Kristof Künssler-McIlwain: LoversRock

Ich kam aus einem Land das nicht mehr existierte, und ich wollte an einen Ort, der nie existieren würde. Ein paar Jahre nach der Wende – ich muss zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein – war meine Mutter über Nacht mit mir und meinen drei Schwestern aus der Ostzone ins benachbarte Nordbayern gezogen. Von der Provinz, wo niemand etwas besaß in die Provinz, wo alle sehr viel besaßen, außer uns. Den Eltern der anderen, knorrigen Dialekt würgenden Kinder gehörten nicht nur die Häuser in denen sie wohnten, sondern auch das in dem wir wohnten, und auch das Autohaus daneben, und die Arztpraxis im Nachbarort.

Meine Mutter hatte sich zum zweiten Mal scheiden lassen, und nun spielte auch der zweite Vater keine Rolle mehr in meinem Alltag. Ihrem gelernten Beruf konnte sie der rigorosen Gesetzeslage im Freistaat wegen nicht mehr nachgehen, sodass sie – alleinerziehend mit vier Kindern – auf Jahre auf mehrere parallel zu absolvierende Shit Jobs angewiesen war, die mich bis heute fragen lassen, wie sie daran nicht zerbrochen ist. Woran denkt man, wenn man nach acht Stunden aus dem Sekretariat einer Baufirma zu einem weiteren Halbtag in der Küche beim „Griechen“ fährt.

Selbstredend war ich Außenseiter by design, wie jedes Ostkind, das nicht gerade von Westlern adoptiert, schnellstens neu eingekleidet und zum Logopäden geschickt worden war. Bei Exkursionen kam es vor, dass nur ich nicht mitfahren konnte, weil meine Familie die einzige war, die sich die Frage stellen musste, ob das bezahlbar war. Nach ein paar Jahren war ich alt genug, dieser Rolle etwas abzugewinnen, so wie jeder verlorene Teenie, der sich die eigene Verkorkstheit als Alleinstellungsmerkmal hindreht, um nicht den schlimmsten aller Wege gehen zu müssen, über Leistung anerkannt zu werden. Mit fortschreitender Zeit entwarf ich mir eine diffuse Punk-Identität, sah aber enorm scheiße aus, und wollte auch kein Nihilist sein, dafür fand ich zu viele Dinge eigentlich gut. Meine Punker-Gehversuche hatten mich jedoch in Kontakt gebracht mit einer Spezies, die mich faszinierte aufgrund ihrer ausdefinierten Widersprüche. Mein Sehnsuchtsort war eine Subkultur, ausgerechnet die der Skinheads.

Es gibt viele Typen die die Rollenanforderungen eines Skinheads erfüllen, mein fünfzehnjähriges Ich gehört nicht dazu. Man denke an eine dieser flockigen Rollentauschkomödien: Wie mache ich aus Cameron Diaz einen Schwergewichtsboxweltmeister. Ich trank – von wenigen Winterapfel-Exzessen als 13Jähriger gebrandmarkt – grundsätzlich keinen Alkohol, war noch dazu Vegetarier; ich hatte Respekt vor der entsprechenden Klasse, aber nicht das geringste Interesse an oder gar Wertschätzung für Arbeit übrig; ich war der Meinung, dass Frauen weder begrapscht noch bejohlt gehörten; ich war ein nachdenklicher, halb leptosomer Schatten, der vom ersten Kuss ein halbes Jahrzehnt entfernt war. Ich war Mrs. Doubtfire mit Buzzcut und Stahlkappenstiefeln.

Gerade in den mittleren Neunzigern tatsächlich schwer vermittelbar war, wie groß das Missverständnis ist, dass Skinheads und Neonazis das selbe seien. Skinheads entstanden Ende der 60er Jahre als britische Jugendkultur aus den Mods, anfangs gar teilweise einfach nur kurzhaarig, mit verbeulten Pullundern, Arbeitsstiefeln und Jeansjacken, und genauso kommunistisch, rassistisch oder realitätsverweigernd wie ihre schuftenden Verlierereltern. Traditionell war der urbane Teil stark durchsetzt mit schwarzen Jungs und deren Liebe zu karibischer Rowdy-Musik, sodass Ska und die frühen Spielarten des Reggae wie Rocksteady und Lovers Rock essentieller Bestandteil der Skinheadkultur wurden. Wir reden von einer Zeit, als Arschritzenschweiß-beseelter Oi!-Punk noch über zehn Jahre auf sich warten ließ. Erst in den Achtzigern schaffte es die National Front erfolgreich, Skinheads gezielt für sich zu gewinnen, das gesellschaftliche Klima half nach, die Glatzen wurden kürzer, der Stil martialischer, und so wurden aus schicken Skins unansehnliche Naziskins mit Stiefeln bis zum Kinn. Nur wenige Jahre später war dieser Trend dann auch im restlichen Europa und den USA angekommen, der Rest ist Geschichte. Dieses Referat hat jeder antifaschistische Skinhead (je nach Radikalisierungsgrad „Skinhead Against Racial Prejudice“ oder Redskin) in den Neunzigern circa wöchentlich gehalten, und jedes mal Eltern/Lehrer/Großeltern/… hinterlassen, die ratlos den Kopf schüttelten ob der komplizierten Identitätswahl, wenn es doch auch einfach Bumstechnobiene oder Bauer hätte sein können, wie bei den meisten anderen Provinzteens. Sich von verpickelten männlichen Jungfrauen ohne Schambehaarung „Lovers Rock“ erklären zu lassen würde auch mir viel Geduld abfordern.

Aus mir wurde ein etwas verdrießlich wirkender Teenager, der erfolgreich etwas performte, das die anderen nicht waren, nie sein könnten, und ich war auf meine Weise einzigartig, für mich. Meiner Wahrnehmung zufolge gab es im kompletten Landkreis ungefähr zwei weitere Skins, die aber intellektuell in niedrigeren Ligen spielten. Mein Style entsprach der nerdigen, verkopften Interpretation eines Phänomens, welches weiter entfernt nicht sein könnte. Das Internet gab es noch nicht, das Identitätspuzzle in meine Kopf speiste sich aus Konzertbesuchen, mit der Post bestellten Fanzines und Plattencovern. Es gab keine Skinhead-Gang oder gar Szene deren Teil ich war, aber das war Teil meiner Performance, ich wollte ja auch deren Feedback lieber nicht haben.

Genaugenommen waren Kontakte zu „echten“ Skinheads, wenn sie denn stattfanden, eher unangenehm. Schwer atmend würden sie in meine Richtung kriechen, witternd dass ich keiner von ihnen war. Ich bevorzugte meine eigene Subkultur, mit mir als einzigem Protagonisten.

Als ich mittels Wochenendticket – damals dem Gegenwert eines Schnitzels mit Salat entsprechend – allein dreizehn Stunden und zehn Umstiege zu einem Ska-Festival nach Potsdam auf mich genommen hatte, sprach ich ca. 48 Stunden am Stück kein Wort außer „Ein Spezi bitte“.

