Matt S. Bakausky: Filmspiele

Ein Film. Kennst du ihn schon? Oder nur den Trailer?
Es dämmert dir. Es ist einer von diesen Filmen. Einer von vor jener Zeit. Die Ereignisse von dieser Zeit oder davor trugen dazu bei, dass Verbindungen in deinem Hirn aufgebaut worden sind. Oder wie dieser scheiß Apparat auch funktioniert. Einer dieser Filme, den du höchstens bis zur Mitte gesehen hast.
Cineastische Bildungslücken.

Der Film lief auf einem Computer im Stream. Eure vier Augen davor. Bis eure vier Hände woanders hinschauten.
Der Film wird zur Tapete für die dünnen Wände.
Eine Ummantelung für das Schamgefühl.
Es kommt zur Einführung, zum Wendepunkt zum Höhepunkt und dann zum Abspann. Kurzes Kuscheln bis sie zu reden anfängt. Post-koitale Tristesse.

Irgendwann war es vorbei.
Keine halben Sachen mehr bei den bewegten Bildern, keine dualistischen erotischen Erlebnisse von da an.

Und jetzt schaust du den Film zu Ende an.
Zum ersten Mal, denn du hast ja sonst nix zu tun.
Schließt die cineastische Bildungslücke.
Kannst dich danach in den Schlaf weinen oder betrinken.

Martin Knepper: Im Delta

»Die lutschen Schuppen einzeln ausficken will ich dir, du Geilforelle« brunft der ältliche Quapp und zieht sich schwerfällig den Sack über die Eichel.

»Ja, du Glibber–Nille, Fischpenis, brunftliche Quappe! Gib mir deinen Sex!« röhrt die Hommingberger-Gepardenforelle häutig mit einem Blubber voll Poppysmata zurück, in denen tighte Drallen wippen.

Fisch–Titten, meersteif kloppige Samentaschen, die joch über alge Otzen laichen, seifig verbohrte Schwimm–Labien in einer Eier–Jauche voll salzem Geil–Odel.
Während tropfe Präputiums–Ringe sich blasicht in warme Schlick–Löcher atzen, gründelt das spermatriefende Blasmaul wollüstig in seine Backen–Schlappen.

»Ribisel mich spritz in meine milchhungrige Nache, du schanker Rogen–Papst« murmelt sie verkitzlert.

drip-drop-drip-drop-drop-drop-drop,
drip-drop-drip-drop-drop-drop-drop,
drip-drop-drip-drop-drop-drop-drop…

Opake Perlen scheißen wundermild aus der Cervix–Ritze ab, in der schon umgezählt halb–lunge Riemen–Schlacken sintern. Abgespritzte Bartfäden rüsseln bohrig über einen pintdicken Obernippel, auf zwischenriffen Keuchpolstern und in Kavernen voller fischem Geilschmand.
Die krustenvermuschelte Tidenfut bibberig gegen den samen Fischpenis gekeilt, schubert die Hommingberger-Gepardenforelle nach dem Abendspritz, doch der blasentange See–Hengst kann da nur buffen:

»Meine marine Suppe soll ich dir in den Eiersack löffeln, du zweitmeistangeklickte Korallen–Hure? Dich durchnagelte Krill–Schlampe limnisch in deinen tropfnassen Wixberg dengeln? Ich will dich vor mir schwänzeltanzen sehen, schnorchel mich aus, du linkfisches Sielmännchen… «

Keiler und keiler simst die kaltblütige Klimaxfrequenz, ihre Fotz–Flossen stacheln schon, der Quapp riemt und riemt, eine vorlaufe Fischbrühe des onanierenden Pupfischs von der dritten Strömung untermischt die Labe, die Hommingberger-Gepardenforelle und der Quapp tauchen ab in bohrem Kreisch, immer ratzinger verpilzt sich ihr gemeinsames Kloaken, «Wella! Wella!“, sprudelt sie ohne jeden Zander.

Und immer froscher nimmt er sie, verpasst den strullen Barten einen Zilpzalp, setzt da einen untermeerischen Schleimgriff, dort einen Prong voll Tuff, ganze Laken buttet er über sie, eine Tsunami flutet ihre Schwimmblase, unablässig pumpt er eiweißen Zagel–Schleim in die tauchtiefe Plankton–Spalte, der im Schnief die Kiemen keiteln.

Es ist vorbei.

Die beiden Geilfische entmannen sich ungeschlacht, grützen ihre Rochen auf und orgeln verblasen in den Cunnus.

Kuku Schrapnell: Sex

Dass man dieses ganze miteinander und sozial sein ins internet verlagern kann, ist ungefähr so streitbar wie die Frage, ob trans Frauen Frauen sind: Wenn man nicht über 50, erschreckend konservativ und/oder die Autorin einer mittelmäßigen Fantasy-Jugendbuchreihe ist, ist das keine Neuigkeit mehr. Aber geht Liebe im Internet?

Immer wenn ich eine neue grindr Nachricht bekomme und dieses zärtliche Klopfen aus meinem Handy kommt, fängt bei mir gleich dieses Kopfkino an. Ein süßer Typ und wir chatten ein bisschen hin und her. Es geht viel um Ängste und Sorgen, aber auch Möglichkeiten und Hoffnungen und witzige Absurditäten aus dem Ausnahmezustand. Nach ein paar Tagen und viel hin und her und ewigem Abwiegen treffen wir uns doch, weil wir es einfach nicht mehr aushalten. Natürlich draußen mit Abstand und doppelt verschämt und schüchtern und Mundschutz und Handschuhe und alles. Zwei Meter auseinander gehen wir am Kanal entlang und gucken uns einfach nur immer wieder an. Weil es ein sonniger Tag ist, setzen wir uns dann doch noch ans Ufer und reden ein bisschen. Dann kommt aber schon die richtige Ausgangssperre und uns bleibt nur noch Skype. Das wird zunehmend romantischer aber auch ein bisschen anzüglich.

