind die völlig kulant. Aber wenn man den Tacker einmal benutzt hatte, gilt für die das Verursacherprinzip. Und auf einen langwierigen Rechtsstreit wollte ich es diesmal nicht drauf ankommen lassen; meine einstweilige Unterlassungs Klage gegen Volksbank-Luftballons, mit denen man keine Furzgeräusche machen kann, zieht sich jetzt schon 16 Jahre hin.
Und hier oben auf der Leiter lief mir einfach die Zeit weg. Sie krümmte sich sogar bereits, weswegen ich Einstein auch nur eine kurze SMS schickte: „Albert, alter Schweizer, die Achse krümmt sich tatsächlich.“
Die Edeka-Tüten hielten prima. Aber in meiner Euphorie muss ich mich einfach vertackert haben. Über Afrika gingen mir plötzlich die Kondome aus.
Ich versuchte es mit Laminat. Bei den Stammzeiten hatte ich damals höllisch aufgepasst: lamino, laminas, laminat. Aber damit die ganze Sache auch dauerhaft hielt, benutzte ich sicherheitshalber das Futur Eins: Laminabo. Und über der Schweiz den Imperativ; Laminate: Ihr schichtet. Warum? Ich weiß es doch auch nicht. Wenn man auf einer Leiter im Weltall steht, macht man sich als allerletztes Gedanken darüber, ob sich das so souverän gerettete Publikum auch mal mit einer faden Pointe zufrieden geben könnte.
Glücklich, wenn auch ein bisschen geschafft, stieg ich schließlich wieder zur Erde hernieder, wo wir Menschen wohnen. Und da sah ich, dass ich versehentlich den gesamten Mond in ein fluoreszierendes BigBen-Kondom einlaminiert hatte: Jedes Mal wenn der alte Knabe abnahm, wurde auch die terrestrische Schutzhülle kleiner.
Doch das beweist wieder mal nur eins: Kondome sind nicht immer sicher. Und der Mond leuchtet nur, weil die Sex-Industrie die grandiose Idee hatte, erigierte Schwänze in attraktive Selbstleuchter zu verwandeln.

Natalia Breininger: Neon

Ich frage die Katze, ob sie genug gekotzt hat, ja, meint sie, aber ich noch nicht; mein Hals ist geschwollen, die Nase läuft, Hartz IV bald auch; irgendwie ist alles kaputt und angeschlagen, abgeschlagen, mit Lichtern und Raumfahrten dazwischen, Größenwahnphantasien und Existenzängsten, Beziehungswracks und unrealisierter Romantik, ich bin – so viele, dass ich es gar nicht halten kann, und draußen sind – so wenige: wer klopft an die Tür, der klopft an die Tür, ich gehe in Tangenten die Welt ab, Entropien wie Berge um mein Gehäuse, ich esse die Suppe, weil ich muss, und wache auf, weil ich nicht anders kann – nach dreißig stellt sich der Sinn plötzlich tot, und ich weiß nicht, ob das schlecht ist – am Nullpunkt ist immer Ruhe, die besser scheint, als Amplituden der langweiligen Wiederkehr: Karriere machen, fragt mich einer, nein danke, antworte ich, ich wüsste nicht, worin und wozu, zudem niese ich ständig, oder bin kopfkrank, und nur die Sonne geht unter und ist schön und wieder auf und ist noch schöner, das ist alles, was sich zu sehen lohnt, und mit den Spatzen die Krümel zu klauen, und irgendwie zuhören zu können, ohne eine Strafpredigt zu halten, da zu sein, ohne nachlässige Ignoranz oder falsche Leichtigkeit – in Armut lebt es sich schwerer, aber auch ehrlicher, das Finanzamt zieht mir den letzten Teppichboden unter den Füßen weg: wie stellen die sich das eigentlich vor, wovon du leben