Şafak Sarıçiçek: Wodnew

Die Kartographen haben uns verschlafen.

Prolog

„Sie sollen Ihren Namen nennen.“
„Anton Wodnew.“
„Wo wurden sie geboren und in welchem Jahr?“, übersetzt die Dolmetscherin.
„St. Nichts-Burg, 1. Oktober 1994.“
„Sprechen Sie mir nach. Hiermit schwöre ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.“
Ich spreche es nach, laut und deutlich.
„Setzen Sie sich.“

Der Richter aus dem Tao-Land blickt mich ernst an. Ich blicke unbeeindruckt zurück.

Sie wollen jetzt selbstverständlich wissen, wie ich, gebürtiger Wodnew aus Groß-Nordland, vor einem Tao-Land-Gericht gelandet bin.

Dazu müssen wir nach St. Nichts-Burg zurück. Und zwar viele Wochen. Wochen, die ich in ihrem Verlauf so nicht erwartet hätte. Nicht in meinen absonderlichsten Träumen. Das ist ganz ernst gemeint: Gestern etwa träumte ich von einem Groß-Nordland-Agenten, der eine Matrjoschka war und auseinandergezogen wurde und dessen kleinere Imitate beständig Reigen tanzten, mit Trunkenheitsflaschen in der Hand. Nein, was mir die vergangenen Wochen zustieß, ließ meine Träume alt aussehen.

TEIL I

St. Nichts- Burg

Wie schon gesagt, bin ich im immerzu frierenden Osten Groß-Nordlands, in St. Nichts-Burg geboren. Irgendwann muss die staatliche Kartographiebehörde unsere Stadt vergessen haben. Ich stelle mir vor, wie der für unseren Bezirk zuständige Beamte, kurz vor der Verzeichnung meiner Heimatstadt, einen Krampf in der Wade bekommt, der ihn schon ewig plagt und jetzt sein Fass zum Überlaufen bringt. Der gehässige Beamte beschließt, die nächste zu registrierende Stadt zu vergessen.
So muss es gewesen sein. Meine Kindheit, wie auch meine Jugendjahre verliefen zum größten Teil in diesem blinden Fleck der Weltkarte. In der Umgebung gab es einfach nichts, was für einen jungen Mann wie mich von Interesse gewesen wäre. An der Stadtgrenze sollte stehen: „Willkommen in St. Nichts-Burg. Eine famose Lebenszeit im Nichtstun erwartet Sie. Ihre  Bürgermeisterin. P.S: Wie haben Sie nur hergefunden? Die Kartographen haben uns verschlafen.“

Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war. Darum kann ich mich nicht an sie erinnern. Wie Sie sehen, ist es so eine Sache mit der Erinnerung in St. Nichts-Burg.

Ich weine meiner Mutter nicht nach. Es erfüllt mich nur mit einer ständigen Wut.
Früh habe ich verstanden, was die Welt für ein hungriger Ort ist, essen oder gefressen werden, auch wenn Sie das als gebildetes Publikum vielleicht belächeln.

Es ist mir äußerst zuwider, belächelt zu werden.

Dem Lachen entkomme ich zumeist, indem ich mitlache. Nur manchmal gelingt es mir nicht und Entsetzen erfasst mich, weil man mein wahres Abbild sehen könnte.

Sehen Sie, ich habe manchmal kuriose Gedanken. 

Und ich habe mich in meinem Inneren schon immer für ein Krokodil gehalten.

Denken Sie jetzt nicht, ich habe den Verstand verloren. Nein, biegen Sie ihre Mundwinkel nicht zu diesem höhnischen Lachen. Ich will mich kurz erklären.

Für mich ist das Krokodil ein Jäger, der zum Gejagten wurde. Ein wahrer Herrscher, den man in Käfige steckte, als Delikatesse verzehrte, zu einer Kinderattraktion verkommen ließ. 

Ein König in Fesseln. Ein Prädator, den man fälschlicherweise nach St. Nichts-Burg verschiffte, weil ein Beamter mit einem fiesen Krampf in der Wade zwischenzeitlich wohl in das Ministerium für Zooangelegenheiten gewechselt war und an seiner persönlichen Vendetta gegen St. Nichts-Burg weiter Gefallen fand.

Aber ich schweife ab. Wenden Sie sich nicht fort!

Ich bin mir dessen bewusst, nur eine einfache Putzkraft zu sein. Jawohl, ich stehe dazu, die Kloaken und kotverschmierten Toiletten, den von Essensresten fettigen Boden einer Fast-Food-Kette St. Nichts-Burgs vertraglich gebunden reinigen zu müssen.

Aber ich bin gebildeter Abschaum. Wissen Sie, in der Vergemeinschaftungszeit Groß-Nordlands bildete man das Proletariat aus und es gab Volksschulen. Ich schweife ab. Jedenfalls hatte mein Vater zuhause Bücher vorrätig. Jack London insbesondere. Aber auch den einen oder anderen Tolstoi und Dostojewskij. Die las mein Vater früher.
Der Sergej Wodnew, Held der Groß-Nordländischen Arbeit. Jetzt Alkoholiker.
Jawohl, er ist Alkoholiker. Ein elender Trinker.
Ich sag es offen und schreie es ihm auch gerne ins Gesicht. Elendiger ALKOHOLIKER! Zum Kotzen bist du! Zum Kotzen ist diese beschissene Bude! Ich hasse dich. Verdammt.
Es tut mir leid, ich bin zu ablenkbar, zu fahrig.

Eben ist die Staatsanwältin aufgestanden und ich muss sagen, sie ist verdammt attraktiv. Die Toilettenreinigung. Genau. Bei einer Fastfoodkette die es nur in St. Nichts-Burg gibt. Mit drei Filialen. Allesamt weiß, wie der die Stadt unter sich begrabende Schnee. Mit großen rosafarbenen Smileyinstallationen auf dem Dach, die unaufhörlich  zwinkern. Und die Reinigung obliegt mir.
Dort nahm es seinen Lauf.

An einem Montag war ich auf dem Weg zu einer Filiale. Der rosa Smiley drehte sich und grinste mir zu. Ich betrat das Gebäude. Ich machte einige Schritte in Richtung Putzkammer. Diese befand sich in der Toilette.

Ein blutverschmierter Mann lag in der Ecke der Filiale am Boden.
Sein Anzug war khakifarben. Die Krawatte mit Flecken, die ungewollt erschienen. Die Kassiererin, wie auch der einzige weitere Bedienstete des Geschäfts waren nicht zu sehen. Als wäre alles abgesprochen. Es waren keine anderen Leute im Geschäft. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht verwunderlich. Die Tür zur Küche schwang dann auf und heraus trat eine mit einer Skimaske vermummte Gestalt. Nicht besonders groß, aber außergewöhnlich breit. An der Skimaske hing noch das Verkaufsetikett. Er hielt ein Jagdgewehr in der Hand und richtete es auf mich.

„Ich putze hier nur.“ sagte ich unbeholfen, noch nicht ganz begreifend, was hier passiert war.

„Dann fange in der Toilette an“ antwortete mir mein Gegenüber. Seine Stimme klang nach Stimmbandproblemen. Sie raspelte. Er war in einen schweren Pelz eingewickelt und der Saum streifte den verdreckten Boden.

„Bleib dort. Schließe die Tür und halte deine Klappe. Vielleicht erschieße ich dich dann nicht.“ Ich nickte und bewegte mich langsam zur Toilette. 

„Schneller du Scheißhaufen!“

Ich stürzte durch die Toilettentür und schwer atmend verriegelte ich sie mit meinem Angestelltenschlüssel. Es war still. Ich verharrte auf dem Boden und versuchte langsamer zu atmen. Einen kühlen Kopf zu bewahren. Eisige Nachtluft drang aus einem gekippten Fenster. Ich saß auf dem Boden. Aus irgendeinem Grund dachte ich an den Smiley der über mir und über dem Dach in die Dunkelheit von St. Nichts-Burg zwinkerte.
Inzwischen atmete ich wieder regelmäßig und wischte den kalten Schweiß auf meiner Stirn weg. Eine Tür fiel zu. Das Geräusch drang nur schwer und von fern in meinen Kopf.
Dann sah ich die Schraube. Sie lag unter dem Putzschrank.  Ich stand auf und mit dem Aufstehen entwich die Nachtluft aus meinem Kopf. Ein Blick zu dem Lüftungsschacht erhärtete den Verdacht. Mit einem Schraubenzieher aus dem Putzschrank löste ich den metallenen Schutz. Ein lederner Koffer kam zum Vorschein.
Erst traute ich meinen Augen nicht recht, doch meine Instinkte nahmen schnell überhand. Keineswegs war ich zu überrascht gestapelte Groß-Nordland-Rubelbündel vorzufinden.
Meine lebhafte Phantasie hatte diese Möglichkeit selbstverständlich als erste erdacht.

Ich überschlug die Geldbündel grob und kam zu dem Schluss etwa 4 bis 6 Millionen Groß-Nordland-Rubel in der Tasche vor mir zu haben.
Die Tasche steckte ich sofort in den Putzschrank. Schob Waschmittel und Utensilien davor, bis sie verdeckt war. Innerlich dankte ich dem Mann, mich in die Toilette eingesperrt zu haben.
In dem Moment war er für mich ein Botschafter der höheren Vorhersehung. Schicksal, wenn man so will. Die Rettungsleine aus der nicht existenten Stadt.

Was ich mir dabei gedacht habe, als ich die Tasche einsperrte, um sie später mit zu nehmen?
Gar nichts besonderes. Es war die natürlichste Handlung, die es für mich geben konnte. Kein Unterschied dazu, seine Notdurft zu verrichten.