Es fängt an mit ein bisschen Haut hier und da und einem immer aufreizenderen Hüftschwung, wenn ich “nur noch mal schnell was holen gehe. Nachdem die eh schon geöffnete Bluse das dritte mal runterrutscht, wird sie schließlich ans andere Ende des Zimmers befördert. Die restlichen Sachen folgen auch recht schnell und wir sitzen erstmal eine Weile da und gucken uns an. Dann gehts aber natürlich auch rund. Wir zeigen was wir mögen und fragen, was der andere will. In einer kleinen Werbeunterbrechung werden die Sextoys vorgestellt (mit Namen und Funktionen) und live getestet. Dabei muss jedes einzelne Spielzeug in folgenden Kategorien bestehen: Farbe, Vielseitigkeit und “Würde ich Daten, wenn es ein ganzer Mensch wäre”. Danach wird es albern, weil irgendjemand von uns beiden auf die Idee kommt, Olivenöl aus der Küche zu holen, weil sonst nichts in der Richtung da ist. In der kurzen Pause reden wir über unsere Lieblingsbratgerichte. Dann geht es aber auch nochmal zur Sache und am Ende schlafen wir beide vor dem Laptop ein.

In der Zwischenzeit bricht draußen die Wirtschaft zusammen und wir werden Teil einer im Darknet operierenden Widerstandsgruppe, die einen Anschlag auf den mittlerweile immunisierten Friedrich Merz vorbereitet, der sich zum europäischen Alleinherrscher aufgeschwungen hat. Das Attentat scheitert zwar, aber es gelingt uns trotzdem irgendwie ihn zu stürzen und alles ein bisschen besser zu machen. Drosten hat ein Heilmittel erfunden und während die Menschen wieder auf die Straße strömen und singen und tanzen und die Räterepublik ausrufen und andere süße Albernheiten, stehen er und ich auf einem Hügel, ein wenig abseits. Das erste mal sehen wir uns ohne Mundschutz und so und es kommt zum ersten Kuss, während im Hintergrund die Band anfängt zu spielen, aber die Band sind auch einfach alle und es ist nur kurz chaotisch und dann sehr schön.

Leider schreibt mir auf grindr aber immer nur der Detlef aus Markkleeberg, der schnellen Sex am liebsten outdoor sucht.

Matt S. Bakausky: Gefühlte Zeit

Rutsche auf dem Bürostuhl hin und her. Starre auf den Monitor.
Draußen, tief unten, stehen Autos im Stau. Umleitung.
Weißt du noch damals als der Helikopter gelandet ist und der Pilot sich einen Döner geholt hat?
Okay, das war wohl nur ein Tagtraum.
Seiten aufrufen. Nachrichten die täglich gleich aussehen, nur dass unsichtbar das Wort „Neu“ davor steht. Immer sichtbar die Uhrzeit in der Startleiste. Die Zahlen verändern sich umso seltener, je öfter du darauf schaust.

Dein Kollege gegenüber macht Tippgeräusche auf seiner Tastatur und sagt etwas zu dir. Zumindest denkst du für einen kurzen Moment, dass er ein Gespräch beginnt. Doch ein Blick verrät, dass er ins Telefon spricht. Eine Fliege liegt bewegungslos auf dem Fensterbrett. Die hat für heute bereits genug getan. Du breitest deine Flügel aus und fliegst durch das Fenster über die Autos hinweg ins Paradies. Ein weiterer Tagtraum.

Der Kaffee ist kalt und schmeckt wie kalter Kaffee schmeckt. Du hörst ein Klingeln, willst an die Tür gehen, doch dein Kollege ist schneller. Der Paketbote ist an der Tür, abgehetzt. Zack, zack, schnell hier unterschreiben. Dein Schreibtisch sieht tipptopp aus. Du hast ihn vorhin aufgeräumt. Laut der Uhr in der Menüleiste ist seitdem erst eine viertel Stunde vergangen.

Webseiten öffnen. Uninteressante Nachrichten. E-Mails abrufen, keine neuen Nachrichten. Nicht mal ein Newsletter. Der Spamfilter ist fleißig. Die Autos unten bewegen sich in müden Schritten.
Du überlegst an deinem Hobbyprojekt zu arbeiten. Die Computermaus steuert den Mauszeiger langsam Richtung Menüleiste.

Dein Blick wandert wieder auf die Fliege.  Sie ruht sich immer noch aus. Wahrscheinlich ist sie tot. Ja, sie ist hier gestorben. Das musst du wohl zugeben. Sie ist hier gestorben. Aus Langeweile.
Noch ein Schluck vom kalten Kaffee, der wie kalter Kaffee schmeckt.
Du nimmst einen Kugelschreiber und schiebst damit die Fliege in den Mülleimer. Die stört das gar nicht.

Herrmann Asien: Über die Langeweile

Wie konnte es für eine Person des 21. Jahrhunderts, die ihrer Gegenwart entsprechend lebte, sich Technikfortschrott (eigentlich ein Vertipper – das i liegt auf der Tastatur gleich neben dem o – da es aber ein sehr, sehr dummes und langweiliges Wortspiel ist, lasse ich es drin im Text, auch weil die Erklärung für das Drinlassen so schön egal und überflüssig ist + die Klammer nach dem Schließen vergessen lässt, wie der Satz eigentlich weiter oben begonnen hat) und Arbeitswelt nicht verweigerte, überhaupt so etwas wie Langeweile geben?

1. Texte generell immer mit einer sehr langen Frage beginnen.

Sie muss nicht unbedingt polemisch sein, aber es kann helfen, wenn sie sehr verallgemeinernd gestellt ist, z. B. „Alle Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig, so dick und eng oder so dünn und weit sie ihre Netze auch gespannt haben, ob fette Kreuz- oder langbeinige Schnakenspinne – Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“

So wird zu Beginn gleich ein Problem beschrieben (die „Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lusitg“), dem eine mögliche Erklärung mitgeliefert wird (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“), die allerdings erst bewiesen werden muss (daher als Frage gekennzeichnet wird). Je entfernter das Problem („Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig“) und seine Erklärung bzw. Lösung (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“) voneinander sind, desto mehr Spannungsmöglichkeiten eröffnen sich im fortlaufenden Text.