Niemanden kannte ich, niemanden wollte ich kennenlernen. Ich inhalierte die Musik. Die schon weit über 50jährige Phyllis Dillon live zu sehen war eine Messe, und ihre Stimme eine bis heute andauernde Liebe geblieben. Als ungelenk wackelnder bebrillter Skinhead-Darsteller im viel zu großen Button-Down-Hemd wurde ich von älteren Typen ausgelacht, im Einmannzelt las ich John Irving, während um mich herum gebumst wurde, in jede zweite Frau verliebte ich mich wegen des Styles. Mein Horizont war näher an dem der nicht wenigen mitgebrachten Kinder in Lonsdale-Babyshirts als an dem ihrer Eltern. Dennoch lag mir meine Rolle, ich blieb in jeder Hinsicht eine Besonderheit, und hatte etwas gefunden, das nur mir gehörte. Ich war anders als meine Altersgenossen, und anders als meine Eltern. Das ging ein paar Jahre so weiter, bis ich Freunde fand, die mich merken ließen, dass es auch in anderen talgigen Nischen meine jeweilige Entsprechung gab. Wie umgekehrte Superhelden mit eigener Witzidentität und spezifischem Nerd-Skillset. Analog zu Schulhoffreaks wurden wir eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gegenseitig Dinge zeigt, auf Konzerte fährt, nicht trinkt und nicht feiert, und so unschuldig in die Volljährigkeit schwebt, möglichst ohne auf die Fresse zu bekommen.

Irgendwann realisiert man, dass das Ich sich häutet, immer wieder. Manchmal erahnt man noch den Madenkörper der da mal war, mal bleiben wenige klebrige Fäden haften, aber eigentlich entschuppt man sich permanent, und man hat zum Glück Menschen gefunden, die einem dabei helfen. Jahre, Jahrzehnte später merkt man dann, dass jener erträumte Sehnsuchtsort natürlich eine Illusion war, aber auch, dass man als suchender Teenie nichts besseres hätte imaginieren können. Wer mit vierzehn nicht scheiße aussah, hat etwas falsch gemacht. Man entdeckt neue Liebe zu den kleinen Details von damals, die Rocksteady-Balladen schmecken mit Gin viel besser.

Man merkt noch mehr, wie sehr die Herkunft eine Rolle spielt, im Rückblick. Dass andere sich nie häuten konnten, weil manche Haut, manches Milieu nicht abgelegt werden kann vorm Blick der anderen. Man merkt, wer einfach mit austauschbaren Accessoires kokettierte, weil er/sie es sich leisten konnte, den Zeh kurz in die Subversion zu dippen; und wer wirklich eintauchen musste in

einen Fluss, der einen Hauptsache nur weg schwemmt.

Man sieht auch – vielleicht zum ersten Mal – die Stromschnellen, die andere absaufen haben

lassen, und die man selbst nicht mal bemerkt hat. Weil man ein weißer Hetero-Typ war, kein

Objekt, kein Körper mit nur Brüsten, weil man doch ein wenig freiwilliger das ist was man ist. Man ist erschrocken, wie wenig über das Absaufen geredet wurde, weil es doch ziemlich häufig vorkam, mit dem heutigen Blick. Und man wünscht, man hätte nicht nur seinen Schwestern zugehört, sondern auch anderen Frauen, und denen die sich den albernen Sehnsuchtsort nicht aussuchen können; denen, die trieben im Fluss, ohne Schutz.

Das freiwillige Eintauchen in eine „alternative“ Identität ist eine Self-fulfilling Prophecy, nie wirklich dazuzugehören. Verlorenheit als – auch unbewusster – Weg ist anfangs ein Thrill, weil er die Suche beinhaltet, die Versprechung. Irgendwann weicht alles einem Arrangieren mit der Tatsache, dass Suche nicht automatisch mit dem Konzept Ziel verknüpft ist. Dass die Verlorenheit keiner Verpackung mehr bedarf, die sie als solche erkennbar macht. Man performt nicht mehr die Verlorenheit, sondern ihre vermeintliche Abwesenheit. Man ahnt, dass man schon als Teenager keine andere Wahl hatte, als in den Fluss zu springen. Man bildet sich ein, man hätte seichte Uferböschungen gefunden, wo einem die Strömung nichts anhaben kann. Weil um einen herum so viele einen festen Boden unter den Füßen haben, schon immer hatten. Dabei musste man nicht einmal tatsächlich ins Wasser springen, man war schon lange mitten im Strom gewesen. Weil schon die Eltern darin trieben, und nie richtig Halt am Ufer gefunden hatten.

Lea Schlenker: Mandelmilchmädchen, Teil 1

Meine Katze springt auf dem Bett herum und kratzt gewissenlos am Bettlaken. Sie wird nicht aufhören, ehe sie bleibende Spuren hinterlassen hat. Ich ignoriere sie trotzdem, ich streite nicht mehr mit Katzen. Dafür bin ich zu abergläubisch. Nach den Ereignissen des heutigen Tages werde ich vermutlich noch mehr als einfach nur abergläubisch sein – dazu jedoch später. Die Katze habe ich, seit ich mich scheiden haben lasse und nun alleine in dem Haus lebe. Versteht mich nicht falsch, ich mag die Einsamkeit. Ich führe ein gutes Leben. Aber manchmal wird es doch ein wenig, wie soll ich sagen, langweilig.
Aber heute konnte selbst die Katze keine Ablenkung bieten. Die Langweile liegt heute träge und dick in der Luft, die Zeit schreit geradezu danach, dass man sie leerlaufen lässt und keinerlei Inhalt in den Tag füllt. Ich spielte schon fast mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen, obwohl laut Wettervorhersage noch Gewitter drohten. Nicht gerade ansprechend ohne Regenschirm. Ich wohne in einem pinken Haus am Ende der Strasse, gleich am Hügel neben der Autobahn nach Bellinzona. Niemand von den anderen Hausbesitzern im Quartier kennt mich, und ich kenne sie auch nicht. Ich bin auch nicht sicher, welche Häuser bewohnt sind und welche nicht. So etwas wie Quartierfeste und Nachbarschaftstreffen gibt es hier nicht. Wenn es sie gäbe, würde ich von hier wegziehen.

Unruhig suchte ich nach meinem Telefon, um etwas in die Finger zu kriegen, nebst den gesalzenen Caramelbonbons, die ich heute unaufhörlich verschlinge. Nebenbei giesse ich zum zweiten Mal heute die Blumen und Pflanzen, die ich auf dem Balkon habe. Natterkopf, Ochsenauge, Basilikum, Glockenblumen, Wiesensalbei und der Zitronenbaum. Ich hoffe, das Wasser tut ihnen gut. Am Horizont lassen sich schon finstere Gewitterwolken blicken und eine tonnenschwere Hitze macht sich draussen breit.

Ich versuche meine Mutter zu erreichen. Wie es scheint ist sie momentan nicht zuhause. Derzeit arbeitet sie als Putzkraft an der Universität von Lugano, vielleicht hat sie heute auch Dienst. Sie ist immer schwer beeindruckt vom imposanten Gebäude der Hochschule. Ich hätte gerne eine richtige Ausbildung gemacht, am liebsten sogar studiert. Es gibt viele Themengebiete, die mich spontan ansprechen würden, bei denen ich gerne mal in einer Vorlesung gesessen und einfach mal zugehört hätte. Aber in meiner Familie wäre das nicht gegangen. Deshalb habe ich mich für eine Berufsausbildung entschieden, aber nicht einmal die bekam ich auf die Reihe. Aber das spielte keine Rolle.
Ich bin eine Macherin, und ich bin mutig. Ich habe bei Miss Schweiz mitgemacht, wurde drittplatzierte und arbeite seitdem als Unternehmensberaterin. Mir war nie wieder langweilig, bis zu dem heutigen Tag. Diese Langeweile. Ich wusste nicht, in welches Gefäss ich sie füllen konnte, oder ob sie einfach aus mir auslaufen würde wie Batteriesäure. In der Küche wurde es zunehmend dunkler, vermutlich vom Gewittereinbruch. Ich möchte das Licht anmachen und werfe einen Blick auf den Balkon. Da wurde mir klar, dass die Dunkelheit nicht vom bedeckten Himmel herkommt.