Der Pelzmann hatte die Tasche im Lüftungsschacht nicht gefunden, sonst hätte er mich nicht in die Toilette beordert. Der wahrscheinliche Inhaber war tot, mit einer Kugel in seinem Kopf. Die Polizei würde frühestens am nächsten Morgen oder vielleicht auch niemals da sein. Die Autowege waren verschneit, die Filiale etwas außerhalb von der Stadt und es eilte nicht. 
Ich war arm. Mein Leben bisher ziemlich sinnlos und die Tasche bedeutet ungeahnte Träume, die wahr werden könnten. Einfache Mathematik.

Bei meinem Weg aus dem Fast-Food Laden heraus fiel mein Blick auf die Leiche in der  Blutlache. Das Gesicht des Toten war merkwürdig verzerrt und wirkte ein wenig zufrieden. Der Urheber dieses Ausdrucks war nirgends zu sehen. Leise stahl ich mich davon. Schloss vorher die Tür ab und zog die Rolläden herunter.

Ich habe Recht. Als ich spätabends zurückkomme, ist die Szene unverändert.

Das Blut, in dem der Typ liegt, ist zäher geworden. Die Tasche befindet sich noch immer im Putzschrank. Erleichtert atme ich auf.

Den Abend bis zum Sonnenaufgang verbringe ich am Bahnhof. Niemand ist da. Es fahren zwar Züge in die Stadt und auch welche raus, aber vollkommen ohne Plan. Sie werden von Privaten betrieben, nach dem Prinzip des organisierten Chaos. Wer Kohle hat, kommt raus. Rein kommt man nur aus Versehen oder weil man in St. Nichts-Burg geboren wird.

Ich nutze die Zeit zum Überlegen. Was ich bestimmt weiß ist, dass ich hier weg muss. Nicht nur, dass ich Verdächtiger einer Straftat bin. Ich habe auch selber mit meinem Leben in Groß- Nordland abgeschlossen.
Etwas, ein messerscharfer Gedanke durchtrennt alles was mich hier noch festhalten könnte. ICH MUSS WEG.
Aber wohin? Ich blicke um mich und hoffe auf eine Eingebung von irgendwo her. 
Lasse meine Blicke über die Geschäftsschilder schweifen. WÄSCHE steht da auf Groß-Nordländisch, RESTAURANT in neonfarbenen Buchstaben, dann wandere ich noch einmal mit meinen Augen umher. Und an zwei Wörtern bleibe ich hängen. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen. FREE und SHOP.

FREE SHOP denke ich, Free Shop. Wieso Free Shop. Das scheint keinen Sinn zu ergeben. Und wieder fühle ich mich ferngesteuert, eine höhere Macht bedient sich meines neuronalen Schaltwerkes, meiner Synapsen, der Transmitter in meinem Gehirn. 
Die Puzzleteile fallen zusammen: FREE SHOP. Eine Kindheitserinnerung.
Ich war neun und in einer Kneipe. Mein Vater. Er trinkt. Mit seinen Freunden.

Tosendes Gelächter, debiles Stammtischlachen.
Er erzählt einen Witz. Sein Gesicht ist puterrot und Schweiß rinnt seine Stirn herunter.

„Und damals im Grenzland!“ schreit er. „Damals war noch alles gut. Zur Zeit des Groß-Gemeinschaftlichen Paktes.“ Die gesichtslosen Masken der eingeschworenen Trinkrunde nicken einhellig zustimmend. „Damals“, fährt er fort, „gab es die Free Shops. Wisst ihr noch? Da gab es den guten Kram. Das Zeugs, das man wirklich brauchte, aha haha!“.

„Verdammt, ja !“ schreit ihm einer von der gesichtslosen, in den Schatten liegenden, Menschen zu und schlägt auf den Tisch.
Er heißt Kolja, fällt mir in diesem Wachtraum plötzlich dazu ein.

„Haushaltsgegenstände, gute Zigaretten, Schnaps vom feinsten, Whiskey… Jawohl, die Free Shops“.
Mein Vater hebt drohend die Hand.
„Still! Aber…“, erhebt er seine donnernde Stimme, „wir konnten da ja gar nicht hin. Das haben ja die Politbüros so geregelt.“ Einhelliges Nicken.
„Nein. Dazu brauchten wir andere. Andere vom Groß-Gemeinschaftlichen Pakt. Die durften das.“

Eine Kunstpause. ,,Dazu nutzen wir die Tao-Länder! Hohoho, jawohl. Die Exoten waren dazu gut zu gebrauchen. Nicht? Hohoho. Von denen hatten wir ja reichlich Arbeitskräfte.“
Alle stimmen in sein Gelächter ein. ,,Genau, hohoho, die ham das für uns gemacht.“ Das Gelächter verebbt langsam.

Mein Vater wird leiser, die biergetränkte Mannhaftigkeit schwankt: „Aber die ließen sich nicht an der Nase rumführen nicht? Nee. Die waren geschäftstüchtig. Machten aus der Sache ein Geschäft die Schlitzohren. Und wir waren dann die Dummen.“

Er schweigt. Plötzlich brechen alle in ein wohlwollendes Gelächter aus. Er stimmt ein: ,,Hohoho“.

Die Erinnerung stürzt wie ein kaputtes Gebäude zusammen.

Zwei Scheinwerfer scheinen in die Gegenwart, ein Zugzielanzeiger verkündet:

TAO–LAND

Ich steige ein.

Eve Massacre: Zombieträume

Es ist sonnig, die Luft ist zäh wie die Zeit, fast geronnen. Es treibt mich. Was, bleibt ungenau, aber die Angst sitzt im Magen. Unförmige Hände, glibbrig, glitschig, wabernde Haut, überall Körper, versuchen zu fassen, drängen, gleiten ab, gleiten ab, gleiten ab. Ich schiebe mich durch, dränge, renne, laufe, gehe, spaziere durch den Sommertag, die Straße liegt wieder leer vor mir. Häuser ohne Eingänge, Fenster wie gezeichnet. Ich erinnere mich selten an Träume, aber wenn, dann waren es in den letzten Jahren fast immer welche mit Zombies. Langsamen Zombies, wie es sich gehört. So auch dieser vor ein paar Tagen. Ich wache auf, es ist noch dunkel, die Furcht aus dem Traum hängt in den Schatten, aber ich weiß ja, im Haus bin ich sicher. Ich geh pinkeln, nur halb wach, bin so müde, will nicht ganz aufwachen, aber weiß, wenn ich jetzt weiterschlafe sinke ich wieder in diesen Traum. My private Elm Street. Ich schlafe wieder ein, träume den Traum weiter, und wache endlich erschöpft auf. Der Traum hängt den ganzen Tag in den Falten der Luft, immer nur einen Windhauch entfernt. Den ganzen verdammten sonnigen Tag, der so zeitlos verstreicht wie der vorherige. Corona hat neue Zeitempfinden geschaffen. Für die Daheimbleibenden ticken die Uhren anders als für die da draußen.

Ich muss an It Follows denken, einen hervorragenden Zombiefilm ohne Zombies. Er trifft den Zeitgeist indem er in einem seltsamen Zeitvakuum schwebend verharrt. Zombiefilm, weil es darin um untote Figuren geht, die dich verfolgen. Langsam, aber unausweichlich verfolgen. Du hast immer genug Zeit, wegzurennen, aber sie verschwinden nicht. Außer du hast Sex mit jemandem, dann überträgst du sie, wie eine Infektion, auf diese Person. Der Film spielt in einer zeitlosen Zeit, es gibt schwarzweiß Fernsehen, aber auch E-Reader, er legt sich auf kein wann fest. Diese ungewisse Zeit, ein Fehlen der Zukunft, eine Geschichtsenthobenheit, eine Gleichzeitigkeit aller Zeiten, ein hektisches Verharren, so wird unsere Ära gern beschrieben. In einem Faststillstand kurz vorm Weltuntergang gefangen. Wir sind nicht vor einer Zukunft und wir sind nicht nach etwas, wir sind jetzt, für mehr fehlt uns die Luft und wir fühlen uns, als wären wir auf Dauer damit beschäftigt, gegen die verdammten Zombies ankämpfen zu müssen, bevor wir ernsthaft eine Zukunft angehen können. Selbst die Zombiegeschichten selbst sind ihrer Geschichte enthoben, die, wie mich erst kürzlich ein Freund erinnerte, ja ihre Wurzeln in einer kolonialen Historie von haitiianischen Sklavenaufständen und Voodoo haben. Unter den heutigen sind die meisten der bekanntesten aber, von Walking Dead über Zombieland bis World War Z, auf einen pandemischen Gehalt reduziert, vielleicht noch mit ein bisschen Angst vor Überbevölkerung gespickt.

Zombies nicht nur in meinen Träumen, sondern auch als Hype der Stunde, mal wieder. Als Bild liegt das nahe, und wer kann, verschanzt sich drinnen vor dem Rest der Menschheit, der zum Fremden, zum unverstehbaren feindlichen Element geworden ist. Gerade als meine Selbstquarantäne wegen Corona anfing, habe ich einen Vortrag überarbeitet, in dem ich mich gegen Sicherheit ausspreche, angesichts einer Politik, die zunehmend unreguliertes öffentliches Leben als Bedrohung denkt, und prompt kommt die Pandemie, in der die Anwesenheit von vielen Menschen im öffentlichen Raum fast nur noch als potenzielle Gefahr gedacht werden kann. Danke auch.

Zombies also. Simon Pegg und Nick Frost haben einen kurzen Clip mit Corona-Tipps gedreht, in dem sie Shaun of the Dead wiederaufleben lassen. Es gibt jetzt schon einen Film namens Corona Zombies. Es gibt ein Meme, das eine sonst vielbefahrene Straße in Atlanta zeigt, die wegen der Corona-Ausgangssperre menschenleer ist, und daneben ein Bild derselben leeren Straße aus einer Szene in The Walking Dead. Ein anderes Bild, das zum Meme wurde, zeigt schreiende Protestierende in Ohio, die an eine geschlossene Glaseingangstür drängen und fordern, dass die Geschäfte wieder aufmachen. Eine Frau mit USA Flagge, ein Mann mit Trump-Käppi, ein Mensch mit Anonymous-Maske im Hintergrund, es wirkt wie eine Szene aus einem Romero-Film, und das Bild wurde schon mit allen möglichen kommentierenden Titeln wie “28 Business Days Later” oder “Dawn of the Braindead” gepostet.