„Heuer ging es famos in die erste Runde der schlecht verdichteten Zugriegelbausteine, falls noch Interesse daran bestünde, liebe FB-Freunde, bitte nur per PN melden.“

Spätestens hier steigen Leser*Innen aus der Lektüre aus, da nicht nur kein direkt erkennbarer Zusammenhang mit dem vorangestellten TextTEASER – wie wir Journos zu sagen pflegen – besteht, sondern auch der semantische Kitt dieser Wortzusammenstellung undefinierbar bleibt. Was sind „Zugriegelbausteine“? Von welcher „Runde“ sprechen wir? Weshalb ist von sozialen Netzwerk „Facebook“ (FB) die Rede? Und was haben die eingangs erwähnten Spinnen vor Küchenfenstern damit zu tun? Statt eines langsamen detektivischen Erklärungsspiels, wirft der Text nur noch weitere kryptische Rätsel auf. Das Interesse der Leser*Innen versiegt. Was sich allerdings inhaltlich nach diesem scheinbar zusammenhangslosem Einstieg abspielt, kann nur mit folgender, gleichnishafter Short Story aufgelöst werden:

Die Frau, die aus Langeweile die Welt rettete und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstörte

Als sozialem Geschlecht „Frau“ der klaren biologischen Kennzeichnung „Phänotyp weiblich“ und dazu in Relation stehend, dem Menstruationszyklus (volksmundig Monats- oder Regelblutung, Emma, „Hast du auch wieder ein Schwein geschlachtet“ genannt) ausgeliefert, als Mutter nicht nur mit dem Austragen, sondern auch mit dem Gros der Erziehung der Kinder beschäftigt, zusätzlich dem sexistisch-patriachalen Sozialgefüge unterworfen, konnte es Langeweile streng genommen nur in einem geschützten, konsequenzlosen Raum geben. Etwa in einer idyllischen Nachmittagsszene auf dem bürgerlichen Gartengrundstück eines Charlotte Brontë Romans (ohne die Anwesenheit der Männer und Kinder) oder eben in folgender kleiner, von mir völlig frei erfundener Geschichte:

„Boah, ist mir langweilig!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. Lange war der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde, nicht mehr so langweilig gewesen wie in diesem Moment, als sie, die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, feststellte, dass ihr, der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile zerstören würde, unglaublich langweilig war. „Erstaunlich!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile wieder zerstören würde. „Was fange ich denn jetzt mit mir an?“, fragte sich die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. „Ich könnte“, fuhr die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, in Gedanken fort, „die Welt retten.“ Die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, kontemplierte eine lange Weile über diesen Gedanken und entschied schließlich: „Aber jetzt noch nicht!“ Sie hatte vage in Erinnerung, dass der Literaturnobelpreisträger Peter Handke ein Buch über die Langeweile geschrieben hatte. Es hieß, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, „Über die Langeweile“ hatte sie nie gelesen (ich übrigens auch nicht) und hatte das auch nicht vor. „Wie langweilig muss mir sein, dass ich Peter Handke lese?“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, und drückte auf den Weltzerstörungsknopf der Weltzerstörungsmaschine, vor der sie schon die ganze Zeit gesessen hatte. Flugs darauf änderte sie ihre Meinung aus einer Laune (Langeweile?) heraus und rettete die beinah zerstörte Welt, indem sie den Weltrettungsknopf betätigte. Kurz danach drückte sie aber doch nochmal (Achtung: Switcheroo!) auf den Weltzerstörungsknopf (absichtlich).

Um zu einem befriedigenden Ende eines jeden Textes zu gelangen, empfiehlt es sich, einen schönen Bogen zum Anfang zu schließen. Folgende Zeichnung kann für diesen Zweck stellvertretend eingesetzt werden:

Ein Strichmännchen mit ausgestreckten erhobenen Armen und grimmigem Mondgesicht steht neben einem von oben herabhängendem laufenden Duschkopf. In einer großen Sprechblase über dem Strichmännchen stehen folgende zwei Sätze: „Unter diese Dusche geh ich nicht! Diese Dusche nehm’ ich nicht!“

Kristof Künssler-McIlwain: LoversRock

Ich kam aus einem Land das nicht mehr existierte, und ich wollte an einen Ort, der nie existieren würde. Ein paar Jahre nach der Wende – ich muss zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein – war meine Mutter über Nacht mit mir und meinen drei Schwestern aus der Ostzone ins benachbarte Nordbayern gezogen. Von der Provinz, wo niemand etwas besaß in die Provinz, wo alle sehr viel besaßen, außer uns. Den Eltern der anderen, knorrigen Dialekt würgenden Kinder gehörten nicht nur die Häuser in denen sie wohnten, sondern auch das in dem wir wohnten, und auch das Autohaus daneben, und die Arztpraxis im Nachbarort.

Meine Mutter hatte sich zum zweiten Mal scheiden lassen, und nun spielte auch der zweite Vater keine Rolle mehr in meinem Alltag. Ihrem gelernten Beruf konnte sie der rigorosen Gesetzeslage im Freistaat wegen nicht mehr nachgehen, sodass sie – alleinerziehend mit vier Kindern – auf Jahre auf mehrere parallel zu absolvierende Shit Jobs angewiesen war, die mich bis heute fragen lassen, wie sie daran nicht zerbrochen ist. Woran denkt man, wenn man nach acht Stunden aus dem Sekretariat einer Baufirma zu einem weiteren Halbtag in der Küche beim „Griechen“ fährt.

Selbstredend war ich Außenseiter by design, wie jedes Ostkind, das nicht gerade von Westlern adoptiert, schnellstens neu eingekleidet und zum Logopäden geschickt worden war. Bei Exkursionen kam es vor, dass nur ich nicht mitfahren konnte, weil meine Familie die einzige war, die sich die Frage stellen musste, ob das bezahlbar war. Nach ein paar Jahren war ich alt genug, dieser Rolle etwas abzugewinnen, so wie jeder verlorene Teenie, der sich die eigene Verkorkstheit als Alleinstellungsmerkmal hindreht, um nicht den schlimmsten aller Wege gehen zu müssen, über Leistung anerkannt zu werden. Mit fortschreitender Zeit entwarf ich mir eine diffuse Punk-Identität, sah aber enorm scheiße aus, und wollte auch kein Nihilist sein, dafür fand ich zu viele Dinge eigentlich gut. Meine Punker-Gehversuche hatten mich jedoch in Kontakt gebracht mit einer Spezies, die mich faszinierte aufgrund ihrer ausdefinierten Widersprüche. Mein Sehnsuchtsort war eine Subkultur, ausgerechnet die der Skinheads.

Es gibt viele Typen die die Rollenanforderungen eines Skinheads erfüllen, mein fünfzehnjähriges Ich gehört nicht dazu. Man denke an eine dieser flockigen Rollentauschkomödien: Wie mache ich aus Cameron Diaz einen Schwergewichtsboxweltmeister. Ich trank – von wenigen Winterapfel-Exzessen als 13Jähriger gebrandmarkt – grundsätzlich keinen Alkohol, war noch dazu Vegetarier; ich hatte Respekt vor der entsprechenden Klasse, aber nicht das geringste Interesse an oder gar Wertschätzung für Arbeit übrig; ich war der Meinung, dass Frauen weder begrapscht noch bejohlt gehörten; ich war ein nachdenklicher, halb leptosomer Schatten, der vom ersten Kuss ein halbes Jahrzehnt entfernt war. Ich war Mrs. Doubtfire mit Buzzcut und Stahlkappenstiefeln.