Mein Balkon ist zwar klein, mir aber heilig. Wenn ich nicht in den Garten runtermöchte, sitze ich hier und trinke ein Glas Wasser mit Melonenstücken, Orangenscheiben und Minze drin. Ich habe zwei Stühle und einen kleinen runden Tisch, der mir schon seit Jahren dient. Und natürlich die Pflanzen, die den Balkon etwas bunter gestalten, mittlerweile mir aber die Sicht und das Sonnenlicht versperren. Bei Pflanzen ist es generell ja so ein Ding – man merkt nicht wirklich wie sie wachsen, bis dann plötzlich mal die Blüten zum Vorschein kommen. Ich kann aber ohne Zweifel sagen, dass diese Pflanzen seit dem letzten Wassergiessen vor ungefähr zehn Minuten beträchtlich in die Höhe geschossen sind. Die Stiele wirren wie wild bis zur Balkonabdeckung, manche der Töpfe haben Risse bekommen, weil die bereits blühenden Knospen sich nach allen Windrichtungen ausdehnen. Zweimal Wasser pro Tag ist offenbar fataler als man annehmen könnte. Von hier sehen sie aber trocken aus, beinahe ausgedörrt. Die Blüten beginnen abzublättern und fallen mir ins Gesicht. Aber all das ist noch nichts zum Vergleich, was mit dem Zitronenbaum passiert. Wo neben dem Zitronenbaum eine Wand war, ist bloss noch eine verwachsene grüne Fläche, worauf der Zitronenbaum seine duftenden Blüten und Knospen spriessen lässt. Wenn ich mich nicht täusche, sehe ich bereits kleine Früchte zum Vorschein kommen. Früchte, die ich dabei beobachten konnte, wie sie von grün zu gelb werden. Ich sehe nur noch durch die Wucherungen heraus ins Freie, aber eigentlich könnte ich jetzt überall sein. Ich weiss nicht mal mehr, ob ich das Meer oder die Autobahn rauschen höre.

Ich renne wieder in die Wohnung. Im Badezimmer spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und höre mein Herz pochen. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Vermutlich hatte ich einen Autounfall, liege im Koma und träume einfach wie wild. Aber auch wenn das bloss ein Traum ist, muss ich trotzdem dafür sorgen, das Unkraut auf dem Balkon loszuwerden.
Ich gehe wieder nach draussen. Auf dem Balkon ist kaum mehr Sonnenlicht zu sehen, dafür eine unheimliche Vielzahl an Pflanzen. Ich fühle mich in eine prähistorische Zeit versetzt. Die Zitronen hängen gelb und prall von meiner Wand herunter. Dabei sind es aber keine normalen Zitronen. Ihre Schalen sind von Wucherungen bedeckt, von kleinen scharfen Zähnen, die nebeneinander wie ein Gebiss aneinandergereiht sind. Dort, wo bei einem Menschen Augen sind, sind kleine Vertiefungen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt sind. Verflucht, wenn das jetzt mein Augenarzt sehen würde! Na ja, vermutlich wäre er bereits schon umgekippt. Ich bilde mir ein, dass die Zitronen alle aus ihren nassen Augenwinkeln zu mir rüber starren. Wobei ich den Ausdruck einbilden schnell wieder zurücknehmen muss.

Die Zitronen drehen sich nach mir, wachsen in Rekordschnelle zu mir rüber, bis sie nur wenige Zentimeter auf Augenhöhe mit ihrem messerscharfen Haigebissen bei mir sind.

Ich möchte mich rühren, habe aber wohl vergessen, wie das geht.
Das passiert manchmal so auf dieser Welt.

Theobald O.J. Fuchs: Langeweile

… Langeweile, bleibe kurz … doch noch bei mir …. weil noch lange will ich hier … mich
nach Kürze sehnen … möcht‘ die Zeit noch dehnen … kein Wechsel, auf dem Dache
gurrt’s… eilt sie doch sowieso … du verweilest viertelfroh … so lang du willst … im Walde, wo lange … ach ganz lange Zeit … ziemlich exakt gar nichts … geschehet … denn sehet… uns war fürchterlich langweilig. Fürchterlich. Freitag Mittag schon. Dann wurde es Nachmittag, dann Spätnachmittag, dann Abend. Dann stiegen wir zu acht in Mutters Kleinwagen. Ich, mein kleiner Bruder, Volker, Bernd, Stefan, Thomas, Michael und Andreas. Acht mal schwarze lange Mäntel, acht mal schwarze Lederstiefel. Acht mal Lidschatten und rote Lippen. Acht mal verworrene Vorstellungen von Existenzialismus und die neue Platte von Cure im Kopf. Acht mal unbegrenzte Vorräte an Langeweile.

Langeweile war das stärkste Gefühl in meiner ganzen Kindheit. Ununterbrochen war nichts los. Leben hieß sich ständig langweilen, jeder, den ich kannte, tat das in Vollendung, wie mit einer umgedrehten Superkraft, die allen geschenkt war. Bis ich Menschen entdeckte, die ich nicht langweilig fand. Sondern interessant. Mädchen. Sie übernahmen das Ruder als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war. Vorher nur Langweile. Vor allem in der Schule. Die mir darüber hinaus noch den Schlaf stahl, den Schlaf am Vormittag, den ich so sehr schätzte. Denn nur in dem einen oder anderen Action-Traum war mir für kurze Zeit nicht langweilig.

Immerhin lernte ich in der Schule andere Jungs kennen, die sich ebenfalls langweilten.
Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas. Und nun waren wir unterwegs, mit dem kleinen Auto viel zu schnell über die langweiligen Hügel, dann in das langweile Dorf im drittnächsten Tal. Eine langweilige Siedlung am Ortsrand, ein Einfamilienhaus ohne Eigenschaften, eine verendete Party, irgendwelche Bekannte von irgendwem, dessen Eltern irgendwo waren. Schauen kurz vorbei. Geht klar, kein Problem. Wir haben Bier mitgebracht. Kommt rein.

Bernd brachte sich ein paar Jahre später um. Sagte man jedenfalls, nachdem er seinen geliebten Benz auf freier Strecke am hellichten Tag an einen Brückenpfeiler. Die Party war daran aber nicht schuld gewesen. Sie war lediglich langweilig, lediglich unfassbar langweilig. Unfassbar.

Ich hatte gehofft, dass Frauen da wären. Vergeblich. Oder gutes Essen. Pustekuchen. Wenigstens eine spannende Verrücktheit. Ein seltsamer Apparat zum Beispiel, an dem in der Werkstatt gebastelt wurde. Ein Tandem-Maulwurfsgleiter oder eine Fallschirm-Video-Anlage. Ich wäre sogar mit einer dänischen Schnapsbar zufrieden gewesen, mit einer westfälischen Streckbank, einem defekten Hobby-Hochofen, einer Telefonbuch-Zerreiß-Maschine im Keller, einer Karpfenhaut-Handtaschen-Sammlung – irgendetwas nur, das nicht langweilig war.

Aber alles nichts, nur vier Typen mit langweiligen kurzen Haaren, langweiligen Jeans, langweiligen Hardrock-T-Shirts. Sie hießen Thomas, Stefan, Bernd und Michael. Es lief langweiliger Hardrock aus einer langweiligen Kompaktanlage von Quelle. Die Vier saßen auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und spielten ein langweiliges Spiel mit Würfeln.

Ja, sagte mein Bruder. Ja, sagte Thomas. O.k., sagte Stefan. Und Volker sagte: stimmt. Ein langweiliges Gespräch also.
Die Würfel klapperten ohne uns. Wir tranken schweigend Sekt, kontrollierten unsere Leningrad-Cowboy-Frisuren im Spiegel im Hausflur. Wir waren irgendwie mega… dann stiegen wir wieder zu acht ins Auto. Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas, mein Bruder und ich. Wir sagten nicht tschüss, wir fuhren solange durch die Nacht, bis wir links vorne die Stadt. Da war dann echt was los.