sollst, fragt eine Freundin, ja, sage ich, weiß ich auch nicht, gar nicht wahrscheinlich – vor mir Berge und Mondkrater, über die ich zu lugen versuche: nur nicht unsichtbar werden, zurückgeworfen ins Negativ, auf sich aufmerksam machen, auch wenn der Globus vor meinen Augen riesig erscheint, ein Kreuz setzen, in Merkels Gesicht, um ihm klar zu machen: so nicht, meine Liebe, du hast keine Ahnung davon, wie wir leben, wer wir auch immer sein mag – die Verlassenen, Geflohenen und Entstellten, die Alten und die unglückseligen Künstler, die Hebammen oder einfach die mit einem vaginalen Loch zwischen den Beinen – was auch immer du mir erzählst, du kennst das Leben nicht, wo du Dostojewski liest und mit dem Masterabschluss putzen gehst, auf halben Stellen, wie halben Stühlen sitzt, desinteressiert und krank; ich weiß doch auch nicht, was mit meinem Körper los ist, oder mit meinem Herz, aber das Leben in diesem Land hat etwas Fahles, Glanzloses, ist fluoreszent, ich sehe, wie dort die Wärme evaporiert und keine Spuren hinterlässt, nur eine Fata Morgana – als wär sie nie da gewesen; ich lecke die eingefrorenen Fenster ab – draußen ist Winter, bald, und ein Jahr ging vorbei, nichtssagend und schwer, mit Gesellschaft dazwischen und der Einsamkeit, in buntes Neonlicht getaucht, kalt und schön – ein Licht, aus dem auch die Frauen kommen, die mir so ungleich sind, Bella, Gigi Hadid, Cara Delavigne, Rihanna, manchmal auch Heidi Klum, wenn sie nicht kreischt, ausgehungert und schön, mit Reichtum behängt, den sie hin und her tragen, wie Sträflingskugeln, Frauen, die zum Verkauf stehen, und irgendwie auch nicht, mit operierten, injizierten Gesichtern, die im Blitzlichtgewitter untergehen und von denen am Ende nur (ihre) Gespenster zurückbleiben: haben sie was gesagt, was gedacht, wer weiß das schon, dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Fitschlanknhappy, wie wäre es stattdessen mit Schlappfettnkrank, beides schenkt sich doch nichts und ist nur Ausdruck des Lebens, des Sterbens; ein Kreislauf, der vor sich geht, zusammen mit der Erdrotation und den Gezeiten, und viel mehr als das ist da nicht, obwohl – gestern hat ein Penner meinen Namen gewusst, oder es hat so gehallt, als ob, es hat mich entsetzt, er – in einer Güte, die mitten aus Verzweiflung erwächst: im Leiden noch Wärme geben, geht, geht ausgerechnet da, geht, während die Mode- und Unterhaltungsindustrie Mädchen castet, nach Farbe und Form und das Arbeitsamt neue Sklaven, der Klasse I, Klasse II in seinem asozialen Bürgerklassifizierungwahn heranzüchtet; Merkel erzählt mir irgendetwas davon, wie sie die Arbeitslosigkeit halbiert hat, aber nicht um welchen Preis, und welches Leben die Menschen fristen, in den Ghettos und der Peripherie in Armut, die unterm Strich aufs Gleiche hinausläuft, wie sie dann an Wochenenden in die steuerfreien Oasen des Starbucks strömen, in modischen Billigversionen und Masken aus perfektem Makeup, zum Schaumschlürfen und Kollegenbasching – für mehr reicht das Geld nicht, und im Vergleich dazu hat es selbst Kafka noch knallen lassen, war aber auch früher tot, so läuft es nun mal – wer ehrlich lebt, muss früher sterben – / ich rauchte meine Zigarette zu Ende.