Gerade in den mittleren Neunzigern tatsächlich schwer vermittelbar war, wie groß das Missverständnis ist, dass Skinheads und Neonazis das selbe seien. Skinheads entstanden Ende der 60er Jahre als britische Jugendkultur aus den Mods, anfangs gar teilweise einfach nur kurzhaarig, mit verbeulten Pullundern, Arbeitsstiefeln und Jeansjacken, und genauso kommunistisch, rassistisch oder realitätsverweigernd wie ihre schuftenden Verlierereltern. Traditionell war der urbane Teil stark durchsetzt mit schwarzen Jungs und deren Liebe zu karibischer Rowdy-Musik, sodass Ska und die frühen Spielarten des Reggae wie Rocksteady und Lovers Rock essentieller Bestandteil der Skinheadkultur wurden. Wir reden von einer Zeit, als Arschritzenschweiß-beseelter Oi!-Punk noch über zehn Jahre auf sich warten ließ. Erst in den Achtzigern schaffte es die National Front erfolgreich, Skinheads gezielt für sich zu gewinnen, das gesellschaftliche Klima half nach, die Glatzen wurden kürzer, der Stil martialischer, und so wurden aus schicken Skins unansehnliche Naziskins mit Stiefeln bis zum Kinn. Nur wenige Jahre später war dieser Trend dann auch im restlichen Europa und den USA angekommen, der Rest ist Geschichte. Dieses Referat hat jeder antifaschistische Skinhead (je nach Radikalisierungsgrad „Skinhead Against Racial Prejudice“ oder Redskin) in den Neunzigern circa wöchentlich gehalten, und jedes mal Eltern/Lehrer/Großeltern/… hinterlassen, die ratlos den Kopf schüttelten ob der komplizierten Identitätswahl, wenn es doch auch einfach Bumstechnobiene oder Bauer hätte sein können, wie bei den meisten anderen Provinzteens. Sich von verpickelten männlichen Jungfrauen ohne Schambehaarung „Lovers Rock“ erklären zu lassen würde auch mir viel Geduld abfordern.

Aus mir wurde ein etwas verdrießlich wirkender Teenager, der erfolgreich etwas performte, das die anderen nicht waren, nie sein könnten, und ich war auf meine Weise einzigartig, für mich. Meiner Wahrnehmung zufolge gab es im kompletten Landkreis ungefähr zwei weitere Skins, die aber intellektuell in niedrigeren Ligen spielten. Mein Style entsprach der nerdigen, verkopften Interpretation eines Phänomens, welches weiter entfernt nicht sein könnte. Das Internet gab es noch nicht, das Identitätspuzzle in meine Kopf speiste sich aus Konzertbesuchen, mit der Post bestellten Fanzines und Plattencovern. Es gab keine Skinhead-Gang oder gar Szene deren Teil ich war, aber das war Teil meiner Performance, ich wollte ja auch deren Feedback lieber nicht haben.

Genaugenommen waren Kontakte zu „echten“ Skinheads, wenn sie denn stattfanden, eher unangenehm. Schwer atmend würden sie in meine Richtung kriechen, witternd dass ich keiner von ihnen war. Ich bevorzugte meine eigene Subkultur, mit mir als einzigem Protagonisten.

Als ich mittels Wochenendticket – damals dem Gegenwert eines Schnitzels mit Salat entsprechend – allein dreizehn Stunden und zehn Umstiege zu einem Ska-Festival nach Potsdam auf mich genommen hatte, sprach ich ca. 48 Stunden am Stück kein Wort außer „Ein Spezi bitte“.

Niemanden kannte ich, niemanden wollte ich kennenlernen. Ich inhalierte die Musik. Die schon weit über 50jährige Phyllis Dillon live zu sehen war eine Messe, und ihre Stimme eine bis heute andauernde Liebe geblieben. Als ungelenk wackelnder bebrillter Skinhead-Darsteller im viel zu großen Button-Down-Hemd wurde ich von älteren Typen ausgelacht, im Einmannzelt las ich John Irving, während um mich herum gebumst wurde, in jede zweite Frau verliebte ich mich wegen des Styles. Mein Horizont war näher an dem der nicht wenigen mitgebrachten Kinder in Lonsdale-Babyshirts als an dem ihrer Eltern. Dennoch lag mir meine Rolle, ich blieb in jeder Hinsicht eine Besonderheit, und hatte etwas gefunden, das nur mir gehörte. Ich war anders als meine Altersgenossen, und anders als meine Eltern. Das ging ein paar Jahre so weiter, bis ich Freunde fand, die mich merken ließen, dass es auch in anderen talgigen Nischen meine jeweilige Entsprechung gab. Wie umgekehrte Superhelden mit eigener Witzidentität und spezifischem Nerd-Skillset. Analog zu Schulhoffreaks wurden wir eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gegenseitig Dinge zeigt, auf Konzerte fährt, nicht trinkt und nicht feiert, und so unschuldig in die Volljährigkeit schwebt, möglichst ohne auf die Fresse zu bekommen.

Irgendwann realisiert man, dass das Ich sich häutet, immer wieder. Manchmal erahnt man noch den Madenkörper der da mal war, mal bleiben wenige klebrige Fäden haften, aber eigentlich entschuppt man sich permanent, und man hat zum Glück Menschen gefunden, die einem dabei helfen. Jahre, Jahrzehnte später merkt man dann, dass jener erträumte Sehnsuchtsort natürlich eine Illusion war, aber auch, dass man als suchender Teenie nichts besseres hätte imaginieren können. Wer mit vierzehn nicht scheiße aussah, hat etwas falsch gemacht. Man entdeckt neue Liebe zu den kleinen Details von damals, die Rocksteady-Balladen schmecken mit Gin viel besser.

Man merkt noch mehr, wie sehr die Herkunft eine Rolle spielt, im Rückblick. Dass andere sich nie häuten konnten, weil manche Haut, manches Milieu nicht abgelegt werden kann vorm Blick der anderen. Man merkt, wer einfach mit austauschbaren Accessoires kokettierte, weil er/sie es sich leisten konnte, den Zeh kurz in die Subversion zu dippen; und wer wirklich eintauchen musste in

einen Fluss, der einen Hauptsache nur weg schwemmt.