Fabian Lenthe: Langeweile

Da ich nun schon seit sechzehn Stunden im Bett lag und außer, dass ich das Radio an und wieder aus, sowie lauter und leiser gestellt, nichts getan hatte, bis auf mir zwischenzeitlich ein großes Stück Salami abzuschneiden, auf dem ich gelangweilt herumkaute, beschloss ich den Rest des Tages ebenfalls nichts zu tun. Wenn ich es geschafft hätte im Schlaf zu sterben, wäre daran nichts verwerfliches gewesen.
Im Gegenteil, man hätte mir das Stück Salami aus dem Rachen entfernt und mich wie jeden anderen leblosen Gegenstand aus der Wohnung getragen. Vermutlich hätten die Angestellten der Möbelspedition bei Kaffee und Zigarette genervt auf die Uhr gesehen, weil sich der Fahrer des städtischen Bestattungsunternehmens ausgerechnet an diesem Tag für einen Umweg entschied. Dann wäre alles ganz schnell gegangen.

Sobald sich der Reißverschluss des Leichensackes über meinem Gesicht zugezogen hätte, wären die kläglichen Überreste meiner Existenz in einem großen, leeren LKW verschwunden, in dem noch mindestens zehn ähnliche Leben Platz gefunden hätten. Doch dann klingelte es an der Tür. Ich stand nicht sofort auf, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich zuhause sei, sondern setzte ein Fuß nach dem anderen auf den Boden, schlich mich zur Tür, und spähte durch den Türspion. Zu meiner Erleichterung war niemand zu sehen. Etwas Wichtiges konnte es ohnehin nicht gewesen sein. Für wichtige Dinge sind andere Leute zuständig. Leute, denen es nichts ausmacht sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen. Auf dem Weg zurück ins Bett schnitt ich mir noch ein extra großes Stück Salami ab, damit ich bis zum nächsten Morgen keinen Grund mehr hatte, um aufzustehen. Dann schlief ich ein.

Matt S. Bakausky: Gefühlte Zeit

Rutsche auf dem Bürostuhl hin und her. Starre auf den Monitor.
Draußen, tief unten, stehen Autos im Stau. Umleitung.
Weißt du noch damals als der Helikopter gelandet ist und der Pilot sich einen Döner geholt hat?
Okay, das war wohl nur ein Tagtraum.
Seiten aufrufen. Nachrichten die täglich gleich aussehen, nur dass unsichtbar das Wort „Neu“ davor steht. Immer sichtbar die Uhrzeit in der Startleiste. Die Zahlen verändern sich umso seltener, je öfter du darauf schaust.

Dein Kollege gegenüber macht Tippgeräusche auf seiner Tastatur und sagt etwas zu dir. Zumindest denkst du für einen kurzen Moment, dass er ein Gespräch beginnt. Doch ein Blick verrät, dass er ins Telefon spricht. Eine Fliege liegt bewegungslos auf dem Fensterbrett. Die hat für heute bereits genug getan. Du breitest deine Flügel aus und fliegst durch das Fenster über die Autos hinweg ins Paradies. Ein weiterer Tagtraum.

Der Kaffee ist kalt und schmeckt wie kalter Kaffee schmeckt. Du hörst ein Klingeln, willst an die Tür gehen, doch dein Kollege ist schneller. Der Paketbote ist an der Tür, abgehetzt. Zack, zack, schnell hier unterschreiben. Dein Schreibtisch sieht tipptopp aus. Du hast ihn vorhin aufgeräumt. Laut der Uhr in der Menüleiste ist seitdem erst eine viertel Stunde vergangen.

Webseiten öffnen. Uninteressante Nachrichten. E-Mails abrufen, keine neuen Nachrichten. Nicht mal ein Newsletter. Der Spamfilter ist fleißig. Die Autos unten bewegen sich in müden Schritten.
Du überlegst an deinem Hobbyprojekt zu arbeiten. Die Computermaus steuert den Mauszeiger langsam Richtung Menüleiste.

Dein Blick wandert wieder auf die Fliege.  Sie ruht sich immer noch aus. Wahrscheinlich ist sie tot. Ja, sie ist hier gestorben. Das musst du wohl zugeben. Sie ist hier gestorben. Aus Langeweile.
Noch ein Schluck vom kalten Kaffee, der wie kalter Kaffee schmeckt.
Du nimmst einen Kugelschreiber und schiebst damit die Fliege in den Mülleimer. Die stört das gar nicht.

Herrmann Asien: Über die Langeweile

Wie konnte es für eine Person des 21. Jahrhunderts, die ihrer Gegenwart entsprechend lebte, sich Technikfortschrott (eigentlich ein Vertipper – das i liegt auf der Tastatur gleich neben dem o – da es aber ein sehr, sehr dummes und langweiliges Wortspiel ist, lasse ich es drin im Text, auch weil die Erklärung für das Drinlassen so schön egal und überflüssig ist + die Klammer nach dem Schließen vergessen lässt, wie der Satz eigentlich weiter oben begonnen hat) und Arbeitswelt nicht verweigerte, überhaupt so etwas wie Langeweile geben?

1. Texte generell immer mit einer sehr langen Frage beginnen.

Sie muss nicht unbedingt polemisch sein, aber es kann helfen, wenn sie sehr verallgemeinernd gestellt ist, z. B. „Alle Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig, so dick und eng oder so dünn und weit sie ihre Netze auch gespannt haben, ob fette Kreuz- oder langbeinige Schnakenspinne – Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“

So wird zu Beginn gleich ein Problem beschrieben (die „Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lusitg“), dem eine mögliche Erklärung mitgeliefert wird (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“), die allerdings erst bewiesen werden muss (daher als Frage gekennzeichnet wird). Je entfernter das Problem („Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig“) und seine Erklärung bzw. Lösung (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“) voneinander sind, desto mehr Spannungsmöglichkeiten eröffnen sich im fortlaufenden Text.

„Heuer ging es famos in die erste Runde der schlecht verdichteten Zugriegelbausteine, falls noch Interesse daran bestünde, liebe FB-Freunde, bitte nur per PN melden.“

Spätestens hier steigen Leser*Innen aus der Lektüre aus, da nicht nur kein direkt erkennbarer Zusammenhang mit dem vorangestellten TextTEASER – wie wir Journos zu sagen pflegen – besteht, sondern auch der semantische Kitt dieser Wortzusammenstellung undefinierbar bleibt. Was sind „Zugriegelbausteine“? Von welcher „Runde“ sprechen wir? Weshalb ist von sozialen Netzwerk „Facebook“ (FB) die Rede? Und was haben die eingangs erwähnten Spinnen vor Küchenfenstern damit zu tun? Statt eines langsamen detektivischen Erklärungsspiels, wirft der Text nur noch weitere kryptische Rätsel auf. Das Interesse der Leser*Innen versiegt. Was sich allerdings inhaltlich nach diesem scheinbar zusammenhangslosem Einstieg abspielt, kann nur mit folgender, gleichnishafter Short Story aufgelöst werden:

Die Frau, die aus Langeweile die Welt rettete und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstörte

Als sozialem Geschlecht „Frau“ der klaren biologischen Kennzeichnung „Phänotyp weiblich“ und dazu in Relation stehend, dem Menstruationszyklus (volksmundig Monats- oder Regelblutung, Emma, „Hast du auch wieder ein Schwein geschlachtet“ genannt) ausgeliefert, als Mutter nicht nur mit dem Austragen, sondern auch mit dem Gros der Erziehung der Kinder beschäftigt, zusätzlich dem sexistisch-patriachalen Sozialgefüge unterworfen, konnte es Langeweile streng genommen nur in einem geschützten, konsequenzlosen Raum geben. Etwa in einer idyllischen Nachmittagsszene auf dem bürgerlichen Gartengrundstück eines Charlotte Brontë Romans (ohne die Anwesenheit der Männer und Kinder) oder eben in folgender kleiner, von mir völlig frei erfundener Geschichte:

