Zeha Schmidtke: Das Märchen von der Ameise und der Grille und ihrem gemeinsamen Feierabendpilz

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über musiziert, während die Ameise für den Winter Getreide sammelte.

In Wahrheit nun taten es beide längst schon im Gefühl des zeitlos Immergleichen. Zu jeder Zeit und an allen Orten waren sie verfügbar für Königin und Publikum. Die Ameise durfte ihre Königin sogar duzen und fuhr mit ihr auf teambildende Erlebniswochenenden. Die Grille fiedelte auf den Bällen ihrer vermögenden Fans lustig zum Buffet. Selbst wenn sie insgeheim so manches Mal alledem schrecklich müde waren: Solange sie gebraucht wurden, konnten sie nicht untergehen im Mahlstrom des Weltengewimmels. So war ihr Glaube, und er stand fest.

Da aber kam ein Virus in die Welt, angsteinflößend unbekannt. Bilder von Toten und atemlos Kranken machten die Runde, und Sorge fuhr in alle Glieder. Das Leben blieb fortan daheim. Die belebten Plätze waren’s nimmermehr. Selbst im Ameisenhaufen wimmelte jede nurmehr noch für sich, allein in ihrer kleinsten Zelle. Und das Rad des Alltags, das niemals stillgestanden hatte, kam so schnell zur Ruh, dass jede Kreatur sich ungläubig die Augen rieb. Hatte es nicht immer geheißen, dass sein Schwung auch die Welt in Drehung hielt? Zum ersten Mal herrschte die Stille, und sie summte in den Ohren, als wären alle Nashornkäfer zugleich auf Paarungsflug.

„Nun also“, sprachen Grille und Ameise gemeinsam, „ein Neues ist ja stets auch Chance. Lasst uns fürs Erste Vorräte ausgeben; wir sind hier ja beileibe nicht arm.“ Als nun aber die Säcke zu den Wartenden gebracht wurden, da blieb’s doch wieder recht beim Alten: Wer vorher schon sehr viel besaß hatte, erhielt nun viel zum Ausgleich. Wer vorher aber wenig hatte, dem wurde nun noch weniger zuteil. „So hat es für alle einen Verzicht“, erklärten die Ameisen von der Ebene Verteilung, „und so sind wir es auch gewohnt. Wir wollen ja schließlich, dass es weitergeht.“ Da kam über die kleinste unter den Grillen ein bergegroßer Zorn. Sie hatte stets allein musiziert, in den allerkleinsten Ackerfurchen, wo immer man sie nur ließ, doch stets im Geiste für alle. Und alle wussten das, dessen war sie gewiss. Doch nun hatte man ihr aus dem Vorrat grad mal einen freudlosen Klumpen Hartz zum Mümmeln zugedacht. „Ging Euch Euer täglich Tun im Takte meiner Melodien nicht leichter von der Hand?“, fragte sie mit bitterer Zunge. „Und habt Ihr Euch nicht meine Verse vorgetragen, wenn Ihr von Liebe spracht? Und wenn mein Lied dann lief und ohne jeden Cent, spracht Ihr dann nicht: Sie spielen unser Lied?“ „Jawohl“, riefen da alle Grillen zum ersten Mal gemeinsam, „wir füllen Eure freie Zeit rund um die Bullshit-Jobs mit Poesie und Rausch. Mit Hoffnung, Sehnsucht, Lebenssinn. Wenn wir nicht wären, hättet Ihr längst vergessen, dass es das Streben nach dem Schöneren gibt. Wo hat es noch Momente, die nicht zweckgebunden sind? Nur in der Kunst und nicht in Eurem Alltagsleben! Und ist Euch das so wenig wert? Wollt Ihr all das schlicht verlieren? Es wird ein böses Ende nehmen, wo es den Freigeist bräuchte und doch die Krämerseele federführt.“