Man sieht auch – vielleicht zum ersten Mal – die Stromschnellen, die andere absaufen haben

lassen, und die man selbst nicht mal bemerkt hat. Weil man ein weißer Hetero-Typ war, kein

Objekt, kein Körper mit nur Brüsten, weil man doch ein wenig freiwilliger das ist was man ist. Man ist erschrocken, wie wenig über das Absaufen geredet wurde, weil es doch ziemlich häufig vorkam, mit dem heutigen Blick. Und man wünscht, man hätte nicht nur seinen Schwestern zugehört, sondern auch anderen Frauen, und denen die sich den albernen Sehnsuchtsort nicht aussuchen können; denen, die trieben im Fluss, ohne Schutz.

Das freiwillige Eintauchen in eine „alternative“ Identität ist eine Self-fulfilling Prophecy, nie wirklich dazuzugehören. Verlorenheit als – auch unbewusster – Weg ist anfangs ein Thrill, weil er die Suche beinhaltet, die Versprechung. Irgendwann weicht alles einem Arrangieren mit der Tatsache, dass Suche nicht automatisch mit dem Konzept Ziel verknüpft ist. Dass die Verlorenheit keiner Verpackung mehr bedarf, die sie als solche erkennbar macht. Man performt nicht mehr die Verlorenheit, sondern ihre vermeintliche Abwesenheit. Man ahnt, dass man schon als Teenager keine andere Wahl hatte, als in den Fluss zu springen. Man bildet sich ein, man hätte seichte Uferböschungen gefunden, wo einem die Strömung nichts anhaben kann. Weil um einen herum so viele einen festen Boden unter den Füßen haben, schon immer hatten. Dabei musste man nicht einmal tatsächlich ins Wasser springen, man war schon lange mitten im Strom gewesen. Weil schon die Eltern darin trieben, und nie richtig Halt am Ufer gefunden hatten.

Lea Schlenker: Mandelmilchmädchen, Teil 1

Meine Katze springt auf dem Bett herum und kratzt gewissenlos am Bettlaken. Sie wird nicht aufhören, ehe sie bleibende Spuren hinterlassen hat. Ich ignoriere sie trotzdem, ich streite nicht mehr mit Katzen. Dafür bin ich zu abergläubisch. Nach den Ereignissen des heutigen Tages werde ich vermutlich noch mehr als einfach nur abergläubisch sein – dazu jedoch später. Die Katze habe ich, seit ich mich scheiden haben lasse und nun alleine in dem Haus lebe. Versteht mich nicht falsch, ich mag die Einsamkeit. Ich führe ein gutes Leben. Aber manchmal wird es doch ein wenig, wie soll ich sagen, langweilig.
Aber heute konnte selbst die Katze keine Ablenkung bieten. Die Langweile liegt heute träge und dick in der Luft, die Zeit schreit geradezu danach, dass man sie leerlaufen lässt und keinerlei Inhalt in den Tag füllt. Ich spielte schon fast mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen, obwohl laut Wettervorhersage noch Gewitter drohten. Nicht gerade ansprechend ohne Regenschirm. Ich wohne in einem pinken Haus am Ende der Strasse, gleich am Hügel neben der Autobahn nach Bellinzona. Niemand von den anderen Hausbesitzern im Quartier kennt mich, und ich kenne sie auch nicht. Ich bin auch nicht sicher, welche Häuser bewohnt sind und welche nicht. So etwas wie Quartierfeste und Nachbarschaftstreffen gibt es hier nicht. Wenn es sie gäbe, würde ich von hier wegziehen.

Unruhig suchte ich nach meinem Telefon, um etwas in die Finger zu kriegen, nebst den gesalzenen Caramelbonbons, die ich heute unaufhörlich verschlinge. Nebenbei giesse ich zum zweiten Mal heute die Blumen und Pflanzen, die ich auf dem Balkon habe. Natterkopf, Ochsenauge, Basilikum, Glockenblumen, Wiesensalbei und der Zitronenbaum. Ich hoffe, das Wasser tut ihnen gut. Am Horizont lassen sich schon finstere Gewitterwolken blicken und eine tonnenschwere Hitze macht sich draussen breit.

Ich versuche meine Mutter zu erreichen. Wie es scheint ist sie momentan nicht zuhause. Derzeit arbeitet sie als Putzkraft an der Universität von Lugano, vielleicht hat sie heute auch Dienst. Sie ist immer schwer beeindruckt vom imposanten Gebäude der Hochschule. Ich hätte gerne eine richtige Ausbildung gemacht, am liebsten sogar studiert. Es gibt viele Themengebiete, die mich spontan ansprechen würden, bei denen ich gerne mal in einer Vorlesung gesessen und einfach mal zugehört hätte. Aber in meiner Familie wäre das nicht gegangen. Deshalb habe ich mich für eine Berufsausbildung entschieden, aber nicht einmal die bekam ich auf die Reihe. Aber das spielte keine Rolle.
Ich bin eine Macherin, und ich bin mutig. Ich habe bei Miss Schweiz mitgemacht, wurde drittplatzierte und arbeite seitdem als Unternehmensberaterin. Mir war nie wieder langweilig, bis zu dem heutigen Tag. Diese Langeweile. Ich wusste nicht, in welches Gefäss ich sie füllen konnte, oder ob sie einfach aus mir auslaufen würde wie Batteriesäure. In der Küche wurde es zunehmend dunkler, vermutlich vom Gewittereinbruch. Ich möchte das Licht anmachen und werfe einen Blick auf den Balkon. Da wurde mir klar, dass die Dunkelheit nicht vom bedeckten Himmel herkommt.