„Boah, ist mir langweilig!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. Lange war der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde, nicht mehr so langweilig gewesen wie in diesem Moment, als sie, die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, feststellte, dass ihr, der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile zerstören würde, unglaublich langweilig war. „Erstaunlich!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile wieder zerstören würde. „Was fange ich denn jetzt mit mir an?“, fragte sich die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. „Ich könnte“, fuhr die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, in Gedanken fort, „die Welt retten.“ Die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, kontemplierte eine lange Weile über diesen Gedanken und entschied schließlich: „Aber jetzt noch nicht!“ Sie hatte vage in Erinnerung, dass der Literaturnobelpreisträger Peter Handke ein Buch über die Langeweile geschrieben hatte. Es hieß, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, „Über die Langeweile“ hatte sie nie gelesen (ich übrigens auch nicht) und hatte das auch nicht vor. „Wie langweilig muss mir sein, dass ich Peter Handke lese?“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, und drückte auf den Weltzerstörungsknopf der Weltzerstörungsmaschine, vor der sie schon die ganze Zeit gesessen hatte. Flugs darauf änderte sie ihre Meinung aus einer Laune (Langeweile?) heraus und rettete die beinah zerstörte Welt, indem sie den Weltrettungsknopf betätigte. Kurz danach drückte sie aber doch nochmal (Achtung: Switcheroo!) auf den Weltzerstörungsknopf (absichtlich).

Um zu einem befriedigenden Ende eines jeden Textes zu gelangen, empfiehlt es sich, einen schönen Bogen zum Anfang zu schließen. Folgende Zeichnung kann für diesen Zweck stellvertretend eingesetzt werden:

Ein Strichmännchen mit ausgestreckten erhobenen Armen und grimmigem Mondgesicht steht neben einem von oben herabhängendem laufenden Duschkopf. In einer großen Sprechblase über dem Strichmännchen stehen folgende zwei Sätze: „Unter diese Dusche geh ich nicht! Diese Dusche nehm’ ich nicht!“

Theobald Fuchs: Sucht

Die Leute, bei denen ich meine Kindheit verbrachte, waren süchtig. Hochgradig süchtig. Nach Wegwerfen. Sie warfen ständig weg, was sie schon besaßen, um sich neue Dinge anzuschaffen. 

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich Abends aus dem Haus schlich, um im nahen Wald ein Loch zu graben. Darin, unter einer dicken Schicht aus Nadeln, Laub und Moos versteckte ich meinen Lieblingsteddy. 

Als ich aufblickte, standen sie bereits da und beobachteten mein Tun.  

»Was machst du?« fragten sie. 

»Ich habe Angst, dass jemand meinen Teddy wegwirft.« 

»Ach so«, sagten sie, »den alten Teddy…«, und brachten mich nach Hause. Am nächsten Tag war der Teddy… Sie hatten halt nicht anders gekonnt, die Sucht war eben stärker gewesen als sie, und es musste zwangsläufig dahin kommen, dass ich, wenn man so will, eine Ko-Abhängigkeit entwickelte. Ich entwickelte einen Zwang, Dinge für immer aufzuheben. 

Seltsam war, dass die Frau niemals den Mann fortschickte und der Mann niemals die Frau. Sie waren das einzige in ihrem Leben, das sie nie gegen etwas Neues austauschten. Das mag untypisch erscheinen, gar nicht zum sonstigen Gebaren passen, aber es wird wohl ein Versehen gewesen sein, ein gewöhnlicher Fehler. Denn auch beim Wegwerfen passieren Fehler. Auch beim Wegwerfen gibt es eine Art blinder Fleck. Zum Beispiel in Gestalt eines Ehegesponses. 

Doch darauf wollte ich mich nicht mehr verlassen. Ich beschloss mit sehr jungen Jahren, absolute Kontrolle über die Gegenstände in meinem Besitz zu gewinnen. Ich lernte, das, was mir wichtig war, so gut zu verstecken, dass es niemand anderes mehr finden konnte. Die Eichhörnchen wurden meine Vorbilder, wie besessen studierte ich ihre Tricks.

Das ging soweit, dass ich genauso wie diese dämlichen Nager manchmal meine eigenen Verstecke nicht mehr wiederfand. Keine Ahnung, wie viele meiner Spielsachen noch heute dort draußen im Wald gut verpackt und sorgfältig geschützt in der Erde darauf warten, dass ich sie abhole. 

Die Kleidung, die ich mochte, lagerte ich bei einem Freund. Morgens auf dem Weg zur Schule machte ich kurz Station bei ihm, zog meine alten Lieblingsklamotten an und ließ die neuen Sachen, die ich in beim Aufstehen neben meinem Bett vorgefunden hatte, tagsüber dort. 

Ein einziges Mal noch gelang es der Frau, die wir spaßeshalber »Mutter« nannten, eines meiner liebsten T-shirts zu entsorgen. Ich hatte es nur kurz ausgezogen, um im Keller die Kohlen zu wenden, was reihum jeden Monat einer von uns zur Aufgabe hatte. 

»Wo ist mein T-shirt«, fragte ich sie, als ich mir den schwarzen Staub vom Körper gewaschen hatte. 

»Ach, dieses hässliche alte T-shirt? Was ist das schon im Angesicht der Ewigkeit! Sei froh, du kannst dir jetzt ein neues kaufen.« 

»Ich fasse es nicht!« schrie ich. »Es war mein Lieblingsshirt! Von meiner Lieblingsband! Es hat mir meine Lieblingsfreundin zu meinem Lieblingsgeburtstag geschenkt! Noch keine fünf Lieblingsjahre alt… das kann man doch nicht wegwerfen!« 

»Ach komm, vergiss den alten Kram. Niemand will den alten Kram. Der alte Kram belastet einen doch nur. Den alten Kram muss man wegwerfen. Ich freu‘ mich für dich.« 

Damit endete unser letzter Streit. Ich konnte sie mit Argumenten nicht mehr erreichen, sie hatte sich in ihren Wahn eingesperrt, in dem alles, was nicht neu war, sofort weggeworfen werden musste. Den Schlüssel zu ihrer Welt hatte sie wohl ebenfalls nach dem ersten Gebrauch zum Altmetallhändler gebracht. Von nun an machte ich keine Fehler mehr. Ich besorgte mir alle Gegenstände, die ich zum Leben brauchte und trug sie ständig in einem Tresor bei mir, den ich mit einer Kette an meinem Bein befestigte. Sogar einen Teller und ein Glas führte ich mit mir, sorgfältig in einen alten Teppich eingewickelt. Ich wurde sehr stark, der Stärkste in meiner Klasse wurde ich, da es keine Sekunde gab, in der ich nicht allen meinen Besitz mit mir schleppte. 

Dahingegen sie, die Frau, sie kochte und warf nach dem Essen alles Geschirr einfach auf den Boden. 

»Hoppla«, rief sie, »alles kaputt! Wie schön, dann können wir endlich etwas Neues kaufen!« 

Dann zogen sie los, sie und ihr Mann und kauften ein. Glücklich kamen sie nach Hause zurück, schwer beladen mit neuem Zeug. 

Die Sucht war es, die sie dazu zwang, sie konnten eigentlich nichts dafür, und niemand half ihnen. Solange sie funktionierten, solange sie damit durchkamen, solange war es für die Gesellschaft in Ordnung. Und die Behörden sahen bewusst in eine andere Richtung. 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre! Später, als ich schon ausgezogen war, traten sie einer Partei bei und wurden erfolgreiche und angesehene Politiker. 