Diese Worte aber weckten in der mittelmäßigsten der Ameisen eine unbezähmbar speiende Glutwut: „Warum denn sollen wir Eure Künste höher preisen, als Ihr es selber tut? Ihr stellt Euch doch auf jedes Brett und unter jedes Licht, wenn man Euch nur ein Publikum verspricht. Und als das Virus kam, habt Ihr da nicht höchstselbst all Eure Kunst gleich online preisgegeben, bevor man auch nur Lockdown sagen konnte?“ – „Und gab es Elend vielleicht früher nicht?!“, führten es die anderen Ameisen eifrig weiter. „Gab’s vorher keine, unter Euch und unter uns, die still und heimlich längst schon nur am Krümel Hartze nagten? Habt Ihr die aufgefangen? In ebendieser Solidarität, nach der Ihr jetzt krakeelt, da es nun auch die Lauten von Euch trifft? Freilich, der Mensch ist so, dass ihm erst eignes Elend als unerträglich scheint. Doch sagt Ihr ja, dass ihn die Kunst verändern kann. Wo sieht man das bei Euch? Was ist denn die Lobpreisung Eurer hehren Kunst noch anderes als Preisen heiliger Ablassware? Spirituelle Krämerseelen, die Ihr seid, habt Ihr an dieser Welt genau so mitgewirkt.“      

Wild fuchtelten Insektenbeinchen durch die Luft und vor den starren Augenpaaren. Ameisenpiss schoss durch die Luft, man hörte Grillenzangen schnappen, und Kampfeshass nahm schnell Gestalt. An Mindestabstand dachte niemand mehr.

Da trat ein seltsam Wesen zwischen sie in ihre Mitte, von platter Art in der Gestalt und sprach über das heiße Schwirren: „Hört, hört. Ihr kennt mich gut. Mein Name ist in aller Munde. Ich bin die Wanze Systemrele und ohne Neigung zu einer Partei. Drum lasst Ihr mich im Ring hier richten. Für meine Arbeit will ich nichts. Es reicht mir, dass Ihr aufeinander schlagt. Denn so erkennt Ihr an, dass es auch weiterhin so bleibt. Und ich mich an Euch laben kann, was Wanzen nunmal tun, hurra, die Runde Eins.“ Und dann, schon gar so kurz vor Zwölf, dass es niemand mehr glauben könnte, wenn das hier nicht ein Märchen wär, da kam Moral in die Geschicht’ – und zwar vom Grunde her. Der Boden öffnet sich und spricht: „Das, was Ihr Boden nennt, auf dem ihr kraucht, bin alles ich. Ich bin der Pilz, der größte, ält’ste Organismus hier, ich muss jetzt schließlich sprechen. Weil Ihr nun nicht erkennen könnt, dass Euer Unterschied Ergänzung heißt. Dass es das Spiel und seine Wartung braucht. Das Daheim und das Wolkenkuckucksheim. Die Wild- und die Geborgenheit. Ameisengrillen in der Welt, mit ernstem Spaß. Sonst wird das nix.

Nun hatte ihr ja so viel Zeit, Ihr Evolutionierten, dass es heißt: Es ist schon nix geworden. Mein fungizider Vorschlag also, gutes Ende, das noch kommen kann: Ihr macht nun einfach alle weiter. Oder auch nicht. Macht’s, wie Ihr wollt. Und ich wachse gemächlich drüber. Und füge uns zusammen. Zu der Gemeinsamkeit, die Ihr alleine nicht schafftet. Das tut nicht weh und kostet nichts.“

Und seitdem ist es also so. Wir machen weiter oder nicht. Und Pilz gibt uns die Sporen. Denn jener Virus, vom dem hier zu sprechen war, das ist nicht dieser aus dem Hier und Jetzt. Nein, die Geschichte ist schon eine Weile her, wie jedes Märchen. Und heut ist längst schon mittendrin im Einigwerden. Du kannst den Hautpilz gern noch einmal niedersalben, auch am Fuß. Auf die paar Tage kommt’s nicht an.

So gibt es dann zum guten Schluß, zum Feierabend Pilz für Dich, mich, jede, jeden. Und wenn wir nicht gestorben sind, sind wir dann endlich alle einig eins.

Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!

Wie gefährlich sind Tapezierer? Ist das massenhafte Auftreten von Tapezieren wirklich ein Zeichen für eine florierende Ökonische? Oder eher der Vorbote, dass die Menschen die Freundlichkeit verlernt haben?  

Aus aktuellem Anlass fragen wir: Wie gefährdet sind Tapezierer wirklich?  

Stimmt es, dass sie nicht mehr wissen wie man lächelt und daher alles »hinter die Tapete kehren« wollen? Fragezeichen…?  