Natalia Breininger: (My lost hometown #2)

Ich erinnere mich, an diesen Mann, wie wir nach Hause liefen auf der Brivibas iela, waren wir einkaufen, wahrscheinlich, meine Mutter hatte mich bei der Hand, ich war sieben und es war September, zu früh um Jacken zu tragen, aber nicht Pullover, Menschengewusel, und dann kommt aus der Kreuzungsecke, an der Gemüse und Blumen verkauft wird, ein Mann, er hat dieses weiche, menschliche Gesicht, das mich an meinen Vater erinnert und irrt ziellos umher, mein Blick senkt sich und er trägt diesen typischen Eastsidepullover, die es nur Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger gab, und ein burgunderroter Fleck zeichnet sich darauf ab, der immer größer wird, Blut, er stolpert und hält sich fest, stolpert und – die Ampel wird grün, ich schaue meine Mutter an, die mit seriösen Blick meine Hand fester drückt (ein Drogensüchtiger hätte ihn nach Kleingeld gefragt oder nach größerem und weil er zu lange brauchte, oder nichts, nicht genug dabei hatte, stach er auf ihn ein, munkelte die Nachbarin später an der Haustür zu meiner Mutter, als ich sie belausche), keine Spur von Panik, nur Spuren von Blut und hektisch werdender Menge, wir wechseln die Straßenseite, der Notfallwagen rollt ein, ich sehe den Mann niedersinken, aus der Ferne, die Sanitär rollen eine Trage heraus, er wird in den Krankenwagen gezogen (noch vor Ort operiert, dreieinhalb Stunden lang, die tiefsten Stichwunden, direkt in die Brust, kannst du dir vorstellen, Olga, dreifacher Familienvater… er hat nicht überlebt) und ich bin sieben und hab keine Angst, aber bete – ich bete vergeblich, dass er überlebt. Als wir zuhause ankommen und Nachbarin Tanja wieder geht, schaue ich aus dem Fenster und es tut mir – um dieses weiche Gesicht, diesen weichen, niedersinkenden Körper, der in den Händen des Chirurgen verblutet, unendlich leid.
(Epilog: Ich dachte, du erinnerst dich nicht, lächelt bedrückt meine Mutter. Da net, mam… ja pomnju. Pomnju vse.)

Andreas Lugauer: Das Videospiel der Kläranlage

2000 muss es gewesen sein, als ich in den großen Ferien zwischen achter und neunter Klasse zwei Wochen lang beim Gemeindebauhof arbeitete. Also bei derjenigen Einrichtung, die sich um alles, was im Ort so anfällt, «kümmert».
Zugeteilt war ich dabei dem Hermann. Hermann war Mitte 40 und Mitglied beim örtlichen Trinkverein «Fort Dimple» (Kenner kennen den gleichnamigen Whiskey). Da kam es sonntagnachts schon mal vor, dass er diesen als einer der letzten verließ mit den erstaunten Worten: «Ah ja, morgen ist ja Montag!»
Beim Bauhof war er zuständig u.a. fürs Mähen der örtlichen Grünanlagen sowie die Überwachung der gemeindlichen Kläranlage.
Am ersten Tag, an dem ich dort arbeitete, war er wohl etwas damit überfordert, dass ihm plötzlich ein Partner an die Seite gestellt wurde. Mit einem Einsatzfahrzeug des Bauhofs fuhren wir als erstes zur Kläranlage. Er wollte dort wohl anfangs der Woche mal wieder nach dem Rechten sehen.
Dort angekommen sollte ich mich zunächst einfach zu ihm ins gute Stübchen setzen, wo sein Kläranlagenwärterschreibtisch stand, ein Busenkalender hing und im Nebenraum die ganzen elektonischen Viktualienschränke für die Steuerung der Kläranlage aufgebaut waren. Weiter gab’s dann gerade nichts, einfach warten, bis sich was zu tun auftut.
Plötzlich ein Anruf. Hermann musste ausrücken, er wurde irgendwo gebraucht kurz. Mitzukommen brauche ich nicht extra, ich könne hier warten. «Da drüben in der Garage steht ein Besen – wenn jemand kommt, tust du halt so, als würdest du den Hof zusammenkehren.» Ich schwöre, ich lüge nicht! Die Anweisung lautete, so zu tun, als würde ich den Hof zusammenkehren.