Als ich sechzehn wurde, verkündete ich im Kreis der zahlreichen Leute, die in jenem Haus versammelt waren, dass ich ausziehen würde und dass ich eine Lehre als Restaurator beginnen würde. Der Lehrherr hätte eine Gesellenwohnung voller alter Möbel für mich, erklärte ich und verabschiedete mich – nicht überschwenglich, aber auch nicht unhöflich knapp. 

»Wie schön!«, rief die Frau, die mich jeden Morgen geweckt hatte, damit ich rechtzeitig in der Schule saß, »Ein Esser weniger, dann können wir uns ja noch einen neuen Hund anschaffen, sobald wir den alten ins Tierheim gebracht haben! Jetzt gleich!« 

Der Hund kapierte sofort, was los war, verkroch sich unter dem Sofa. Natürlich half ihm das. Nicht. Im geringsten. 

Einmal noch kehrte ich zurück, da ich für eine Bewerbung ein altes Schulzeugnis brauchte. Ich hatte zwar wenig Hoffnung, vielleicht, so dachte ich, machen sie bei offiziellen Dokumenten eine Ausnahme… Nun, was soll’s. Hatte ich doch schon vor einiger Zeit einen sehr geschickten und dabei überaus preisgünstigen Fälscher kennengelernt, der mir dann weiterhalf. Immerhin erfuhr ich angelegentlich des Besuches, dass die Leute, die mir im Rahmen ihrer Sucht Obdach und Nahrung gegeben hatten, bei den letzten Wahlen einen großen Sieg errungen hatten. Sie waren Bundeskanzlerehepaar geworden.

Ihr Erfolg gründete darauf, dass sie Verwaltung und Parlamente gründlich ausmisteten. Sie warfen alte Gesetze genauso weg wie alte Beamte. Ganze Ministerien flogen auf den Kehricht, jahrhundertealte Strukturen in Verwaltung, Parlament, Justiz – alles wurde hinaus geschmissen und nagelneu angeschafft. Das brachte ihnen anfangs große Sympathien ein, in den ersten Monaten war die Bevölkerung hellauf begeistert von ihrer Arbeit. Eine regelrechte Welle des Ausmistens schwappte durchs Land, vor den Städten wuchsen Müllberge, höher als das Ulmer Münster und an etlichen Orten halb so groß wie das Saarland. 

Doch wie das mit Süchtigen eben so ist: sie konnten nicht mehr aufhören. Sie machten sich daran Bahnstrecken und Flughäfen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Sozialwohnungen und die Polizei. Das hatte nichts mehr mit freiem Willen zu tun, sie verloren vielmehr die Kontrolle, so wie ein Autofahrer, der bei 200 Stundenkilometern das Lenkrad abbeißt und zum Fenster hinausschleudert. Sie waren kurz davor, wirklich alles wegzuwerfen, den Himmel, die Erde, die Menschen, Tiere und Pflanzen und so wäre die ganze Welt beim galaktischen Schrotthändler gelandet, wenn sie nicht im letzten Moment, wirklich nur wenige Augenblicke, ehe sie die Existenz alles Seienden sowie die Nicht-Existenz alles Nicht-Seienden ausgelöscht hätten, innehielten und erkannten, dass ihr Werk nur dann vollendet und zum Abschluss gebracht werden konnte, wenn sie sich selbst zum Schrott bringen würden. 

Da gingen ihnen die Augen auf, wie einem das Land verschlingenden Drachen, der alles gefressen hat außer dem eigenen Schwanz, und, während er daran schnüffelt und ein oder zwei Mal abschleckt, begreift, dass es jetzt vielleicht genug ist. (und er dringend eine Dusche bräuchte, was sich bei Drachen allerdings häufig als schwieriger als gedacht darstellt.)

»Gut ist’s, oder?«, fragte sie, und der Mann, den wir spaßeshalber »Vater« gerufen hatten, antwortete mit denselben Worten. »Ja, gut ist’s«, sagte er und nickte mit dem Kopf und nahm ihre Hand und ging zusammen mit ihr los Richtung Sonnenuntergang, der aber auch ein Sonnenaufgang gewesen sein könnte, so genau kann man’s auf dem Foto nicht erkennen, und von da an waren sie geheilt und befreit von ihrem Zwang und lebten wie wir alle als ganz gewöhnliche Messis noch ein paar Jahre vor sich hin, auf zwei Zimmern, Küche, Bad im vierten Stock zwischen Kisten und Möbeln, zwischen Kleidern und Elektroschrott, bis sich auch für sie das Schicksal erfüllte und sie den Ruf an der Tür hörten: »Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal, ich bin doch die Person von der Entsorgungsfirma…« 

Sarah Grodd: Lüge

Es ist geschafft. Nervös starren Dirk und Jan auf den Bildschirm des Computers. Heute ist ihr großer Tag. Nur noch ein Klick trennt sie von ihrem digitalen Business. Dirk und Jan blicken sich mit einem leichten Lächeln an und beide wissen: all der fehlende Schlaf, das nächtliche Flimmern des Computermonitors, der überdosierte Kaffee in rauen Mengen und die unzählbaren Brainstorming-Kippen der letzten Wochen haben deutliche Spuren hinterlassen. Sie wissen aber auch: es hat sich gelohnt. Dirk ergreift schließlich die Initiative und gleitet den Cursor mit der Computermaus ganz sachte auf den Button „Veröffentlichen“. Ein Klick ertönt, dann ist es vollbracht. Ihre erste App. Tiefes Ausatmen raunt durch den Raum.

Dirk ist der Geschäftsmann der beiden, ein richtiger Machertyp. Vor zehn Monaten kam ihm die visionäre Idee für jene App, die sie just in dem Moment der Welt zugänglich machen. Sie trägt den Namen „Applass“. Vor zehn Monaten, da verfolgte er den sonntäglichen Radio-Gottesdienst – sein kleines Ritual am Frühstückstisch. Als er seine Kaffeetasse ansetzte, witterte er plötzlich eine Nische: wenn man schon vom Frühstückstisch aus einem Gottesdienst beiwohnen kann, warum sollte es nicht auch möglich sein, online Buße zu tun? Eine Art digitaler Ablass. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Dirk der außerordentlich spritzige Name „Applass“ für seine Idee einfiel. Die moderne Pocketbeichte für den Sünder von heute. Kein lästiger Bußgang zum nächsten Beichtstuhl nötig – stattdessen jederzeit und überall verfügbar, bezahlbar über verschiedene Online-Bezahldienste. Und das Beste daran: für jede Buße bekommen Dirk und Jan einen Cent und schon bald werden sie Millionäre sein – oder zumindest etwas wohlhabender als jetzt.

Dieses „Jetzt“, das hat Dirk schon immer abgelehnt. Er verschwendet keine Zeit mit Gedanken an seine aktuelle Lage, vielmehr war er schon immer ein Zukunftsträumer. Träume hin zu einer Zukunft, in der er sich nicht mehr eine dunkle Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan teilen muss: ein Relikt aus Studi-Zeiten. Hin zu einer Zukunft, in der er seinen Eltern, seinen alten Schulfreunden und Verflossenen, ja all seinen Neidern, die ihn früher oder später für einen seltsamen Spinner gehalten haben, endlich zeigen kann, dass er es geschafft hat. Dass er ein Visionär ist, ein Vorreiter in die digitalisierte Moderne.