Aber nein: wie ein Neuseeländisches Experiment gezeigt hat: die unkontrollierte Vermehrung des gemeinen Tapezierers bringt andere Gruppen rasch in Bedrängnis. Zum Beispiel den wandernden Kalkbrenner, die Papierschöpferin oder das nächtliche Mauerkratzerlein. Und was reimt sich schon auf Tapezierer? Richtig: Gegenieber.  

Das hat das Neuseeländische Experiment deutlich gezeigt: Die Übersiedlung der wenigen Überlebenden nach Australien – völlig sinnlos. Plötzlich flohen alle australischen Furzkissenbläser*innen über den »Leimeimer«, wie der Pazifik zwischen den Kontinentalstaaten genannt wird.  

Nun hat Neuseeland ein Problem, während in Australien alle Wohnungen schön Raufaser. Die Tapezierer jedoch, die haben sich erst noch einmal kräftig vermehrt und dann gegenseitig. So ist das eben in der Praxis.  

Scheiß auf Neuseeland. Elitäres Blumenmuster-Pack… Meine liebe Güte, bin ich heut drauf! Na ja, ganz normal. Lag heut früh schon Gefährdung in der Luft. Irgendwas mit dem Wetter, man glaubt es nicht! 

Gordie Lachance: Im Nebel oder Mit 17 hat man noch Träume

Ich bin bei dir und bin glücklich.  
Das Gedicht über deinem Bett sagt, dass kein Mensch den anderen sieht und jeder allein ist. Ich kenn dieses Gedicht fast auswendig, so oft habe ich es gelesen.
Jetzt lese ich es zum ersten Mal, ohne mich dabei einsam und ungesehen zu fühlen.
Weil du mich siehst. 

Meine Mutter ruft an und sagt, dass ich heimkommen soll, weil mein Vater „wieder spinnt“. 
Ich will bei dir bleiben, verdammt. Aber „spinnen“ kann Mord und Totschlag bedeuten. Glaub ich. 

Du sollst mich nicht für ein Muttersöhnchen halten. Ich versuche, einen coolen Abgang hinzulegen. Ich gebe dir einen pseudo-ironischen Handkuss. Bescheuert. Dann renn ich nach Hause, im Glauben, meine Mutter retten zu müssen.
Als ich heimkomme, ist gar nix los. Meine Eltern gehen sich nur aus dem Weg, sonst nix. Arschlöcher.

Ich telefoniere mit dir und irgendwie ist es komisch. Du sagst, dass du mich wieder anrufst und legst auf.

Du rufst nicht an und ich ruf dich nicht an, weil du gesagt hast, dass du mich anrufst und ich mich nicht aufdrängen will. 

Ich möchte irgendwas für dich sein.

An einem Sonntagabend sitz ich mit meiner Mutter vorm Fernseher. Es war den ganzen Tag friedlich, weil mein Vater Notarztdienst hatte und deshalb kaum zu Hause war. Jetzt kommt er heim. 

Er sagt, dass man deine Leiche gefunden hat. Dass du dich in den Tod gestürzt hast.

Sowas kommt vom Kiffen, sagt mein Vater. 

Sowas kommt von Menschen wie dir, schrei ich ihn an.

Am Ende bin ich nur sich selbst.

Felix Benjamin: Ausländer

In der zweiten Klasse laufe ich neben meinem Freund Tino die Straße entlang. Wir haben uns gerade das Sams im Theater angeschaut. Auf der anderen Straßenseite sehen wir zwei Jungs in unserem Alter, die sich in einer uns fremden Sprache anschreien und anfangen, aufeinander einzuschlagen. 

„Ich dachte, Ausländer halten immer zusammen,“ sagt Tino. Ich antworte: „Warum? George Bush und Saddam Hussein kämpfen doch auch gegeneinander.“

Raphael Stratz: Geschichte einer Selbstbefreiung

Eigentlich hatte P. es nicht tun wollen. Viel zu lange hatte er sich gesträubt, sich dem Gedanken widersetzt. Was hatte er nicht alles getan, um ihn aus seinem Kopf zu bekommen? Er hatte sich selbst verboten ihn zu denken, hatte sich seinem unveränderbar scheinenden Schicksal gefügt. Er hatte alles über sich ergehen lassen, all die Demütigungen hingenommen und sich nebenbei selbst verboten, den Gedanken der Befreiung und des echten Lebens in seinen Kopf hineinzulassen.