Ach ja, eher Zufall, aber auch Zufälle gehören zur Hypebildung: Das Video zum Cranberries-Hit “Zombies” erreichte vor ein paar Tagen eine Billion Views auf Youtube. Daniel W. Drezner schreibt auf Foreign Policy darüber, wie uns Zombieapokalypse-Filme auf die Pandemie vorbereitet haben: Sie beschreiben meist den hohen Grad von Hilflosigkeit von nationalen Regierungen und Bürokratien angesichts einer internationalen Katastrophe. Er verweist aber auch auf die Lücke, die Zombiefilme haben: Sie zeigen nie lange die Übergangszeit, den Zusammenbruch der Gesellschaft, sondern immer bald kleine Gruppen übriggebliebener Menschen, die den anderen Menschen zum Wolf geworden sind. Da stimme ich ihm zu: Die Solidaritäten, die sich derzeit bilden, die kreativen Seebrücken-Demos, die Masken-Nähenden, die Menschen, die nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die sogenannten systemrelevanten Berufe viel zu schlecht bezahlt sind, und die nach mehr sozialer Hilfe für alle rufen – sie tauchen in den modernen Zombiegeschichten nicht auf.

Laurie Penny schreibt auf Wired über das Gegenteil wie Drezner, nämlich darüber, auf was uns die ganzen Zombieapokalypse-Filme nicht vorbereitet haben. In ihnen sind Menschen immer abgeschnitten vom Rest der Welt, die Fernseher, Computer, die Nachrichten erlöschen nach und nach. So auch in Tim Maughans Science Fiction Infinite Detail vom letzten Jahr, in dem er durchspielt, was gesellschaftlich passiert, wenn es plötzlich kein Internet mehr gäbe. Menschen sind komplett auf Kontakte in ihrer lokalen Umgebung zurückgeworfen. Er hat sich schon auf Twitter beschwert, dass jetzt das Gegenteil eingetreten ist: Wir sind in unserer lokalen Umgebung physisch isoliert, aber das Internet erhält unsere soziale Verbundenheit aufrecht, Webcams sind ausverkauft und das Netz glüht vor Videokonferenzen und Livestreams, und versorgt uns mit Nachrichten von überall her, Onlineproteste und -diskussionen organisieren sich. Wir bekommen alles mit, können alle Facetten der Ereignisse mit Menschen aus aller Welt diskutieren.

Eins meiner ersten Auffangnetze in der Selbstquarantäne war ein Slack, das ein britischer Twitterbekannter aufgemacht hat, der in Barcelona in kompletter Ausgangssperre daheim saß, und in dem sich vor allem Menschen aus den verschiedensten Ecken Europas trafen, die sich zum Großteil nicht kannten, und sich ihren Alltag erzählten, sich emotionalen Support holen konnten, sich Film- und Musiktipps gaben, von Projekten erzählten, an denen sie gerade arbeiten und natürliche alle möglichen News und Einschätzungen und Politikdiskussionen zu Corona. Eine kleine Wahlfamilie für eine Weile, für mich sehr tröstend in ihrer Internationalität. Ich liebte sie schon immer, meine Internet-Zufallsfamilien.

Aber zurück zu meinen Zombieträumen. Sie würden sich nicht als Filme eignen, weil viel zu wenig passiert. Der eigentliche Horror liegt in der dauernden Angespanntheit und Wachsamkeit, zu der sie mich zwingen. Wie ein Hai, der ständig in Bewegung bleiben muss, weil er sonst erstickt. Ich mag Zombiefilme. Theoretisch. Praktisch kommen sie mir inzwischen manchmal zu nah, seit mir die Welt immer mehr aus den Fugen zu geraten scheint, ich mich bei aller Aktivität oft ohnmächtig fühle. Private Ohnmacht, weil große Teile meiner Tätigkeit und Möglichkeiten erst wegen einer Brandstiftung für Monate lahmgelegt wurden, und jetzt durch die Pandemie. Politische Ohnmacht, angesichts nicht verödender frauenfeindlicher und heteronormativer Strukturen, menschenverachtender Flüchtlings- oder HartzIV-Politik, aber auch Ohnmacht angesichts von Menschen, die in Verschwörungstheorien oder weirde Ideologien hineinrutschen, und nicht mehr durch Worte zu erreichen sind. Worte, für die ich auch nicht mehr so oft die Geduld aufbringe. Vielleicht auch deswegen Zombieträume: Wegen einer Gesellschaft, die dir scheint, als gäbe es in ihr immer mehr Menschen, die du nicht mehr erreichen kannst, die keine solidarische soziale Basis mit dir teilen. Oder ganz ins abstrakt Psychologische gehend: Vielleicht auch einfach Angst, dass Menschen, die dir etwas bedeuten, zu Fremden werden könnten. Ein Leben führen, das so anders ist, mit Zielen und Träumen, die sich so weit von deinen entfernen, dass wir einander Zombies werden. Eine der anderen, einer dem anderen. Wir müssten einander die Hirne nicht nur aus den Schädeln zerren, um einander zu verstehen, wir müssten sie fressen. Dantons Untod. Einander fremd werden zu können, hat mir schon immer mehr Angst gemacht als Fremde.

Das Gefühl des unausweichlich kommenden Horrors, den ich nur hinauszögern, aber nicht abwenden kann, den mein Zombietraum hinterließ, begleitete mich einen ganzen Tag lang in leisen Echos. Nicht dauernd präsent, eher wie Wellen, die sich zurückziehen und manchmal dann doch wieder so weit den Strand hochschwappen, dass sie dir um die Knöchel spielen. Bis in den späten Nachmittag hinein spürte ich immer mal wieder eine leise Furcht vor dem nächsten Schlaf, in dem ich wieder zurück in diese Welt geraten könnte. Je näher das Einschlafen rückte, desto ruhiger wurde ich aber und spürte ganz antiklimaktisch: heute wird keine dieser Nächte sein. Heute kriegen sie mich nicht.

Daphne Elfenbein: Der Mundschutz-Hype

Corona Corona Corona – das ist mein neuer Song.

Ich sing ihn von früh bis spät. Außer ich trag den Mundschutz, dann kann ich nicht singen. Mundschutz ist das Accessoire unserer Zeit. Ich hab schon ein Gewerbe angemeldet dafür. Alles online. Raus darf man ja nicht. Die Welt steht ja still. Jetzt vertreibe ich Designer Mundschutze übers Internet. Leute ich mach die große Kohle aus der Krise und sing dazu: Corona Corona Corona, während ich an der Nähmaschine hocke und die schönsten Stoffe zu den schönsten Masken nähe. Rot mit weißen Punkten. Weiß mit grünen Punkten, Glencheck, Burlington, Japanese, Karo mit Edelweiß, Regenbogen, Orientalisch, Jugendstil, Asiatisch, Vintage, Dalmatiner-Look, ein ganzer Katalog.

Wenn ich jetzt noch wie gewohnt zu meinem Nagelstudio, zur Massage und Kosmetik gehen könnte wie gewohnt, dann wär mein Leben perfekt. Stattdessen hat mir mein sehr geschätzter Göttergatte heute früh eröffnet: Du kotzt mich an. Bloß weil ich mal etwas länger in der Badewanne gesungen habe. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich hab mich dann schön gemacht (das Vintage Kleid mit den Riesen-Orchideen, Parfum und Bambi Hütchen), und bin flanieren gegangen. Roter Mundschutz mit weißen Punkten. Passend zum Outfit. Und Abstand halten!

Prompt hat mich an See ein Jogger angerempelt. Ich hab geschrien und ihm ein Bein gestellt. Dann fuhr zufällig die Polizei vorbei. Sofort stand ein Pulk von Gaffern um uns herum. Ich will sofort ins Krankenhaus! Hab ich geschrien, einen Seuchen – Test machen. Ich lass mich doch von diesem dahergelaufenen Jogger nicht infizieren. Der Kerl wand sich am Boden und hustete mein Pfefferspray aus. Na ja, vielleicht überleg ich’s mir noch, ob ich ihn anzeige, ich zeig ihn sicher an.
Jedenfalls hatte ich dann, umringt von besorgten Leuten aus meiner Nachbarschaft, Gelegenheit meine Designer-Mundschutzmodelle vorzuführen, ich hab die ja immer dabei. Ich hab Riesen-Aufträge mit nach Hause gebracht.

Und kaum bin ich zu Hause… hab ich die nächste Geschäftsidee, obwohl mein Göttergatte schon wieder die Augen rollt deswegen.
„Unter Masken zu singen!“ Yes we can! Diese Krise macht mich reich! Ich biete online Seminare an, wie man unter der Maske singt. Corona Corona Corona… und dann texte ich einen Krisen-Song. schließlich war ich mal Opernsängerin… Es wird einen YouTube Kanal geben.

Huch! Es klingelt, das ist meine Delikatessen Lieferung. Schatzi, mach den Schampus auf. Es gibt was zu feiern.