„Seine“ App, wie Dirk „Applass“ gegenüber anderen Personen immer vorstellt, denn Jan ist für ihn nur der programmierende Hilfsarbeiter, seine App also kann nicht nur die Buße des Bußeablegenden aufnehmen. Sie erkennt auch automatisch, ob der Büßende lügt oder die Wahrheit spricht. Wie genau das funktioniert, weiß Dirk auch nicht so recht. Jan hat versucht, es ihm zu erklären, aber vielmehr als irgendwas mit Algorithmus und Spracherkennung konnte er sich nicht merken.

Die Rollen zwischen Dirk und Jan sind klar verteilt: Jan ist der Programmierer, Dirk der Vermarkter. In Gesprächen mit potenziellen Kooperationspartnern spricht Dirk eh viel lieber über die vielversprechenden Vorteile, statt über langweilige technische Detailfragen. Noch haben sie mit „Applass“ keine konkreten Kooperationen an Land ziehen können, wie Dirk einräumt. Aber er bekräftigt, dass sie an Großem dran sind.

So könnten z.B. schon bald Menschen, die besonders häufig, offen und ehrlich Buße tun, Vorteile bei der Kirchensteuer genießen. Oder per App direkt in den Klingelbeutel einzahlen. Oder vergünstige Jahresabos für Grabkerzen abschließen. Oder Rabatte auf Pauschalreisen in den Vatikan bekommen.
Oder…

Dirk schreckt auf. Er scheint wieder einen kurzen Tagtraum gehabt zu haben.
Aber nun ist er wieder zurück im Jetzt, zurück in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung mit Jan. Er schaut auf den Computermonitor und ihm wird klar: es ist wahr.

„AppLass“ ist soeben im AppStore erschienen, verfügbar für jeden modernen Sünder. Dirk und Jan haben ein Lächeln im Gesicht. „Damit werden wir reich.“, sagt Dirk.

Sie wissen noch nicht, dass sich das schon bald als Lüge herausstellen wird.

Juliane Kling: Struktur

Wilma ist ein ordnungsliebender Mensch. Sie schätzt es, wenn die Dinge ihren geregelten Gang nehmen. Aufgaben erledigt sie planvoll und mit ausgesuchter Sorgfalt. Sie mag es, wenn Handlungen und Abläufe ein durchdachtes System haben. Das verschafft einem Überblick. 

Wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewohnten Platz oder in der von Wilma als sinnvoll erachteten Reihenfolge befinden, gerät sie leicht aus der Fassung. Chaos hat in Wilmas Leben keinen Platz. Deshalb sind To-Do-Listen ihr heiliger Gral. Nur wenig verschafft Wilma so viel Befriedigung, wie einen Tagesordnungspunkt in ihrem Taschenkalender abzustreichen, außer vielleicht ein doppelt gereifter Single Malt mit ihrer Nachbarin Dorea. Dorea ist Griechin und eine echte Whiskyliebhaberin. 

Dorea meint, der verfluchte Ouzo solle bleiben, wo der Pfeffer wächst und zwar in der Unterwelt. Ungeachtet der Tatsache, dass Wilma einen kräftigen Ouzo sicherlich nicht ablehnen würde, könnte sie bei dieser Aussage regelmäßig an die Decke gehen. In der Unterwelt kann ihrer Ansicht nach nicht einmal der Pfeffer wachsen. Da wächst überhaupt nichts, abgesehen von Doreas haarsträubenden Schnapstheorien. Wilma hasst Ungenauigkeiten und man könnte sie in dieser Hinsicht durchaus als pedantisch bezeichnen. 

Früher haben sich Dorea und Wilma jeden Sonntagabend zusammen den Tatort angeguckt. Mittlerweile will Dorea das allerdings nicht mehr, weil Wilma sich stundenlang über die strukturlosen Ermittlungsversuche der Hauptfiguren aufregen konnte, von den fatalen Logikfehlern im Drehbuch noch gar nicht angefangen. Statt dem Tatort schaut Wilma jetzt lieber anspruchsvolle Dokumentationen auf Phoenix und genehmigt sich dabei ein Glas Brandy. 

Neben ihrem Interesse an gut recherchierten Dokumentarfilmen hegt Wilma eine große Leidenschaft für Unterhaltungsliteratur. Sie liebt es, in die Geschichten Anderer einzutauchen und dabei zu wissen, dass sie jederzeit in ihre eigene Ordnung zurückkehren kann. Bei den Büchern in ihren Regalen achtet Wilma stets darauf, dass die Rücken Kante auf Kante stehen. Dass sie eine farblich abgestimmte und ebenmäßige Gerade bilden, die streng nach Autor, Verlag und Thema organisiert ist. Jedes Mal, wenn Wilma auf die tadellosen Regalreihen in ihrem Schlafzimmer blickt, fühlt sie sich von einer tiefen inneren Zufriedenheit erfüllt. 

Allgemein ist Wilmas Wohnung geradezu penibel sauber und aufgeräumt, was von unangekündigtem Besuch für gewöhnlich mit hellem Erstaunen und unverhohlener Bewunderung quittiert wird. Ob das etwa immer so aussehen würde? Ja, sagt Wilma dann schlicht und öffnet eine Flasche französischen Weißwein, den sie für solche Fälle vorsorglich im Haus hat. Niemals würden Wilma unerwartet das Klopapier oder die Dinkelnudeln ausgehen. Hygieneprodukte und Vorräte werden aufgefüllt, bevor sie sich dem Ende neigen. 

Wilma hasst plötzliche Überraschungen, weshalb ihr unangekündigter Besuch auch gehörig gegen den Strich geht. Die Flasche Weißwein dient daher in erster Linie ihrem eigenen Wohlbefinden. 

Manchmal wäre Wilma gerne flexibler, aber flexibel zu sein erfordert Spontaneität und Spontaneität bereitet ihr enormen Stress. Wenn Wilma gestresst ist, wird sie unausstehlich. Ihre Hände werden schwitzig und ihr Mund trocken, sie bekommt Herzrasen und Ohrensausen. Sie braucht dann ganz schnell einen Schluck Likör von ihrer Oma Hilde und falls der nicht zur Hand ist, tut es auch etwas anderes, Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck und fegt Wilmas Gedanken wieder frei. Ein klarer Kopf bedeutet Ruhe und Konzentration und die hat Wilma dringend nötig. 

Ihr Erinnerungsvermögen lässt sie in letzter Zeit häufig im Stich. Sie vergisst, wo sie ihren Taschenkalender hingelegt und ob sie die Wohnungstür abgesperrt hat, nachdem sie das Haus verlassen hat. Deswegen hat sie sich nun Ginkgo-Tabletten gegen Gedächtnisstörungen gekauft und nimmt jeden Tag eine, ganz genau nach Packungsanleitung. 

Wilma hat früh gelernt, dass man mit Umsicht und Sorgfalt viel erreichen kann. Wenn sie sich abends mit Freundinnen in einer Bar verabredet, kann sie ohne schlechtes Gewissen den teuersten Gin Tonic auf der Karte bestellen. Sie kann vier Stück davon trinken, bevor sie nicht mehr deutlich sprechen kann.
Daran hält sie sich akribisch.

Wilma verabscheut Improvisation und ihr Rausch hat immer System.