Nächtelang war P. wachgelegen. Nicht im Stande zu schlafen, da ihm seine Träume nicht gehorchen wollten und immer wieder dasselbe nach oben spülten. Wenn er dann schweißgebadet aufwachte, oft schreiend, und keinen Ausweg erkennen konnte, wusste er im Grunde seines Herzens, dass er es irgendwann würde tun müssen. 

Und doch hatte er es so lange geschafft, sich zu widersetzen.

Zu behaupten, er hätte ihn töten wollen, wäre nicht nur eine Lüge, es wäre eine Kränkung ohnegleichen gegenüber P. gewesen. Er hatte diesen Mann geliebt. Er war alles, was seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Er war abhängig von ihm gewesen. Und genau diese Abhängigkeit war das Problem. Er hatte ihn entmenschlicht. Hatte ihn von allen anderen abgeschirmt und nicht zugelassen, dass sie ihn sahen. Wenn er nicht gehorchte, hatte er ihn eingesperrt, bis er wieder handzahm war.

Es war kein Leben gewesen, das er mit ihm gehabt hatte. Es war schlicht und ergreifend die Hölle und das war ihnen eigentlich beiden klar gewesen, darüber war P. sich sicher. Auch wenn andere das vielleicht nicht erkannten, aber der Meister der Hölle war ein sympathischer älterer Herr mit Schnauzbart und runder Brille.

Seinen Plan, ihn umzubringen, hatte er gefasst, als er ihn wieder einmal in der viel zu engen Kiste eingeschlossen hatte, die sich nur von außen öffnen ließ. Wie jedes Mal hatte er panisch um sich geschlagen, hatte versucht, irgendwie zu entkommen und der allumfassenden, kompakten Dunkelheit zu entrinnen. Genützt hatte es wie immer gar nichts, aber dieses Mal war plötzlich alles anders. 

Als er sich hin und her warf, entgegen jeglicher Vernunft versuchte, sein Gefängnis aufzubekommen, obwohl sein Mechanismus das gar nicht zuließ, stieß er sich den Musikantenknochen an. Dieser Schmerz, der ihn daraufhin durchzuckte, ließ ihn sich zusammenkrümmen. Er hielt sich den schmerzenden Ellenbogen und atmete tief durch. Das war es, was ihn zur Besinnung kommen ließ. 

Er lag zusammengekrümmt auf der Seite und machte sich seine Situation zum ersten Mal seit Jahren überhaupt bewusst. Warum tat er sich das an? Warum ließ er zu, dass dieser Mann ihn behandelte, als wäre er sein Eigentum? Warum wehrte er sich nicht, wenn andere ihn wie Luft behandelten? Und überhaupt: Warum griff niemand ein? 

In diesem Moment hatte er erkannt, dass nur er selbst sich aus dieser Lage befreien konnte, für alle anderen war er unsichtbar. Er hatte ganz still in der Kiste gelegen und nachgedacht.

Ihn umzubringen war ihm selbstverständlich in den Sinn gekommen, alles andere wäre eine Lüge.

Doch hatte er sich diesen Gedanken nicht zu denken getraut. Wegzulaufen war auch keine Option. Wo sollte er denn hin? Erstens würde er keinen anderen Ort finden, an den er konnte und zweitens würde ihm niemand glauben, das wusste er.

Die einzige Möglichkeit, die er hatte, schien die zu sein, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Er hing am Leben als solchem. Also blieb ihm nur, seinen Peiniger zu töten.

Wie er es anstellen würde wusste er nicht genau. Zumindest am Anfang nicht. Doch er tüftelte sich einen Ablauf aus. Zuerst musste er ihn bewegungsunfähig machen. Besser noch: Bewusstlos. Wenn er das schaffte, wäre es ein Leichtes, den Rest zu erledigen. Wer sich nicht wehren konnte, war ein leichtes Opfer. Er überlegte sich verschiedene Wege, wie er ihn würde ausschalten können. Ihm mit irgendeinem harten Gegenstand eins überzuziehen, sodass er die Besinnung verlor, war zwar verlockend, jedoch konnte er sich selbst gut genug einschätzen, um zu wissen, dass ihm dafür schlicht die Kraft fehlte. Und ihm eins aufzubraten und damit nicht den gewünschten Effekt zu erzielen würde sich mit Sicherheit noch negativer auf sein Leben auswirken als gar nichts zu tun.