Mein Balkon ist zwar klein, mir aber heilig. Wenn ich nicht in den Garten runtermöchte, sitze ich hier und trinke ein Glas Wasser mit Melonenstücken, Orangenscheiben und Minze drin. Ich habe zwei Stühle und einen kleinen runden Tisch, der mir schon seit Jahren dient. Und natürlich die Pflanzen, die den Balkon etwas bunter gestalten, mittlerweile mir aber die Sicht und das Sonnenlicht versperren. Bei Pflanzen ist es generell ja so ein Ding – man merkt nicht wirklich wie sie wachsen, bis dann plötzlich mal die Blüten zum Vorschein kommen. Ich kann aber ohne Zweifel sagen, dass diese Pflanzen seit dem letzten Wassergiessen vor ungefähr zehn Minuten beträchtlich in die Höhe geschossen sind. Die Stiele wirren wie wild bis zur Balkonabdeckung, manche der Töpfe haben Risse bekommen, weil die bereits blühenden Knospen sich nach allen Windrichtungen ausdehnen. Zweimal Wasser pro Tag ist offenbar fataler als man annehmen könnte. Von hier sehen sie aber trocken aus, beinahe ausgedörrt. Die Blüten beginnen abzublättern und fallen mir ins Gesicht. Aber all das ist noch nichts zum Vergleich, was mit dem Zitronenbaum passiert. Wo neben dem Zitronenbaum eine Wand war, ist bloss noch eine verwachsene grüne Fläche, worauf der Zitronenbaum seine duftenden Blüten und Knospen spriessen lässt. Wenn ich mich nicht täusche, sehe ich bereits kleine Früchte zum Vorschein kommen. Früchte, die ich dabei beobachten konnte, wie sie von grün zu gelb werden. Ich sehe nur noch durch die Wucherungen heraus ins Freie, aber eigentlich könnte ich jetzt überall sein. Ich weiss nicht mal mehr, ob ich das Meer oder die Autobahn rauschen höre.

Ich renne wieder in die Wohnung. Im Badezimmer spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und höre mein Herz pochen. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Vermutlich hatte ich einen Autounfall, liege im Koma und träume einfach wie wild. Aber auch wenn das bloss ein Traum ist, muss ich trotzdem dafür sorgen, das Unkraut auf dem Balkon loszuwerden.
Ich gehe wieder nach draussen. Auf dem Balkon ist kaum mehr Sonnenlicht zu sehen, dafür eine unheimliche Vielzahl an Pflanzen. Ich fühle mich in eine prähistorische Zeit versetzt. Die Zitronen hängen gelb und prall von meiner Wand herunter. Dabei sind es aber keine normalen Zitronen. Ihre Schalen sind von Wucherungen bedeckt, von kleinen scharfen Zähnen, die nebeneinander wie ein Gebiss aneinandergereiht sind. Dort, wo bei einem Menschen Augen sind, sind kleine Vertiefungen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt sind. Verflucht, wenn das jetzt mein Augenarzt sehen würde! Na ja, vermutlich wäre er bereits schon umgekippt. Ich bilde mir ein, dass die Zitronen alle aus ihren nassen Augenwinkeln zu mir rüber starren. Wobei ich den Ausdruck einbilden schnell wieder zurücknehmen muss.

Die Zitronen drehen sich nach mir, wachsen in Rekordschnelle zu mir rüber, bis sie nur wenige Zentimeter auf Augenhöhe mit ihrem messerscharfen Haigebissen bei mir sind.

Ich möchte mich rühren, habe aber wohl vergessen, wie das geht.
Das passiert manchmal so auf dieser Welt.

Theobald O.J. Fuchs: Langeweile

… Langeweile, bleibe kurz … doch noch bei mir …. weil noch lange will ich hier … mich
nach Kürze sehnen … möcht‘ die Zeit noch dehnen … kein Wechsel, auf dem Dache
gurrt’s… eilt sie doch sowieso … du verweilest viertelfroh … so lang du willst … im Walde, wo lange … ach ganz lange Zeit … ziemlich exakt gar nichts … geschehet … denn sehet… uns war fürchterlich langweilig. Fürchterlich. Freitag Mittag schon. Dann wurde es Nachmittag, dann Spätnachmittag, dann Abend. Dann stiegen wir zu acht in Mutters Kleinwagen. Ich, mein kleiner Bruder, Volker, Bernd, Stefan, Thomas, Michael und Andreas. Acht mal schwarze lange Mäntel, acht mal schwarze Lederstiefel. Acht mal Lidschatten und rote Lippen. Acht mal verworrene Vorstellungen von Existenzialismus und die neue Platte von Cure im Kopf. Acht mal unbegrenzte Vorräte an Langeweile.

Langeweile war das stärkste Gefühl in meiner ganzen Kindheit. Ununterbrochen war nichts los. Leben hieß sich ständig langweilen, jeder, den ich kannte, tat das in Vollendung, wie mit einer umgedrehten Superkraft, die allen geschenkt war. Bis ich Menschen entdeckte, die ich nicht langweilig fand. Sondern interessant. Mädchen. Sie übernahmen das Ruder als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war. Vorher nur Langweile. Vor allem in der Schule. Die mir darüber hinaus noch den Schlaf stahl, den Schlaf am Vormittag, den ich so sehr schätzte. Denn nur in dem einen oder anderen Action-Traum war mir für kurze Zeit nicht langweilig.

Immerhin lernte ich in der Schule andere Jungs kennen, die sich ebenfalls langweilten.
Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas. Und nun waren wir unterwegs, mit dem kleinen Auto viel zu schnell über die langweiligen Hügel, dann in das langweile Dorf im drittnächsten Tal. Eine langweilige Siedlung am Ortsrand, ein Einfamilienhaus ohne Eigenschaften, eine verendete Party, irgendwelche Bekannte von irgendwem, dessen Eltern irgendwo waren. Schauen kurz vorbei. Geht klar, kein Problem. Wir haben Bier mitgebracht. Kommt rein.

Bernd brachte sich ein paar Jahre später um. Sagte man jedenfalls, nachdem er seinen geliebten Benz auf freier Strecke am hellichten Tag an einen Brückenpfeiler. Die Party war daran aber nicht schuld gewesen. Sie war lediglich langweilig, lediglich unfassbar langweilig. Unfassbar.

Ich hatte gehofft, dass Frauen da wären. Vergeblich. Oder gutes Essen. Pustekuchen. Wenigstens eine spannende Verrücktheit. Ein seltsamer Apparat zum Beispiel, an dem in der Werkstatt gebastelt wurde. Ein Tandem-Maulwurfsgleiter oder eine Fallschirm-Video-Anlage. Ich wäre sogar mit einer dänischen Schnapsbar zufrieden gewesen, mit einer westfälischen Streckbank, einem defekten Hobby-Hochofen, einer Telefonbuch-Zerreiß-Maschine im Keller, einer Karpfenhaut-Handtaschen-Sammlung – irgendetwas nur, das nicht langweilig war.

Aber alles nichts, nur vier Typen mit langweiligen kurzen Haaren, langweiligen Jeans, langweiligen Hardrock-T-Shirts. Sie hießen Thomas, Stefan, Bernd und Michael. Es lief langweiliger Hardrock aus einer langweiligen Kompaktanlage von Quelle. Die Vier saßen auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und spielten ein langweiliges Spiel mit Würfeln.