„Man darf nicht den Überblick verlieren“, sagt sie. „Struktur ist wichtig.“

Margret Bernreuther: Sucht

Mit dieser Art von Einsätzen hatte ich wirklich meine Probleme.
Aber sich drücken ging nicht. Sind wir doch mal ehrlich. Niemand aus unserer Truppe hat Lust auf so einen Einsatz.
Der Ablauf ist in der Regel immer der Gleiche.
Ein Nachbar ruft an und beschwert sich wegen eines schlimmen, bestialischen, alle Alarmsignale weckenden Geruchs aus der Nachbarwohnung.
Natürlich sind da auch manchmal so Scherzbolde dabei, die anrufen um sich über die Kochgerüche der arabischen Nachbarn aufzuregen.
In so einem Fall gibt’s dann gern mal eine Anzeige, wegen grundlosen Rufens der Polizei.
Im heutigen Fall zeichnete es sich aber schon ab, das wir es mit einer gerechtfertigten Anzeige zu tun hatten.
Die Wohnung war uns zumindest nicht unbekannt. Zumindest die vermeintlichen Bewohnerinnen.
Die beiden Schwestern hatten schon mehrere kleinere Anzeigen bei uns im Computer, wegen kleinerer Delikte. Kleinere Diebstähle, Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Die Nachbarn hatten uns informiert, dass aus der Wohnung ein furchtbarer Gestank zu vernehmen sei. Klingeln und Klopfen hätten nichts gebracht. Keine der beiden Damen öffnet die Tür.

Die Polizei kann eine Wohnung gegen den Willen des Inhabers nur betreten, wenn dies zum Schutz eines Einzelnen oder des Gemeinwesens gegen dringende Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist.

Gefahr in Verzug. Umgangssprachlich.
In diesem konkreten Fall. Die Sorge der Anwohner, dass jemand in der Wohnung gestorben ist.
Ich bezweifle das. So schnell stirbt man nicht.
Trotzdem müssen wir hin und mein Kollege und ich werden zugeteilt.
Auf der Fahrt zu der Wohnung sprechen wir wenig. Mein Kollege spricht eigentlich generell wenig mit mir, aber er ist kein Arsch. Dem ist zum Glück auf eine gesunde Art alles wurst.

So eine Einstellung bewundere ich. Dienst nach Vorschrift, sich nichts zuschulden kommen lassen. Alles immer korrekt bei dem. Und noch dazu, sich deswegen nicht wichtig machen.
Hätte ich heute diesen Einsatz abgelehnt, wäre das sicher so rüber gekommen. Dass ich mich wichtig machen will. Ab und zu dürfen wir das.
Einsätze verweigern, ohne Angabe von Gründen.
Das ist ein kleiner Trick den unser Dienstleiter sicher aus irgendeinem Motivations-Seminar hat.

Lassen Sie in einfachen Dingen auch mal Fünfe gerade sein

Allzu oft brauchst du das aber nicht bringen. Und ich will auch nicht, dass jemand Verdacht schöpft, weil ich jedes Mal bei dieser Art von Einsätzen kneife.
Ich habe jetzt in meiner Dienstzeit schon echt ein paar heftige Sachen gesehen. Blut zum Beispiel macht mir überhaupt nichts aus.

Wir sind am Wohnhaus angekommen. Hier gibt es immer mal wieder Randale.
Das Viertel wird gerade von  Hipstern übernommen und die Häuser nach und nach saniert. Das Haus, wo wir heute sind, ist das letzte in dem Strassenzug, das noch nicht renoviert wurde.

Die Wohnung befindet sich im dritten Stock.
Das Eingangstor ist nicht verschlossen.

Der Vorgang ist klar: erstmal nach oben und klingeln und vehement klopfen.
Checken, ob etwas in der Wohnung zu hören ist.
Im zweiten Stock vernehme ich den Geruch schon. Es ist kein Verwesungsgeruch und ich weiß jetzt schon, was uns bevorsteht.
Der Geruch – eigentlich Gestank – ist eine Mischung aus Kompost und Zigarettenrauch.
Süß und herb. Und es reicht eine kleine Prise, um bei mir eine Erinnerungskette in meinem Gehirn freizuschalten. Schon verrückt wie stark das Gehirn auf Gerüche reagiert.
Wie gut man sie sich merken kann.

In meinem Kopf bin ich wieder 8 Jahre alt. Wir lebten damals in einem ähnlichen Mietshaus. Jeden Nachmittag, als ich von der Schule nach Hause kam, empfing mich dieser Geruch.

Meine Mutter war ein Messi.
Jemand der nichts wegschmeissen konnte.

Und da war es vollkommen egal, ob die Dinge, die sie anhäufte, einen Wert hatten.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mir jemals etwas zu essen gekocht hat.

So schnell stirbt man nicht

Das Hämmern an der Tür ließ mich aus meinen Gedanken schrecken.
Die Nachbarin steckte mittlerweile ihre neugierige Nase zur Tür hinaus.
Ja, gut, dass die Polizei endlich da ist. Der Gestank ist ja wirklich nicht mehr auszuhalten.
Die zwei Frauen waren eh nicht mehr ganz sauber, sie wissen schon was ich meine.
Das war ja nur eine Frage der Zeit, bis die sich mal was antun.
„Haben sie mal die Nummer der Hausverwaltung für mich“
„Ja, Guten Tag, wir bräuchten Zugang zu einer ihrer Wohnungen“

„Ja, wir warten“

Ich habe mich immer gefragt, wo meine Mutter all das Zeug eigentlich her hatte.
Wir hatten kein Geld. Nahm ich zumindest an. Meine Mutter hat meines Wissens nach nie gearbeitet.
Ich war mit einem mir unbekannten Mann irgendwann gezeugt worden. Ich hatte noch zwei ältere Geschwister, die schon lange ausgezogen waren.

Mein Therapeut hat mir gesagt, ich muss das von mir loslösen. Meine Mutter war krank.

Der Begriff Messie-Syndrom (abgeleitet von englisch mess „Chaos, Durcheinander“) bezeichnet ein zwanghaftes Verhalten, bei dem das übermäßige Ansammeln von mehr oder weniger wertlosen Gegenständen in der eigenen Wohnung im Vordergrund steht, verbunden mit der Unfähigkeit, sich von den Gegenständen wieder zu trennen und Ordnung zu halten

Ich muss verstehen, dass das wie eine Sucht ist. Der Betroffene kann nicht damit aufhören.
Die Betroffene kann nicht mehr wichtig von unwichtig unterscheiden.
Die Betroffene kann nichts dafür, dass man vor lauter Zeug um sich herum vergisst, dass man ein Kind hat.

Der Hausbesitzer ist mittlerweile eingetroffen. Vorerst verzichten wir auf Verstärkung.
Reicht auch wenn wir die rufen, wenn wir eine oder zwei Tote in der Wohnung finden.
Der Hausbesitzer schließt die Wohnung auf. Die neugierige Nachbarin, die sich direkt hinter mir in Position gebracht hat, fängt unmittelbar das Würgen an.
Es ist genauso wie ich es geahnt habe. 

Ich betrete meine Wohnung. Verrückt, dass sich die Art von Messi-Wohnungen so wenig unterscheiden.
Damals als mich das Jugendamt zusammen mit der Polizei aus der Wohnung geholt hatte, mussten sie sich auch erstmal einen Weg zu mir freiräumen.
Ich war seit drei Tagen nicht mehr in der Schule gewesen und meine Lehrerin hatte Meldung beim Jugendamt gemacht.
Die Polizistin, die mich damals aus der Wohnung getragen hatte, roch ganz betörend gut nach Waschmittel. Manchmal denke ich mir, das ist auch der Grund warum ich Polizistin geworden bin.
Und wenn die Großwäscherei, die unsere Uniformen wäscht, irgendwann das Waschmittel ändert, kündige ich.

Mein wortkarger Kollege kann sich nicht mehr beherrschen. Er flucht, weint geradezu. Wir können die Wohnung nicht betreten.
Mit Tränen in den Augen rufe ich die Verstärkung. 
Ja, sie soll gleich der Entrümpelungsfirma bescheidgeben.

Zwei Tage lang haben die gebraucht um die Wohnung zugänglich zu machen.
Von den Frauen fehlte jede Spur.
Genau wie meine Mutter hatten sie sich in Luft aufgelöst.
Das Jugendamt konnte mir nie sagen wo sie abgeblieben war.