M.S. Bakausky: Sie haben Geschichte geschrieben

Manchmal gibt es einen Musik-Act, der einfach den Nerv der Zeit trifft. Leute wie Elvis Presley,  die Beatles, Falco oder Madonna. Doch in den frühen neunziger Jahren gab es nur eine Band, die überhaupt etwas zu sagen hatte: Scooter.
Mit dem äußerst genialen Frontmann H.P. Baxxter.
Im Jahre 1994 gab es nur ein Lied, dass man hörte, wenn man auf sich etwas hielt: „Hyper Hyper“ wurde international, weltweit auf allen Sendefrequenzen und in jedem angesagten Club auf und ab gespielt.
Natürlich hatte auch ich die Single auf CD gekauft. Ich war damals acht Jahre alt und konnte den Refrain auswendig. Ganz zum Missfallen meiner Eltern. Während andere Kinder noch Flöte spielten, bettelte ich um Synthesizer-Unterricht. Doch den gab es in meiner Stadt zu der Zeit einfach nicht. Ich schrieb einen Brief an den Hans Peter Baxxter.

„Sie sind mein Idol. Ich bin so aufgeregt. Ich kann es gar nicht glauben, dass Sie diesen Text lesen werden. Scooter ist die beste Band. Hyper hyper ist ein Meilenstein. Ich könnte platzen vor Freude. Also ich würde gerne Synthesizer-Unterricht nehmen. Können Sie mir einen Tipp geben? Hochachtungsvoll, …“

Jeden Tag nach der Schule ging ich in das Büro meines Vaters und fragte, ob ich Post bekommen hätte. Ich ließ mich auch nach Tagen nicht entmutigen, baute mich wieder auf, indem ich „Hyper Hyper“ in meinem Zimmer herauf und herunterspielen ließ. Meine Mutter war langsam genervt davon. Stellte einmal sogar den Strom am Sicherungskasten ab. Sie schien meine Liebe zur elektronischen Tanzmusik nicht zu teilen.

Nach drei Wochen war es so weit. Ich kam von der Schule, ging in Vaters Büro und fragte nach der Post. Er sagte erst, ich muss dich leider enttäuschen, wieder nichts! Kurz bevor ich das Zimmer verlassen hatte, sagte er dann noch: „Warte, doch da ist etwas!“ und übergab mir den Umschlag.
Ich rannte in mein Zimmer und öffnete behutsam den Briefumschlag. Ich fingerte eine Autogrammkarte und ein gedruckter Brief heraus. „Hallo … vielen Dank für deinen Brief. – wir sind per du, dachte ich. Er hat mich sehr inspiriert. Als kleines Dankeschön schicke ich dir anbei eine Autogrammkarte. Beste Grüße H.P. Baxxter“

Ich war außer Rand und Band. Ich platzte fast vor Freude. Bis ich merkte, dass Hans Peter gar nicht meine Frage nach dem Synthesizer-Unterricht beantwortet hatte. Es stand als Absenderadresse ein Postfach in Hamburg. Da war mir klar – ich muss nach Hamburg! Hier in Nürnberg geht nichts. Doch meine Eltern waren nicht erfreut über meine Umzugspläne. Ich hatte es mit Quengelei probiert, mit Argumenten und mit Dauerspielen von „Hyper Hyper“. Bis mein Vater in mein Zimmer kam, mich anschrie was ich eigentlich mir dabei denken würde, dass er Ruhe brauche um zu Arbeiten, dass er mit dem Kopf arbeitet. Er nahm die Stereoanlage und die CD mit. Er kam zurück mit leeren Händen und nahm die Autogrammkarte von der Wand. Ich schrie: Nein, nicht die! Und wollte sie ihm aus der Hand reißen, doch er hielt sie stärker, sodass er und ich jeweils eine Hälfte in der Hand hatten.

Meine Mutter kam kurz darauf und tröstete mich. Zeigte mir eine Broschüre vom Klavierunterricht. Sagte, dass wenn ich erst einmal Klavier spielen könnte, klassische Musik, würde es mir besser gehen. Von nun an musste ich täglich vier Stunden Klavier spielen. Meine Eltern waren auch sonst strenger geworden. Ich durfte nicht mehr meine Freunde sehen. Nach der Schule hieß es Hausaufgaben machen. Dann Klavier spielen. Zweimal die Woche kam ein Klavierlehrer zu mir.

Die Jahre schritten voran. Ich vergaß Scooter völlig.Kurz nach meinem 18. Geburtstag packte ich meine Siebensachen ein und zog aus. Ich hatte schon länger kein Wort mehr mit meinem Vater gewechselt. Jetzt nahm er mich kurz zur Seite und reichte mir einen braunen Umschlag. „Das hier gehört dir“, sagte er. Ich steckte den Umschlag mit zu den anderen Sachen in einen Karton. Als ich ihn ein paar Tage später öffnete, kamen zum Vorschein:

Die Single „Hyper Hyper“ und eine fein säuberlich geklebte Autogrammkarte.

Ich war sofort wieder angefixt.
Tage, Nächte, lang hieß es bei mir nur noch „Hyper Hyper“.
Doch es war nicht mehr dasselbe, es wurde einfach nicht mehr wie 1994.
Vielleicht passte Scooter einfach gut in die Neunziger Jahre, vielleicht waren die jetzt vorbei.

Als ich das begriff, stellte ich den CD-Spieler aus, legte ich mich aufs Bett und weinte, weinte und weinte.

Carolin Wabra: Fidgetspinner

Etwas liegt in meiner Hand. Es ist silber glänzend mit rosa-türkisfarbenen Streifen. „Metallic“, hat die Verkäuferin gesagt. „Total angesagt zur Zeit. Das geht weg wie..naja sie wissen schon…warme Semmeln, frische Schrippen, brandneue Brötchen. Meine Neffen haben das auch fährt sie fort. Und deren ganze Klasse. Zweimal hab ich schon eine neue Lieferung bestellt. Die Leute reißen es mir aus der Hand. Nur 7,50 Euro, kostet das und ist dabei jeden Cent wert. Das beruhigt die Nerven, sagt meine Tochter auch, das ist nicht nur Spielzeug für die Kids, sondern auch was fürs Hirn. Ich hab so viele Kunden die darauf schwören, wegen dem ganzen Stress heutzutage…wird ja alles immer schnelllebiger, die neuen Medien und die Erreichbarkeit. Naja sie wissen schon.“

„Das nehm ich“, habe ich gesagt. Habe das Geld aus meinem schwarzen, durchgegessenen Geldbeutel gefischt und in ihre rauen Hände gelegt, deren Fingerkuppen schon ganz wund waren.

Jetzt halte ich es in meiner Hand. Ganz kalt ist es, aber auch wenig weich. Es liegt gut darin. Ich stupse es leicht an als es auf meiner Fingerspitze liegt. Ganz behutsam bringe ich es in Bewegung, so als würde ich den kleinen Hundewelpen meiner Nachbarin das erste Mal mit vor die Tür nehmen, um ihm diese große weite Welt zu zeigen.

Ganz tapsig dreht sich auch das schimmernde Ding auf meinem Finger. Es strauchelt etwas, fängt sich aber schnell und kommt in Bewegung. Immer schneller wird es je öfter es seine Runden auf meiner Fingerkuppe dreht. Die Geschwindigkeit zieht mich in den Bann, kleine Reflexionen die, die das Licht auf der Oberfläche zeichnet laufen die Wände meines Zimmers entlang. Es ist so schön. So unfassbar schön.

Das habe ich geschaffen. Alleine, ich, hier, in meinem Zimmer. So stolz war ich das letzte Mal nach dem Abitur. Glaube ich. Habe ich aber vergessen.

Vermutlich war ich nie wirklich stolz. Auf was denn auch. Die abgebrochene Ausbildung und den Job an der Tanke, den ich habe seitdem ich 15 bin. Stolz kann man darauf nicht sein. Vor allem nicht, wenn alle, um dich herum etwas Richtiges studieren.

Als sie noch studierten konnte ich auf sie herabblicken. Schließlich hatte ich ein festes Gehalt, arbeitete 40h. Begrüßte Kunden, füllte Regale auf, langte Kaffee und Leberkäse über die Theke und nahm mir Samstagabend die liegengebliebene Motorsport und die Zeitungen ab 18 mit nach Hause. Ein systemrelevanter Arbeitsplatz würde man wohl sagen. Damals haben sie mich noch beneidet, redete ich mir ein. Sie, die mit dem Fahrrad zu mir kamen und Bier und Zigaretten zu kaufen, sie die mit weniger als 800 Euro im Monat auskamen und den Kopf voller unwichtiger Texte hatten von Menschen die schon längst nichts mehr zu sagen hatten.

Die langen Studienjahren holen die nie wieder auf, glaubte ich. Bis ja, bis sie ihr Studium beendet hatten, ihre Haare kürzten, ihre Moralvorstellungen gegen regelmäßige Gehaltseingänge und das Fahrrad gegen die neue C-Klasse tauschten. Dann merkte ich dass ich es war der sie beneidete.

Jetzt grinsten sie mich halb feixend, halb mitleidig an, wenn sie zu mir kamen. Na, immer noch hier? Ja, ja, doch. Macht Spaß, gut bezahlt. Ja, ja. Gehört dir der Laden mittlerweile? Ne, nee. Ich bin da bescheiden, so. Ist ja auch schwierig so ohne Abschluss. Naja, der steinige Weg ist der lohnende und so…sie wissen schon. Da habe ich bemerkt, dass ich es war der die ganzen Studienjahre nicht mehr aufholte, der, der stehengeblieben war. Der, der es zu nichts gebracht hat in dieser Gesellschaft in der es doch alle irgendwie zu irgendwas bringen müssen.

Aber jetzt. Jetzt bringe ich etwas in Bewegung. Kein Stillstand mehr in meinen Händen, nur noch Geschwindigkeit, Fortschritt. Ich bin gottgleich, allmächtig. Ich bin alles. Ich bin alles durch dieses metallische Geschöpf. Der dreifaltige Kreisel in meinen Händen. Ein beruhigendes Zischen füllt die Stille um mich herum aus. Ich stelle mir vor, dass wir gemeinsam abheben. Dass sich das schimmernde Ding von meiner Fingerspitze bewegt, nach oben steigt und mich mitzieht an die Decke meines Zimmers. Dann stoßen wir beide gegen den rauen Putz. Ein dumpfes Geräusch macht das. Dann ist. der Hype vorbei.