Ja, sagte mein Bruder. Ja, sagte Thomas. O.k., sagte Stefan. Und Volker sagte: stimmt. Ein langweiliges Gespräch also.
Die Würfel klapperten ohne uns. Wir tranken schweigend Sekt, kontrollierten unsere Leningrad-Cowboy-Frisuren im Spiegel im Hausflur. Wir waren irgendwie mega… dann stiegen wir wieder zu acht ins Auto. Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas, mein Bruder und ich. Wir sagten nicht tschüss, wir fuhren solange durch die Nacht, bis wir links vorne die Stadt. Da war dann echt was los.

Fabian Lenthe: Langeweile

Da ich nun schon seit sechzehn Stunden im Bett lag und außer, dass ich das Radio an und wieder aus, sowie lauter und leiser gestellt, nichts getan hatte, bis auf mir zwischenzeitlich ein großes Stück Salami abzuschneiden, auf dem ich gelangweilt herumkaute, beschloss ich den Rest des Tages ebenfalls nichts zu tun. Wenn ich es geschafft hätte im Schlaf zu sterben, wäre daran nichts verwerfliches gewesen.
Im Gegenteil, man hätte mir das Stück Salami aus dem Rachen entfernt und mich wie jeden anderen leblosen Gegenstand aus der Wohnung getragen. Vermutlich hätten die Angestellten der Möbelspedition bei Kaffee und Zigarette genervt auf die Uhr gesehen, weil sich der Fahrer des städtischen Bestattungsunternehmens ausgerechnet an diesem Tag für einen Umweg entschied. Dann wäre alles ganz schnell gegangen.

Sobald sich der Reißverschluss des Leichensackes über meinem Gesicht zugezogen hätte, wären die kläglichen Überreste meiner Existenz in einem großen, leeren LKW verschwunden, in dem noch mindestens zehn ähnliche Leben Platz gefunden hätten. Doch dann klingelte es an der Tür. Ich stand nicht sofort auf, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich zuhause sei, sondern setzte ein Fuß nach dem anderen auf den Boden, schlich mich zur Tür, und spähte durch den Türspion. Zu meiner Erleichterung war niemand zu sehen. Etwas Wichtiges konnte es ohnehin nicht gewesen sein. Für wichtige Dinge sind andere Leute zuständig. Leute, denen es nichts ausmacht sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen. Auf dem Weg zurück ins Bett schnitt ich mir noch ein extra großes Stück Salami ab, damit ich bis zum nächsten Morgen keinen Grund mehr hatte, um aufzustehen. Dann schlief ich ein.

Theobald Fuchs: Sucht

Die Leute, bei denen ich meine Kindheit verbrachte, waren süchtig. Hochgradig süchtig. Nach Wegwerfen. Sie warfen ständig weg, was sie schon besaßen, um sich neue Dinge anzuschaffen. 

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich Abends aus dem Haus schlich, um im nahen Wald ein Loch zu graben. Darin, unter einer dicken Schicht aus Nadeln, Laub und Moos versteckte ich meinen Lieblingsteddy. 

Als ich aufblickte, standen sie bereits da und beobachteten mein Tun.  

»Was machst du?« fragten sie. 

»Ich habe Angst, dass jemand meinen Teddy wegwirft.« 

»Ach so«, sagten sie, »den alten Teddy…«, und brachten mich nach Hause. Am nächsten Tag war der Teddy… Sie hatten halt nicht anders gekonnt, die Sucht war eben stärker gewesen als sie, und es musste zwangsläufig dahin kommen, dass ich, wenn man so will, eine Ko-Abhängigkeit entwickelte. Ich entwickelte einen Zwang, Dinge für immer aufzuheben. 

Seltsam war, dass die Frau niemals den Mann fortschickte und der Mann niemals die Frau. Sie waren das einzige in ihrem Leben, das sie nie gegen etwas Neues austauschten. Das mag untypisch erscheinen, gar nicht zum sonstigen Gebaren passen, aber es wird wohl ein Versehen gewesen sein, ein gewöhnlicher Fehler. Denn auch beim Wegwerfen passieren Fehler. Auch beim Wegwerfen gibt es eine Art blinder Fleck. Zum Beispiel in Gestalt eines Ehegesponses. 

Doch darauf wollte ich mich nicht mehr verlassen. Ich beschloss mit sehr jungen Jahren, absolute Kontrolle über die Gegenstände in meinem Besitz zu gewinnen. Ich lernte, das, was mir wichtig war, so gut zu verstecken, dass es niemand anderes mehr finden konnte. Die Eichhörnchen wurden meine Vorbilder, wie besessen studierte ich ihre Tricks.

Das ging soweit, dass ich genauso wie diese dämlichen Nager manchmal meine eigenen Verstecke nicht mehr wiederfand. Keine Ahnung, wie viele meiner Spielsachen noch heute dort draußen im Wald gut verpackt und sorgfältig geschützt in der Erde darauf warten, dass ich sie abhole. 

Die Kleidung, die ich mochte, lagerte ich bei einem Freund. Morgens auf dem Weg zur Schule machte ich kurz Station bei ihm, zog meine alten Lieblingsklamotten an und ließ die neuen Sachen, die ich in beim Aufstehen neben meinem Bett vorgefunden hatte, tagsüber dort. 

Ein einziges Mal noch gelang es der Frau, die wir spaßeshalber »Mutter« nannten, eines meiner liebsten T-shirts zu entsorgen. Ich hatte es nur kurz ausgezogen, um im Keller die Kohlen zu wenden, was reihum jeden Monat einer von uns zur Aufgabe hatte. 

»Wo ist mein T-shirt«, fragte ich sie, als ich mir den schwarzen Staub vom Körper gewaschen hatte. 