Er dachte auch über anderes nach. Er könnte dafür sorgen, dass er die Treppe hinunterfiel. Allerdings war auch das mit Unwägbarkeiten verbunden, die ihm zu riskant erschienen. Wenn er blöd aufkam und direkt tot war, wäre er zwar frei, doch das Gefühl der Rache, nach dem er inzwischen ehrlicherweise immer mehr gierte, würde sich sicherlich nicht einstellen. 

So kam er schließlich zu dem Ergebnis, dass die beste Variante wohl die wäre, die er für sich selbst als erste im Kopf gehabt hatte, bevor er diesen Gedanken verwarf. Gift war zumindest als Anfang eine gute Option. Er tüftelte verschiedene Möglichkeiten aus, wie er ihm dieses zuführen konnte. Eine Möglichkeit wäre gewesen, es ihm in sein Bier zu mischen. Das trank er regelmäßig und viel zu viel. Es hätte auch kein Problem dargestellt, es unbemerkt hineinzubekommen, da er oft angetrunkene Flaschen offen in den Kühlschrank stellte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu leeren. Das Problem bestand vielmehr darin, dass er keinen Zugang zu einem Stoff hatte, der sich dabei adäquat einsetzen ließ. Zwar gab es in der Werkstatt immer mehr als genug Stoffe, die eine giftige oder zumindest sedierende Wirkung hatten, doch diese hätte er alle herausgeschmeckt. Vermutlich hätte er den Geschmack nicht zuordnen können und das Bier für verdorben gehalten, aber die gewünschte Wirkung wäre auf diesem Weg eben nicht erzielt worden. Ihm kam auch der Gedanke, einfach Schnaps unter das Bier zu mischen, aber hier wäre der Effekt wohl entweder derselbe gewesen oder er hätte es zwar nicht bemerkt, aber dann wohl auch nicht ausreichend getrunken, um ordentlich weg zu sein.

Als ihm eine Lösung einfiel, war diese zwar nicht besonders elegant, aber so einfach, dass er sich selbst darüber wunderte, weshalb ihm dieser Einfall nicht schon viel früher gekommen war. Er musste ihn nur erwischen, wenn er eingeschlafen war. Ein gewisser Rausch konnte dabei nicht schaden, aber zwingend notwendig war er auch nicht.

Trotzdem wartete er einen Abend ab, an dem er noch etwas mehr trank als gewöhnlich.

Geduld war eine Tugend, die er sich mit den Jahren zwangsläufig hatte aneignen müssen. Wenn er in der Kiste eingeschlossen war, war sie seine einzige Rettung. Wenn er nichts zu essen bekam, war Geduld das einzige, das ihn aufrecht hielt. Und wenn wieder einmal andere Menschen bei ihnen waren, die ihn gar nicht erst wahrnahmen, oder die vielmehr so taten, übte er sich ebenfalls in Geduld, bis sie wieder fort waren. 

Der Abend, an dem er schließlich zur Tat schreiten konnte, kam früher als gedacht, doch wäre er auch jahrelang zu warten im Stande gewesen. Es war ein Sommerabend im August. Er war den Tag über alleine gewesen, zwar nicht in der Kiste, aber dennoch eingesperrt im Haus. Beinahe wäre er schon im Staub liegend eingeschlafen, als er ihn hereinkommen hörte. Er war wohl mit seinen Freunden beim Kegeln oder Kartenspielen gewesen, auf alle Fälle hatte er getrunken. Auf der Treppe hielt er zweimal inne, um tief durchzuatmen, einmal stolperte er an den Stufen. Dass er in dieser Verfassung war, erleichterte die Sache ungemein. P. fasste den Entschluss, es jetzt zu tun, sofort und ohne sich weiter große Gedanken darüber zu machen. 

Er würde es jetzt versuchen und sollte es misslingen, war die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass er sich am nächsten Morgen entweder gar nicht mehr daran erinnerte oder es schlicht für einen bösen Traum hielt. 