Wenn mir jedoch langweilig werden sollte, dann könne ich ja was spielen. Und damit leitete Hermann DAS UNGLAUBLICHE ein: Wir gingen in den Nebenraum mit den Schaltschränken der Kläranlagensteuerung, wo er mir deren Farbdisplay zeigte. Dort drückte er ein bisschen herum und rief plötzlich ein Computerspiel auf. Kein Witz, ich schwöre!
Es war so ein altes Vierfarbspiel, in dem man ein Unterseeboot von links nach rechts durch einen Tunnel steuern musste und allerhand von oben und unten in die Fahrbahn ragenden Felsen auszuweichen hatte. Gewalt gab’s meiner Erinnerung nach keine, d.h. keine Gegner, die einen angriffen und auszuschalten waren oder so.
Jedenfalls dachte ich: «Geil ey, hoffentlich bleibt Hermann recht lang weg!», und aber auch: «Ich pack’s nicht mehr ey, das ist hier die Steuerung der Anlage zur Klärung der Gemeindescheiße, und da ist ein verdammtes Computerspiel drauf!» Videospiel sagte ich nie, immer nur Computerspiel oder, obwohl recht sperrig auszusprechen, Playstationspiel.
Auf den Gedanken, das Spiel zu beenden und Quatsch mit der Kläranlage anzustellen, kam ich leider nicht. Aber ich wollte ja beim Unterwasserspiel möglichst weit kommen! (Wie weit ich kam, weiß ich leider nicht mehr.)
Bevor Hermann wieder kam, schaute ich mir auch noch den Kalender an übrigens. Ein Glück, dass die Monate Januar–Juli nicht abgerissen, sondern nach hinten geklappt waren. Ob er «gut» war, weiß ich auch nicht mehr.
Ach, wo ich hier schon beim Erzählen bin, interessiert vielleicht die ein oder andere da hier auch noch: An einem anderen Tag nahm Hermann mich mit zum Rasenmähen. Er war derjenige, der mit dem coolen Rasenmähfahrzeug (mit Führerkabinchen!) seine Runden über die Fußballplätze zog. Dessen Lenkrad hatte so einen Knopf drauf, mit dem man so lässig einhändig lenken konnte.
Meine Aufgabe war es, mit dem Normalmäher (na toll!) die Stellen zu mähen, wo er nicht hinkam. Das war schnell erledigt und so ging ich zu ihm hin, um zu fragen, was ich nun tun solle. Dass ich «mal fahren» dürfe, sagte er leider nicht, aber: Ob ich eine Halbe Bier möge. Wie alt ich sei, 14, «ja OK, aber du musst mir versprechen, davon nicht betrunken zu werden.»
Das versprach ich ihm glatt und saß sogleich mit einer Halben Karmeliten Klostergold auf einer Bank.
Ein andermal waren die Rasen auf den örtlichen Kreisverkehrinseln zu mähen. Hermann fuhr mich zu den Inseln hin, wir luden alles ab, dann fuhr er wieder und beschied mir vorher: «Mähst alles fertig und wartest dann halt, bis ich dich wieder hole.» Naja, so Inseln sind schnell gemäht, Hermann ließ sich aber immer gut Zeit. Und so saß ich dann leicht mal 20–30 Minuten auf einem dieser halbmeterhohen Kreisverkehrbegrenzungssteine herum und langweilte mich fürchterlich. Es gab damals ja noch kein mobiles Internet, wie wir es heute kennen! Und deswegen – hier schließt sich der Kreis und schießt alles zusammen, Freunde – kann ich auch leider keinen Screenshot posten heute.
Ach, und einmal durfte ich sogar einen der Rasenmäher steuern, die einen Antriebsmotor hatten. Aber das ist eine andere Geschichte. (Offenlegung: Dazu fällt mir jetzt nichts Interessantes ein.)