»Ach, dieses hässliche alte T-shirt? Was ist das schon im Angesicht der Ewigkeit! Sei froh, du kannst dir jetzt ein neues kaufen.« 

»Ich fasse es nicht!« schrie ich. »Es war mein Lieblingsshirt! Von meiner Lieblingsband! Es hat mir meine Lieblingsfreundin zu meinem Lieblingsgeburtstag geschenkt! Noch keine fünf Lieblingsjahre alt… das kann man doch nicht wegwerfen!« 

»Ach komm, vergiss den alten Kram. Niemand will den alten Kram. Der alte Kram belastet einen doch nur. Den alten Kram muss man wegwerfen. Ich freu‘ mich für dich.« 

Damit endete unser letzter Streit. Ich konnte sie mit Argumenten nicht mehr erreichen, sie hatte sich in ihren Wahn eingesperrt, in dem alles, was nicht neu war, sofort weggeworfen werden musste. Den Schlüssel zu ihrer Welt hatte sie wohl ebenfalls nach dem ersten Gebrauch zum Altmetallhändler gebracht. Von nun an machte ich keine Fehler mehr. Ich besorgte mir alle Gegenstände, die ich zum Leben brauchte und trug sie ständig in einem Tresor bei mir, den ich mit einer Kette an meinem Bein befestigte. Sogar einen Teller und ein Glas führte ich mit mir, sorgfältig in einen alten Teppich eingewickelt. Ich wurde sehr stark, der Stärkste in meiner Klasse wurde ich, da es keine Sekunde gab, in der ich nicht allen meinen Besitz mit mir schleppte. 

Dahingegen sie, die Frau, sie kochte und warf nach dem Essen alles Geschirr einfach auf den Boden. 

»Hoppla«, rief sie, »alles kaputt! Wie schön, dann können wir endlich etwas Neues kaufen!« 

Dann zogen sie los, sie und ihr Mann und kauften ein. Glücklich kamen sie nach Hause zurück, schwer beladen mit neuem Zeug. 

Die Sucht war es, die sie dazu zwang, sie konnten eigentlich nichts dafür, und niemand half ihnen. Solange sie funktionierten, solange sie damit durchkamen, solange war es für die Gesellschaft in Ordnung. Und die Behörden sahen bewusst in eine andere Richtung. 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre! Später, als ich schon ausgezogen war, traten sie einer Partei bei und wurden erfolgreiche und angesehene Politiker. 

Als ich sechzehn wurde, verkündete ich im Kreis der zahlreichen Leute, die in jenem Haus versammelt waren, dass ich ausziehen würde und dass ich eine Lehre als Restaurator beginnen würde. Der Lehrherr hätte eine Gesellenwohnung voller alter Möbel für mich, erklärte ich und verabschiedete mich – nicht überschwenglich, aber auch nicht unhöflich knapp. 

»Wie schön!«, rief die Frau, die mich jeden Morgen geweckt hatte, damit ich rechtzeitig in der Schule saß, »Ein Esser weniger, dann können wir uns ja noch einen neuen Hund anschaffen, sobald wir den alten ins Tierheim gebracht haben! Jetzt gleich!« 

Der Hund kapierte sofort, was los war, verkroch sich unter dem Sofa. Natürlich half ihm das. Nicht. Im geringsten. 

Einmal noch kehrte ich zurück, da ich für eine Bewerbung ein altes Schulzeugnis brauchte. Ich hatte zwar wenig Hoffnung, vielleicht, so dachte ich, machen sie bei offiziellen Dokumenten eine Ausnahme… Nun, was soll’s. Hatte ich doch schon vor einiger Zeit einen sehr geschickten und dabei überaus preisgünstigen Fälscher kennengelernt, der mir dann weiterhalf. Immerhin erfuhr ich angelegentlich des Besuches, dass die Leute, die mir im Rahmen ihrer Sucht Obdach und Nahrung gegeben hatten, bei den letzten Wahlen einen großen Sieg errungen hatten. Sie waren Bundeskanzlerehepaar geworden.

Ihr Erfolg gründete darauf, dass sie Verwaltung und Parlamente gründlich ausmisteten. Sie warfen alte Gesetze genauso weg wie alte Beamte. Ganze Ministerien flogen auf den Kehricht, jahrhundertealte Strukturen in Verwaltung, Parlament, Justiz – alles wurde hinaus geschmissen und nagelneu angeschafft. Das brachte ihnen anfangs große Sympathien ein, in den ersten Monaten war die Bevölkerung hellauf begeistert von ihrer Arbeit. Eine regelrechte Welle des Ausmistens schwappte durchs Land, vor den Städten wuchsen Müllberge, höher als das Ulmer Münster und an etlichen Orten halb so groß wie das Saarland. 

Doch wie das mit Süchtigen eben so ist: sie konnten nicht mehr aufhören. Sie machten sich daran Bahnstrecken und Flughäfen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Sozialwohnungen und die Polizei. Das hatte nichts mehr mit freiem Willen zu tun, sie verloren vielmehr die Kontrolle, so wie ein Autofahrer, der bei 200 Stundenkilometern das Lenkrad abbeißt und zum Fenster hinausschleudert. Sie waren kurz davor, wirklich alles wegzuwerfen, den Himmel, die Erde, die Menschen, Tiere und Pflanzen und so wäre die ganze Welt beim galaktischen Schrotthändler gelandet, wenn sie nicht im letzten Moment, wirklich nur wenige Augenblicke, ehe sie die Existenz alles Seienden sowie die Nicht-Existenz alles Nicht-Seienden ausgelöscht hätten, innehielten und erkannten, dass ihr Werk nur dann vollendet und zum Abschluss gebracht werden konnte, wenn sie sich selbst zum Schrott bringen würden. 

Da gingen ihnen die Augen auf, wie einem das Land verschlingenden Drachen, der alles gefressen hat außer dem eigenen Schwanz, und, während er daran schnüffelt und ein oder zwei Mal abschleckt, begreift, dass es jetzt vielleicht genug ist. (und er dringend eine Dusche bräuchte, was sich bei Drachen allerdings häufig als schwieriger als gedacht darstellt.)

»Gut ist’s, oder?«, fragte sie, und der Mann, den wir spaßeshalber »Vater« gerufen hatten, antwortete mit denselben Worten. »Ja, gut ist’s«, sagte er und nickte mit dem Kopf und nahm ihre Hand und ging zusammen mit ihr los Richtung Sonnenuntergang, der aber auch ein Sonnenaufgang gewesen sein könnte, so genau kann man’s auf dem Foto nicht erkennen, und von da an waren sie geheilt und befreit von ihrem Zwang und lebten wie wir alle als ganz gewöhnliche Messis noch ein paar Jahre vor sich hin, auf zwei Zimmern, Küche, Bad im vierten Stock zwischen Kisten und Möbeln, zwischen Kleidern und Elektroschrott, bis sich auch für sie das Schicksal erfüllte und sie den Ruf an der Tür hörten: »Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal, ich bin doch die Person von der Entsorgungsfirma…«