Theobald O.J. Fuchs: Isolation

Dr. Venkatraman trat vor das Hochhaus ins pralle Sonnenlicht. Er legte seine Stirn in Falten, als er hinauf in den blauen Himmel blickte. Dort kreiste ein schwarzer Pulk Krähen. Vielleicht ein Zeichen, dachte Venkatraman. Fast unsichtbar kleine Farbpartikel, die sich vom roten Punkt zwischen seinen Augenbrauen gelöst hatten, bröselten zu Boden. Doch ein Zeichen für was? fragte sich Venkatraman. Wenn er nur mit jemandem darüber sprechen könnte! Doch Rajiv Lakshminarayanan war seit Tagen nicht mehr im Dienst erschienen, das ganze Bürogebäude war menschenleer, niemand interessierte sich mehr für die Arbeit der Behörde.

Venkatraman ging vor bis zur Ecke, wo die East Coast Road die Hundred Feet Road kreuzte. Dort stand ein alter, krummer, von Staub und Abgasen gebeutelter zementgrauer Baum. In einem Riss zwischen den steinharten Wurzeln war ein kleiner Schrein eingesetzt, welke Blumen lagen darunter, auf einen Grashalm gefädelt weiße und orangefarbene Blüten, ein feuerroter elefantenköpfiger Götze streckte seinen goldenen Handteller den Vorübergehenden zum Gruß entgegen. Wenngleich heute kein einziger Mensch außer Venkatraman hier vorüberging. Die roten Ziegelsteine, mit denen der Gehweg ausgelegt war, knirschten unter seinen Füßen. Venkatraman blieb stehen. Seine Flip-flops waren schon sehr abgelaufen und sahen schäbig aus. Würde es mir vielleicht helfen, den letzten Rest Würde zu bewahren, wenn ich mir neue Schuhe kaufte? ging es ihm durch den Sinn. Venkatraman hätte darüber gerne mit Lakshminarayanan diskutiert, doch sein Kollege hatte sich nicht einmal von der Arbeit abgemeldet. Er war spurlos verschwunden. Wie alle anderen.

Wie auch der einäugige Scherenschleifer, Giundy, der doch immer hier an der Ecke saß und auf Kunden wartete. Auch Giundys Frau Anandyanjaswinder war nirgendwo zu sehen. Für einen kurzen Augenblick stieg Panik auf in Venkatraman. Ihn packte die Angst, dass in seinem Kopf etwas nicht mehr in Ordnung sei und er nicht mehr wisse, wo er war. Vielleicht war das gar nicht die Ecke an der East Coast Road…? Vielleicht schien in Wahrheit auch die Sonne nicht und es war mitten in der Nacht? Das Herz schlug ihm bis zum Hals, hinter den Augen staute sich sein Blut, in seiner Kehle bildete sich schon ein zu seinem Gemütszustand passender Schrei.

Doch dann sah er den Fleck. Eine schwärzliche Verfärbung der Steine dort, wo Anandyanjaswinder gewöhnlich jeden Mittag einen Topf duftender scharfer Blumenkohlsuppe zubereitete, mit frischer Milch von der Kuh, deren Revier die Gasse hinter dem Amt war. Nein, Venkatraman hatte seine fünf Sinne beisammen, alles war gut, sein Kopf funktionierte. Oder dann doch wieder nicht, oder? Denn wo waren sie alle? Er zog das Handy aus der Tasche, bereit, das letzte Mittel zu ergreifen, das er sich vorstellen konnte.

Er wählte die Nummer von Krishnan Balamsubramanian, seinem obersten Chef und stellvertretendem Vizeminister für mittelschwere und leichte Sozialfragen. Venkatraman warf einen schnellen Kontrollblick in jede Richtung. Kein Mensch war zu sehen, die Straßen waren völlig verlassen. Sogar die Affen in den Baumwipfeln schwiegen. Richtig, dachte Venkatraman, die Affen? Keine Spur von ihnen… Wann habe ich das zuletzt erlebt? Habe ich überhaupt schon einmal erlebt, dass die Welt so menschenleer war, fragte er sich, während er darauf wartete, dass im Telefon der Rufton summen würde. Doch da tutete nichts. Da war nur noch das Geschrei der Krähen hoch oben und das Schaben seiner Sohlen auf den Steinen.

Venkatraman hatte das traurige Gesicht Balamsubramanians vor Augen, als er ihm zum letzten Mal begegnet war. Vor drei oder vier Tagen, auf dem Flur, beim Trinkwasserspender. Krishnan, der mit seinen dunkelblauen Augen hinter den dicken Brillengläsern noch stets jeden Bittsteller mit einem guten Gefühl im Herzen entlassen hatte. Sei vorsichtig, Venkat, hatte er ihm nachgerufen. Klar doch, hatte er geantwortet, aber dann war der Strom im ganzen Viertel ausgefallen und die Hitze war so unerträglich geworden, dass er vergessen hatte, worum sich das Gespräch überhaupt gedreht hatte und was als nächstes zu tun sei.

Venkatraman leckte über den Zeigefinger seiner rechten Hand, schloss die Augen und presste die Fingerspitze gegen den roten Punkt auf seiner Nasenwurzel. Die Energieströme schlossen kurz, er erdete sich selbst und näherte sich dem Nirwana.

Großer Ganesha, dachte er, so einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Er spürte eine wundervolle Wärme durch seinen Körper fließen und im nächsten Augenblick durchbrach er die Isolation seiner Seele…

Raphael Stratz: Der Aufzug aus Ägypten

Ob es eine Hölle gibt, wird kontrovers diskutiert. Die korrekte Antwort auf die Frage nach einer Vorhölle wechselt von Papst zu Papst. Viele sind sich nicht sicher, ob sich die Existenz eines Ortes namens „Bielefeld“ belegen lässt, sind sich aber sicher, dass dieser, so es ihn denn gibt, der Hölle am nächsten kommt. Einen Ort, dessen Existenz sich lückenlos nachweisen lässt stellt hingegen der Aufzug dar. Jener Aufzug, in dem ich gemeinsam mit Armin und Pavel stecken blieb.

Eigentlich hatten wir nur nach oben fahren wollen, um unserem alten Schulfreund Marx eine Stinkbombe in sein Büro zu liefern. Marx arbeitete im Passamt und benötigte die Bombe dringend und so schnell wie möglich. Wofür er sie brauchte konnte er uns leider nicht sagen, nur dass es wirklich dringend war und wir uns sowieso mal abgewöhnen sollten, immer alles direkt zu hinterfragen. Wir hatten also eine Stinkbombe von Pavels Bruder Jean-Rüdiger stibitzt und uns auf den Weg zum Rathaus gemacht. Dort angekommen war die Lage des Passamtes schnell erörtert, offen war nur die Frage, ob der Fahrstuhl oder das Treppenhaus schnelleren, größeren und ansehnlicheren Erfolg versprechen würde. Wir entschieden uns für den Aufzug, da Pavel uns damit drohte „spätestens bei der Hälfte zu krepieren“ und man weiß ja wie unangenehm es ist, einen Erschöpfungstoten die Treppe herunter zu tragen.

Armin forderte also kurzentschlossen den Fahrstuhl an, in welchen wir dann frohen Mutes hineinkletterten. Der Knopf für das richtige Stockwerk war schnell gedrückt, die Freude auf das Wiedersehen mit Marx wuchs. Diese Allerdings erfuhr einen leichten Dämpfer, als der Aufzug mit einem Ruck, der selbst geübte Presslufthammerbedienende hätte zusammenzucken lassen stehenblieb. Dass es so schnell nicht weitergehen würde stellten wir fest, nachdem Armin den Notknopf gedrückt hatte. Ein sehr freundlicher Herr am anderen Ende erklärte uns in warmen Worten, dass dies ein Rathaus sei und kein Wirtshaus und wir doch bitte eine Nummer ziehen sollten und warten, bis wir aufgerufen würden. Wir versuchten freilich, den guten Mann darüber aufzuklären, dass es sich hierbei um eine Art Notfall handelte, doch er würgte uns mit der Bemerkung ab, er wisse genau wie ein Notfall aussieht und solange er uns nicht sehen könne, wäre es ihm schlicht nicht möglich das einzuschätzen. Als ich fragte, wie lange es wohl dauern möge, bis er sich unserer Sache annehmen könne, fragte er uns, welche Nummer wir denn gezogen hätten.

„Die 23!“ rief Armin in seiner Geistesgegenwart, doch die einzige Reaktion, die dies unserem Gesprächspartner entlockte, war ein gluckerndes Lachen.

„Tja meine Herren“, setzte er an „da werden Sie sich wohl noch ein wenig gedulden müssen. Wir sind im Moment bei Nummer 382. Wenn wir bei 999 angelangt sind, geht es wieder von vorne los.“

Dafür, dass wir dies überhaupt nicht zu schätzen wussten, hatte er wenig bis kein Verständnis. „Wissen Sie, ich mache die Regeln nicht. Ich bin nicht derjenige, der sich diese Bürokratie ausgedacht hat.“

Mit diesen Worten unterbrach er die Verbindung und wir standen wieder allein in einem steckengebliebenen Aufzug im Rathaus.

„Naja, dann machen wir einfach das Beste draus“, schlug Armin vor „was meint Ihr, wie lange könnt ihr die Luft anhalten?“

„Über acht Minuten lang.“ Behauptete Pavel, was wir aus naheliegenden Gründen natürlich glaubten. Ein Mensch, der bei der Hälfte des Weges in den ersten Stock krepieren würde und trotzdem von sich behauptet acht Minuten lang die Luft anhalten zu können, das erschien uns in etwa so wahrscheinlich wie der Ausschank von Fritz-Kola auf einem CSU-Parteitag. Wir entschlossen uns also, dies zu testen.