Er setzte sich auf und wartete ab, bis das Gepolter oben verstummt war. Als Ruhe einkehrte, schlich er sich so leise er konnte in sein Schlafzimmer, um die Lage zu überprüfen. Tatsächlich hatte er sich einfach ausgezogen und war auf sein Bett gefallen. Die Zähne hatte er sich zuvor offenkundig ebenso wenig geputzt, wie er irgendeine andere Form der Hygiene betrieben hatte. Das war widerlich, doch passte es in diesem Moment zu ihm und P. sollte es egal sein. Ein sauberer Toter war so viel wert wie ein ungewaschener, es kam darauf an, dass er am Ende nicht mehr leben würde. 

Er schlich sich wieder aus dem Zimmer und nach unten, wo er den Lumpen hervorholte. Er hatte ihn bereits vor einiger Zeit aus dem Abfalleimer gezogen und gut versteckt, sodass er ihn griffbereit hatte, sobald sich eine Gelegenheit bot. Wie er ihn präparieren würde, hatte er sich ebenfalls im Voraus überlegt. Da er nicht genau wusste, welche der Substanzen, die ihm zur Verfügung standen, am wirksamsten wären, um ihn wirksam auszuschalten, hatte er sich entschlossen, eine gute Mischung herzustellen und einfach alles zu verwenden. Damit hatte er einigermaßene Sicherheit, dass das richtige dabei war.

Er tunkte den Lappen in Leim, Lack, Alkohol, Farbe und andere Gefäße, deren Inhalt er nicht benennen konnte, die aber nicht rochen, als seien sie sonderlich gesund. Dabei achtete er stets darauf, dass die verschiedenen Stoffe nur die untere Hälfte des Lumpens bedeckten, sodass er ihn noch immer ordentlich halten konnte, ohne etwas davon an die Finger zu bekommen.

Damit ausgerüstet schlich sich P. zurück in das Schlafzimmer, wo sein Peiniger sich unruhig in seinem Bett herumwälzte. Er legte ihm den Lappen ohne Umschweife auf das Gesicht und stahl sich wieder hinaus. Was jetzt kam, war der schwierigste Teil. Er begab sich in die Werkstatt, wo er das Rollbrett, auf dem schwere Gegenstände durch die Gegend geschoben werden konnten, an sich nahm. Er schleppte es zurück in das Schlafzimmer, wo er ihn betrachtete.

Er war nur einige Minuten fortgewesen, doch das Herumwälzen hatte sich inzwischen gänzlich eingestellt. Nun lag der Mann, der ihn seit Jahren als seinen Gefangenen hielt, der ihn wie sein Eigentum behandelte und ihm sein Leben diktierte, reglos da. 

P. war erstaunt darüber, mit welcher Gleichgültigkeit ihn dieser Anblick erfüllte. Er hatte im Voraus befürchtet, dass ihn große Traurigkeit überfallen würde, wenn es auf das Ende zuging, war allerdings davon ausgegangen, dass er viel wahrscheinlicher von Erleichterung beflügelt wäre. Doch in diesem Moment war da einfach nur eine große Leere. 

Er atmete tief durch und kam zu der Einsicht, dass dies damit zu tun haben mochte, dass er noch nicht fertig war. Es gab noch einiges zu tun und außerdem konnte er sich auch noch nicht sicher sein, dass es wirklich schon vorbei war.

Noch einmal ging er zurück in die Werkstatt. Von der Werkbank nahm er sich die akkubetriebene Stichsäge und schleppte sie an das Bett. Was nun kam, war nicht schön, doch es musste sein. So, wie dieser Mann sein Leben zerlegt hatte, würde er nun ihn zerlegen.

Diesen Vorgang zu beschreiben, würde niemandem helfen, allenfalls wirre Geister könnten sich daran erfreuen. Wir springen daher zu dem Zeitpunkt, an dem P. diese Arbeit abgeschlossen hatte.

Tatsächlich ging die Sonne bereits wieder auf, als er alles vollendet hatte. Ohne Pause hatte er gearbeitet und Knochen für Knochen zersägt und die abgetrennten Teile im Anschluss auf das Rollbrett geladen. Immer, wenn dieses voll war, hatte er es zur Treppe geschoben und hinunterpoltern lassen. Das war zwar laut, jedoch befand sich niemand in der Nähe, dem es hätte auffallen können. Als er mit allem fertig war, hatte er die Einzelteile in der Kiste verstaut, in die selbst immer gesperrt worden war.