Das Ergebnis:
– Pavel konnte die Luft nicht einmal 40 Sekunden lang anhalten.
– Dafür, so sagte er uns aber erst danach, wurde ihm übel, wenn er länger als 20 Sekunden die Luft anhalten musste. Oft so übel, dass er sich übergeben musste.
– Wenn Pavel übel wurde, so ging das oft mit Platzangst und Wahnvorstellungen einher.
– Der Mann am anderen Ende konnte die Verbindung gar nicht unterbrochen haben, denn sobald Pavel geäußert hatte, ihm wäre übel, meldete er sich wieder zu Wort.

„Meine Herren, ich darf Sie darauf hinweisen, dass es Sachbeschädigung ist, wenn Sie sich in den Aufzug erbrechen. Wir stellen in solchen Fällen Strafanzeige.“

„Vielen Dank, Herr Schaffner, einmal nach Alexandria bitte. Ich muss dringend noch in die Bibliothek und mir Iphigene auf Tauris ausleihen.“ Stammelte Pavel. „Sie können gerne am Eingang auf mich warten, es dauert dann nur ein paar Minuten.“

Im selben Moment, indem Pavel seine Ausführungen beendet hatte, schien Armin der Zorn zu durchfahren. Mit lautem Gebrüll warf er sich gegen die Sprechanlage des Aufzugs und forderte den Herren am anderen Ende auf, rauszukommen und sich der Situation zu stellen. Wenn er ein Mann wäre, würde er auch nach Dienstschluss mit ihm nach draußen kommen, um die Sache auf dem Parkplatz auszudiskutieren.

Das hätte er allerdings besser nicht getan. Er bereute es auch im nächsten Augenblick bitter. Nicht seine Worte, die waren aus tiefster Seele gekommen und nur ehrlich gemeint, allerdings hatte Armin vergessen, dass sich in seiner Jackentasche eine hochempfindliche Stinkbombe befand, die bei seinem Sprung an die Wand zerbrochen war.

„Ach du Sch…“ mehr brachte Armin nicht mehr heraus, bevor er in sich zusammensackte. Auch um mich herum begann sich alles zu drehen, ich versuchte, mich irgendwo festzuhalten, bekam nichts zu fassen und fiel vornüber.

Ich wachte auf, als die Sanitäter mich ins Freie schoben. Es war die dritte Staffel Sanitäter, die uns nach draußen brachte. Die Zweite hatte die Erste, die völlig unvorbereitet in den Stinkbombenqualm gerannt war retten müssen. Uns wurde gesagt, wir würden keine bleibenden Schäden davontragen. Ich gehe allerdings davon aus, dass sie damit eigentlich meinten, bei uns war nicht mehr viel zu verlieren gewesen.

Immanuel Reinschlüssel: Mobilität 4k

Die Sonne steigt langsam über die sanfte Hügelkette,  zerfurcht das nebelverhangene Tal und dringt zaghaften in bis in die tiefen Züge des Tales ein. Ich kenne dieses Schauspiel, habe ihm schon unzählige Male schweigend beigewohnt und es sorgsam beobachtet, habe im Laufe der Jahrzehnte jedes noch so kleine Detail perfektioniert und auch die winzigsten Makel beseitigt.

Die Hügelkette, die sich an den Horizont schmiegt wie ein frisch verliebtes Mädchen. 

Die Tektonik der Täler.

Der dichte Wuchs der Gebirgsausläufer.

Der leichte Wolkenflaum, der ohne Wiederstand den Weg des Morgenlichtes freigibt.

Die Farbschattierungen der Graslandschaft.

Das Plätschern der verworrenen Bäche.

Meine Idee, ein Sonnenaufgang direkt aus meinem Geis, erschaffen nur für mich.

Pure Perfektion.

Ihn mit anderen zu teilen, möglich, natürlich. Nur ein Gedanke entfernt.

Von Horizont zu Horizont reicht mein Blick und darüber hinaus, ins Unendliche, wenn ich denn möchte. Und ich möchte, wir alle möchten.

Ich kann mit einem Satz im tiefen Regenwald stehen, ohne eine Schritt zu machen.

Auf dem Meeresgrund wandern, ohne die Luft anzuhalten.

Auf einem Atom reiten.

Durch das Weltall fliegen.

Mit Goethe im Teehaus sitzen.

Durch meinen eigenen Körper spazieren.

Japanisch lernen.

In den Krieg ziehen.

Jedes Bild in meinem Neuronensystem, jede Möglichkeit dieses Universums, ich muss sie nur denken und bin. Ich denke, also bin ich.

Ich schwebe. Ich schwebe, ich treibe, ich tauche. Hier, im Jetzt. Mein Körper, er schwebt, er treibt. Naphtolyt. Ich schwebe in Naphtolyt, schon mein ganzes Leben lang. Ich wurde darin gezogen und ich werde darin entsorgt, wenn die Funktionswerte sinken. Ein Prozess von tausenden von Jahren. Naphtolyt, es nährt mich, mich und alle Menschen, alle Menschen dieser Erde. Mein Platz C19 Delta 420, mein Platz von Anfang bis Ende. Mutter passt auf uns auf. Mutter zieht uns. Mutter nährt uns. Mutter kontrolliert die Neoronaltranszenz, verband uns nach dem Ziehen damit und lässt uns nicht mehr los. Mutter verband mich mit dem System in meiner Stunde Alpha, Mutter löst es am Tag Omega. Das System ist meine Augen, meine Ohren, meine Beine. Das System lässt mich wandeln, unendlich weit.

Das System, die größte Erfindung unserer Spezies, die größte und die letzte. Es aufzubauen erschien wahnsinnig, den Widerständen zu trotzen schier unmöglich. Doch die Erkenntnis war zu klar, zu zwingend: In dem Moment, in der wir das Universum verstanden und alle erreichbaren Winkel bereist hatten, gab es einfach keinen Grund mehr, noch weiterzugehen.

Warum den Körper belasten, wenn der Geist doch alles erreichen konnte?

Warum auf Füßen stehen, wenn es dafür keinen Grund mehr gibt?

Warum Hände haben, wenn es keine Arbeiten mehr notwendig sind?

Warum Augen haben, wenn die Bilder sie nicht benötigen?

Warum fortpflanzen wie die Tiere, wenn Mutter eine fehlerlose Reproduktion ermöglicht?

Das System und Mutter, wir legten unsere Spezies in ihre perfekten, schützenden Arme. Wir machten den nächsten Schritt in unserer Entwicklung. Wir stiegen von Affen zu Göttern auf.

Die Sonne legt sich über das Tal. Sie steigt nicht gleichmäßig, sondern gehorcht der Fibonacci-Folge, meine Symphonie des Lichts. Meine Blicke folgen ihrem Weg, erkennen jeden Grashalm, kennen die Wahrheit in den kleinsten Dingen.

Pure Perfektion. 

Anja Gmeinwieser: Flugversuch der Taube in Bilbao (gescheitert)

Stelle dir vor, du bist in einem Flughafen gefangen. Stell dir vor, dein Pass hat zwischen dem Check-In und dem Abflug, bei dem du – nur du – ausnahmsweise nach besagtem Pass gefragt wurdest, eine andere Biegung genommen, als du selbst.

Ich stelle mir das manchmal vor, und dass dies eine Vorstellung ist, die ich mit vielen teile und dass uns alle ein wohlig ekler Schauer befällt, Lustangst vor dem Leben im
Niemandsland, in einer Dystopie aus Paranoia, die uns die Welt erst erschließt. Spätestens seit diesem Film mit Tom Hanks, in dem Tom Hanks einen mit Pass- und Visaproblemen spielt, stellt sich das doch jeder mal vor, und ich meine man weiß ja auch, dass es den Mensch tatsächlich gab, den Tom Hanks da gespielt hat, ein Perser, der gut 20 Jahre eine Institution von Ironie und Bürokratie im Charles de Gaulle war, und das gibt es jetzt auch wieder, an Terminal 1 von Kuala Lumpur ist ein Syrer gefangen, ein Jahr nun schon, weil: kein Visum, kein gültiger Pass und schon geht nichts mehr.

Die meisten, wie ich – und ich gehe jetzt mal davon aus, dass das bei dir ebenso ist – sind keine mit Pass- und Visaproblemen, sondern mit gutbürgerlichen Popelproblemen, wie „wohin fahr ich in den Urlaub?“ oder „welches Auto kauf ich mir?“ oder „macht mein Job mich noch glücklich?“ Oder „Spülmaschinentabs sind alle“. Auch wir wollen uns doch manchmal in die Größe einer absolut verfahrenen Scheißsituation schmiegen, oder?
Stell dir den Flughafen, in dem du gefangen bist mittelgroß vor, München vielleicht, oder Tegel, Paris, wie der Perser, oder aber Bilbao, das klingt nach Getränken mit Sahne. Der Flughafen von Bilbao wurde von Calatrava gebaut und schaut angeblich aus, wie eine Taube kurz vor dem Start, und heißt auch Taube, „la paloma“. Zyniker könnten jetzt einwenden, er sehe eher eher aus wie ein Kampfjet, wenn auch ein schöner, weißer, verglaster, zarter Kampfjet im Abheben, da in Bilbao. Dass dir gleich egal sein wird, wie der Flughafen von außen aussieht, wo du ja innen gefangen bist, ist auch klar.

Im Ernst, wahrscheinlich kann jemand wie du oder ich in einem Flughafen gar nicht so sehr gefangen sein, wie wir uns das gerade zusammenreimen, wahrscheinlich wäre das in wirklich so ein Fall von irgendwas geht immer, ein Fall von mein Pass ist ein Visumswunder, ein Fall von „heute hasst mich das Auswärtige Amt, aber die biegen das gerade“.Oder nicht?

Oder ist das eine trügerische Hoffnung? Ein Privilegienphantom?

Jedenfalls, soviel steht für unseren Tagalptraum fest, die Situation ist verzwickt, und du verlässt diesen Flughafen nicht ohne Pass und Punkt.

Du hättest dich wahrscheinlich bereits an das Sicherheitspersonal an der Handgepäckkontrolle gewandt, die hätten deinen Pass zumindest zuletzt in der Hand gehabt, und natürlich hätten sie sich dein Problem angehört, nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen oder weil du – jetzt in meiner Vorstellung – so sehr aussiehst nach Businessclass, dass ich wahrscheinlich „Sie“ sagen würde, würden wir uns tatsächlich begegnen. Schließlich aber, nach Freundlichkeit, Unfreundlichkeit und einer Art panischem Tobsuchtanfall deinerseits hätte das Sicherheitspersonal sich wieder lieber der Sicherheit der Menschenmasse zugewandt, die da gerade durch das Personenleitsystem daherkommt, wie Überraschungseier auf einem Schokoladenfabrikfließband. Deine kaltschwitzigen Fingern hätten bereits gegoogelt, was in so einem Fall zu tun sei, nur um zu erfahren, dass der Flughafen der in Wirklichkeit schönste Ort für einen Passverlust sei. Den Umständen entsprechend geradezu hervorragend: Hier könne dir geholfen werden, hätte das Internet freimütig behauptet und das ungläubig aufgerufene Impressum dieser Seite hätte dich noch nicht einmal misstrauisch werden lassen.

So würdest du zwischen den Wartenden eben nicht warten, sondern gehetzt zwischen ihnen herumsuchen, auf allen Vieren unter den Wartesitzen, zwischen den Massagesesseln, in den Mülleimern. Den Schuhstaub, der sich jahrelang in den steingrauen Teppichboden gefressen hat, an Handflächen und Knien.

Zwischen ihnen sitzen und mit dem gleichen leeren Blick ins Nichts starren, wie sie, nur aus ganz anderen Gründen, und dir Gedanken machen über die situative Ähnlichkeit, die diesen Unterschied fast verschwimmen lassen würde.

Telefonanrufe, bei Menschen, bei denen du dir ein gewisses Verpflichtungsgefühl dir gegenüber erhoffst – eine Schwester, ein oder zwei Kolleginnen, ein Sekretär, stelle dir vor, wie zwar Mitgefühl geäußert würde, aber keine Hilfe zugesichert, das freundliche Im-Stich-Lassen desjenigen, der einem eigentlich egal ist.

Schau dich an, zwischen den Wartenden. Wie du dich langsam einkriegst, normalisierst, dein Herzschlag, dein Atem, dein Blick. Der Rückzug in dein Inneres, die Panik, klein wie eine Gewehrkugel abschussbereit in deinem Brustkorb noch fühlbar. Du hier drinnen, wo die Welt nicht ist. Auf dem Teppichboden ist ein hellerer Fleck, dessen Form dir immer wieder vor den Augen verschliert.

Stell dir vor wie du schläfst. Erwachst. Den Durchsagen lauschst, ready for boarding und don‘t leave your luggage unattended. Du kaufst dir eine Flasche Wasser und ein Thunfischsandwich, verzehrst beides ganz langsam, in Zeitlupe, 30 mal kaust du jeden Bissen in Zeitlupe. Das wäre doch wirklich nicht nötig bei ungetoastetem Toast, der eigentlich schon von der Plastikfolie vorverdaut wurde, aber dir dämmert, dass du alle Zeit hast, eine Ewigkeit für dieses Thunfischsandwich. Beobachtest die anderen beim Warten, vertrittst dir die Beine, wirfst zwei Euro in den Massagesessel für sieben Minuten und weil dich der Massagesessel so freundlich anfasst, so genau wissend wo es weh tut, wo die Muskeln sich verhärten, wenn man panisch angespannt ist, gleich noch mal zwei Euro.

Du schläfst. Du schläfst, schläfst, schläfst. Du studierst über Tage das Schlafen in verschiedenen Körperpositionen, weißt bald wann du dich ungestört über mehrere Sitze breiten kannst, kannst aber auch im Sitzen, mit dem Kopf auf die Händen und den Ellbogen auf die Knie gestützt schlafen, du probierst Duty-Free-Sandwichsorten und bleibst bei Hühnchen mit Currycreme, auf das du dich jetzt immer geradezu freust, zwischen gefühlter Düsternis und tatsächlicher Düsternis. Und denkst Gedanken an draußen, und die Gedanken sind wie Nierensteine, nur statt für die Nieren fürs Bewusstsein, kristallen, bunt gemustert, eigenartig schön und immer, wenn man sie fast vergisst, versetzen sie dir doch wieder einen Stich, der dich fast in die Knie gehen lässt.

Einige Beispielbewusstseinssteine, die jemand in deiner Situation denken könnte:

Alleen, Kastanien
Arbeit, Alltag, Asphalt, Abwasch
Grautöne Grüntöne Blautöne
Bekanntschaften Konkurrenzen gemeinsam Essen
Geschäfte Geschäftigkeit
ich meine Einzelhandel Stammkundschaft
Autobahnen Erlkönige Sonntagsfahrer
Regen Wetter insgesamt
gewohnte Gerüche, die schnell vergessen
und dadurch doch noch ungewohnter werden
als ohnehin ungewohnte.

Du findest, als sich die Gedanken ein wenig schmerzärmer geschliffen haben, einen Schicksalsgenossen, vielleicht nach 10 Tagen, oder ihr findet euch, findet euch beim Haarewaschen auf der Toilette. Dem wiederholtem Haarewaschen auf der Toilette, kennt man glaube ich auch aus diesem Tom-Hanks-Film. Zuerst Misstrauen: wieso immer ihr auf der Toilette, Shampoo in den Augen, das fließt da immer hin, weil die Waschbecken klein und die Wasserstrahlen automatisch sind. Du ganz offensichtlich auf der immer gleichen Geschäftsreise, er in der Uniform des Bodenpersonals, einander taxierend, was tut der andere da. Schließlich er ganz offen:
Ich habe Sie beobachtet, Sie sind immer hier, es gibt gar keinen Flug für Sie, ist gecancelled für immer, nicht wahr? Er zwinkert. Du murmelst, Pass verloren, nicht wieder gefunden, irgendwie geblieben, trotz vielleicht möglicher, nicht ausgeschöpfter Alternativen, so bist du ein Flughafenbewohner geworden.

Und dann ist es bei ihm ebenso, ganz genau ebenso, seine Vorstellung hat ihn in dieselbe Scheiße geritten, wie deine dich. Fast dieselbe Scheiße. Er sei seiner freiwilligen Ausreise entwischt, sagt er, der Schalk thront in den sich faltenden Falten auf seinem Nasenrücken. Und draußen? Keine Bleibeperspektive sagt er mit Anführungszeichen, und ist sich sicher, es liegt an seinem Namen: Assad. Kann man niemand verübeln, sagt er und zieht eine Schulter hoch, aber dass solche Leute Namen haben, verleidet so vielen Gleichnamigen ihren Namen. Du verübelst weder ihm seinen Namen, noch die Angst aller anderen vor diesem Namen. Und wahrscheinlich, denkst du, heißen viele Leute Assad und wahrscheinlich, denkst du, gab es auch Assads, die bleiben durften.

Assads Dilemma, ganz klar, übertrumpft das deine, musst du zugeben, würde ein Filmteam kommen, auf der Suche nach traurigen Geschichten, dann würden sie Assad ranzoomen, und nicht dich. Filmteams suchen immer die ärmste Sau, und du bist von außen betrachtet nur die zweitärmste. Ihr fallt als Gefangene nicht weiter auf, denn er trägt stets und stolz eine erschlichene Uniform des Toilettenpersonals, facility management, während du nicht auffällst, wenn du einen Anzug trägst. Wer Uniform trägt, muss sich nicht verstecken, ist es bereits, versteckt, trägt eine neutrale Maske im Gesicht, die keiner Schicht bedarf. So haltet ihr euch unter den anderen, den echten, auf. Ein Schlüsselbund und unauffällige Bewegungsfreiheit, auch vor den Überwachungskameras, das sind die Privilegien, die Assad genießt.

Er teilt sie, die Privilegien, mit einer Geste der Großmütigkeit und nicht ohne seinen Gesprächshunger an dir zu stillen, es ist eine beständige warme Dusche aus Worten, die du genießt, eine warme Dusche aus Worten, die zu Geschichten und Trivialem verschmelzen, die über deine Haut rinnen und deinerseits deine Sehnsucht nach menschlicher Nähe jenseits des gemeinsamen Wartens beruhigen. Ihr schlendert tägliche Sonntagsspaziergänge durch die Räume, zu denen nur Zugang hat, wer Uniform und Schlüsselbund trägt: die Räume des Zwielichts, des Aussortierten, des Sondermülls, der Schmuggelware. Ich frage mich: gibt es diese Räume in den Winkeln tatsächlicher Flughäfen überhaupt? Räume, in denen sich all das sammelt, was als Satz im Sicherheitsfilter hängen geblieben ist? Diesiges Licht und schwebender Staub und du musst an Keller denken, weil das Fenster so weit oben ist und in diesem Zwielicht die gesammelte Schönheit des Verbotenen, Äffchen, so klein, dass sie in Zigarettenschachteln passen, und blauschimmernde Aras, kreischend auf Elefantenfußhockern und ausgestopfte Krokodilkinder und Elfenbeinschnitzereien und aufgespießte Schmetterlinge, verstaubt prachtvolle Teppiche und grau und anorganisch Gaskartuschen, Weinflaschen, Behältnisse für Flüssigkeiten mit mehr als 100ml Fassungsvolumen, Folienpäckchen mit Pulvern und trockenem Grün, Pfefferspray, Messer mit langen Klingen, Feuerzeuge, Handfeuerwaffen und Deospraydosen, kategorisiert und in Halden aufgeschichtet.

Stell dir vor, wie du dir vorstellst, wenig von diesem Pulver zu probieren, und dich schließlich mit Assad in einer Art Kampfsex nackt auf den Teppichen zu wälzen. Stell dir vor, wie ihr, schon allein aus Langeweile und Fatalismus diese Vorstellung in die Tat umsetzt, und wie dir dein Flughafenleben immer erträglicher, ja geradezu schön scheint.

Wie alles ein bisschen mehr Farbsättigung, Kontrast und Tempo und Bass bekommt, wie ihr im Schutz des Flughafens ein Leben führt, das aufregender, wilder, gefährlicher aber sicherer wäre, als das Leben in der Welt, wie ihr manchmal und ohne Not Schnaps aus dem Dutyfree-Laden klaut, wie das Leben plötzlich so ist, wie in den Vorstellungen, als ihr euch das Leben noch vorgestellt habt. Du für immer im Homeoffice, und immer weniger im Homeoffice.

Die verwischend verschiedenen Gesichter der Duty-Free-Kassiereriennen, mit den immer gleich gleichgültigen Lächeln.„Where are you flying to today?“, diese ewigen Durchsagen und last calls, die asiatische Namen nicht aussprechen können, ihr lacht darüber, da im Flughafen von Bilbao, in diesem schönen Flughafen von Bilbao. Die Taube bleibt einfach sitzen, der Kampfjet hebt nicht ab, einfach weil. Das Gebäude reckt Schnabel oder Nase gen Himmel, atmet Freiheit und bleibt, wo es bleibt in Bilbao.

So wie auch du bleiben würdest, geborgen zwischen Werbeflächen und Wartesitzen und Schnapsläden und letztlich kommt es ja darauf an, auf das eigene Gefühl und zumindest mein liebstes und mächtigstes Gefühl, das weiß ich lang schon, ist die Gewohnheit, die hat immer zu Heimatgefühlen geführt, in meinem Supermarkt, meinem I-Phone, meinem Büro. Jetzt eben mein Flughafen, es würde doch so vieles einfacher machen, bequemer, nicht? Dein Flughafen, dein Heimatflughafen Bilbao.

Eva Schwindsackel: Von der Linde und dem Nadelwald oder Alles Glück dieser Welt

I
Schlau, listig, durchtrieben heißt es, ist der junge Fuchs Reinecke mit seinem blass gewordenen orangefarbenen Pelz. Seine einst glänzende Silberbrust wirkt schon seit Langem etwas matt und ergraut. Nach außen hin zeigt er sich aber weiterhin stolz und trägt den buschigen Schwanz beinah zwanghaft hoch zum Himmel empor. Die Ohren gespitzt, die Augen bemüht wach. Niemals müde, sondern stets gefeit – vor Gefahren, Verpflichtungen und unliebsamen Aufgaben. Raffiniert wie er so ist, kostet ihn das nicht mal sonderlich Anstrengung. Seine einst so leichten und flinken Pfoten sind ihm aber auf dieser Reise schwer geworden. Dennoch durchwandert er immer weiter, wenn auch träge sein Leben. Dabei stets auf der Hut und von Fernweh getrieben. Zahlreiche holperige Pfade hat er genommen, viele Begegnungen und Erlebnisse sind ihm auf seinen Reisen widerfahren.  Gänzlich alles meint er schon zu kennen und dabei alles und jeden zu durchschauen. Der Weg ist sein Ziel, glaubt er zu wissen.
Und plötzlich im tiefsten und erfülltesten Grün ändert sich alles.

II
Man sagt, störrisch und faul ist der kleine Esel Boldeqyn – nicht schlau, nicht listig und bestimmt nicht durchtrieben. Sein strubblig silbergraues Haar ist vom Wind zerzaust und von der Sonne verblichen. Etwas dünn ist sein Haar über die Jahre geworden, in denen er gelernt hat, sich in seinen Tagträumen gekonnt zu verlieren. Und trotzdem scheint das Silber seines Fells von Tag zu Tag mehr zu glänzen, das Leuchten in seinen Augen zuzunehmen. In seinen Gedanken frei – nämlich manchmal in einer ganz anderen Welt, in entfernten Ländern oder anderen Köpfen – liegt er doch am selben Fleck, in seiner Kuhle unter der alten Linde. Denn genau dort lässt er sich die Sonne auf den Bauch scheinen und ist dennoch zeitgleich unterwegs auf den gefährlichsten und schönsten innerlichen Reisen. Nah und fern, alles in
Einem.

Eines Tages also, als Boldeqyn gerade seit bald sieben vollen Tagen vom höchsten aller Berge durch wilde Schneestürme hinabbrauste, erreichte er ihn endlich: den lang ersehnten Sandstrand und die warme, smaragdgrüne See. Er fand dort unzählige Muscheln und leuchtende Edelsteine, sodass er sehr froh war, mit großem Schlitten angereist zu sein. Aber nicht das sollte den Ort so einzigartig machen. Denn das riesige Sandschloss, das er an jenem Ort bewohnte, hatte in seinem Innenhof den wohl prächtigsten Nadelwald, den die Welt je gesehen hatte. Und dort mitten im Dickicht, im sattesten Grün, erblickte er ihn. Die Sonne verriet ihn. Denn in dem grünen Nadelmeer erstrahlte ein schlafender Fuchs mit einem so glänzend leuchtorangefarbenen Fell, wie es Boldeqyn noch nicht mal aus seinen wildesten Träumen kannte.

III
Tief und fest und völlig frei von seinen sonst stetig kreisenden Gedanken schlief Reinecke und bemerkte weder den Esel, noch den Schlitten voller unzähliger Muscheln und leuchtender Edelsteine. Verblüfft über die Reinheit des Grüns in den Millionen Nadeln fand er dort ganz unerwartet in sich und bei sich selbst das Gefühl tiefster, echter Zufriedenheit. Ein Gefühl, das ihm völlig neu war. Sein ganzes Wesen schien hier aufzugehen und die vielen Pfade, die er genommen hatte, die sich bisher scheinbar völlig willkürlich an einander reihten, ergaben nun Sinn. Hier will er sein, hier will er bleiben. Niemals spürte er das mehr. Erst in diesem Grün angekommen, fühlte er die Müdigkeit in seinen Augen und er spürte die Strapazen seiner lebenslangen Reise. Denn nicht listig und getrieben wollte Reinecke einst sein, sondern lustig und dabei durch keinen, auch nicht durch sich selbst getrieben. Mit wahrlich stolzer Silberbrust erfährt er hier den wahren Wert von Freiheit, den er bisher glaubte, nur durch stetiges Reisen zu finden. Erst jetzt, wo er erstmals nicht mehr weiterziehen will, merkt er, dass es die gedankliche Weite ist, die ihm den Einlass zu allen schönen und fernen Orten gewährt. Schlau ist der Reinecke, merkt er doch gleich, dass dieser Ort etwas Besonderes ist: Ganz nah und gleichzeitig fern.

IV
Der Wind weht durch die Blätter der großen Linde. Boldeqyn spürt die warme Sonne auf seinem silbern glänzenden Bauch. Er öffnet die Augen und weiß, dass er nur geträumt hat. Noch ganz müde und bisschen faul, kommt ihm der so friedlich schlafende Fuchs in den Sinn. Doch von der späten Abendsonne geblendet, reißt es ihn plötzlich schroff aus seinen Gedanken. Störrisch geht er vor der blendenden Sonne in Deckung und wird plötzlich Zeuge eines sonderbaren Farbspiels auf seinem strubbeligen Fell. So schimmert es doch im warmen Abendlicht in einem feuerroten Leuchtorange, wie er es gerade noch inmitten des tiefen Nadelwalds gesehen hatte. Ganz erschrocken schließt er die Augen für einen Moment und erinnert sich an etwas, das lange her ist. Der Wind bläst ihm kräftig ins Gesicht, Bilder von Wäldern, Feldern, Städten, Gesichtern, schöne und schlechte Begegnungen fliegen an ihm vorüber.

Ganz außer Puste, mit Rastlosigkeit im Herzen und dem Gefühl einer schon viel zu lang andauernden Reise lässt er sich erschöpft in seine Kuhle sinken und wird sich bewusst: Glücklich ist er hier, ganz reich und wach fühlt er sich. Reich an Erfahrungen durch die Vielzahl seiner zurückgelegten Pfade, die vielen Begegnungen und Erlebnisse. Wach durch die farbenfrohen Bilder, die das Leben gezeichnet hat. Lustig, denkt er noch, als er zufrieden in die Baumkrone unter dem Himmelszelt blickt und plötzlich weiß, dass er Reinecke und auch den sattgrünen Nadelwald schon lange kennt. Seine Augen strahlen, als ihm klar wird, dass ihm aus allen Erinnerungen, ob durch sein innerlich oder äußerlich erlebtes Reisen, am Ende das gleiche Gefühl bleibt. Nämlich das Gefühl, genau an dieser Stelle den Sinn von Nähe und Weite, von Freiheit und Geborgenheit, alles in Einem gefunden zu haben. Und ein Lächeln tritt in Boldeyqns Gesicht und er ist glücklich, dass auch Reinecke endlich den Platz unter seiner Linde gefunden hat. Denn nicht immer bleibt der Weg das Ziel. Manchmal ist es die Rast, die einen an genau jenen Ort führt, hinter dem sich ganz unerwartet aller Sinn verbirgt und der sich wie aus Zauberhand in alles Glück dieser Welt verwandelt.