Nun war er frei und mit dem Sonnenaufgang kam auch die Erleichterung, die er sich so sehr erhofft hatte. Er war wieder richtiggehend fröhlich. 

Zum ersten Mal seit vielen Jahren hüpfte P. ausgelassen durch die Gegend und schmetterte einen selbsterdachten Reim: 

„Die Kommode ist schon ein Gewinn
Meister E., der liegt zerteilt darin!“

Uschi Heidinger: Tinkerbell in New York

Mit ihren 20 Jahren sitzt Tinkerbell angegurtet im Flugzeug, schwebend über New York. Gleich soll nun die Maschine landen. In Gedanken ist sie bereits bei ihrer besten Freundin, mit der sie zusammen eine kleine Wohnung tief unten in dieser Großstadt besitzt. Lyra wollte sie eigentlich abholen. Ob sie daran gedacht hatte?

Auf dem Nachhauseflug, von Paris herüber, konnte sich Tinkerbell gut mit ihrem etwa gleichaltrigen Reisenachbarn unterhalten. Er sah nett aus, mit seinem offenen Gesicht und den kurzen lockigen, dunklen Haaren. Sein Blick besitzt etwas Vertrauen Erweckendes, dass sie veranlasste, sich mit ihm zu befassen.

Als sie die Landung gut hinter sich gebracht, beginnt im Innenraum reges Treiben. Jeder will möglichst schnell sein Handgepäck mit sich nehmen, um sein jeweiliges Ziel zu erreichen.

So eilt auch Tinkerbell in die große Halle und vergisst doch, sich nach deem Namen ihres so netten Begleiters zu erkundigen. Freudig entdeckt sie in der Halle Lyra, die heute sehr fesch gekleidet, den Abholtermin der Freundin doch nicht vergessen. Lyra besitzt einen Kleinwagen, während Tinkerbell noch nicht die Prüfung für einen Führerschein in Angriff genommen.

Beide betreten den Flur ihrer gemeinsamen 3 Zimmerwohnung. Jede der Beiden bewohnt hier, am Central Park ein Zimmer, der dritte Raum dient als gemeinsames Wohnzimmer. Eine geräumige Küche lädt zum kochen, sitzen und klönen ein. Der gesamte Bereich beider ist hübsch gestaltet und trägt jeweils die spezielle Note der Einzelnen. Hier fühlen sie sich wohl. Auch eine große Terrasse, auf der viele Pflanzen wachsen, schließt sich der Küche an.

Tinkerbell erkundigt sich bei ihrer Mitbewohnerin, wozu diese heute so elegant gekleidet sei? „Nun, Du wirst nicht mehr daran gedacht haben, aber heute Abend ist mein erster großer Abend. In der Osloer Galerie. Wirst Du mich begleiten, damit ich seelische Unterstützung habe?“ „Da fragst Du noch? Natürlich werde ich dir Schützenhilfe leisten.“

„Tinkerbell, bevor wir los düsen, wollte ich mich noch nach Deinem Rückflug erkundigen. Hast Du immer noch Flugangst?“ Tinkerbell antwortet ihr: „Du wirst es mir nicht glauben, aber neben mir saß ein so himmlisch netter und interessanter junger Mann, dass ich kaum zum Angst haben gekommen bin. Leider vergaß ich, mich nach seinem Namen und der Adresse zu erkundigen. Aber er dachte auch nicht daran. Ich weiß nur, dass er auch in New York lebt und irgendetwas mit Theater zu tun hat. Wie soll ich ihn nur wieder finden in dieser großen Stadt?“ Geplagt von schweren Seufzern ruht sie auf dem Sofa des gemeinsamen Wohnzimmers.

Lyra fährt kurze Zeit später, nach Ankunft der Freundin weiter und parkt das Auto in einer Seitenstraße der Ausstellungsräume. Hier wird sie dringend von ihren Helfern gebraucht, um die Bilder während der Vernissage gut präsentieren zu können. Tinkerbell wird später mit einem Taxi nachfolgen.

Viele interessierte Gäste besuchen heute am 4. Juli, dem Nationalfeiertag der USA, die Galerie. Bei dieser Präsentation geht es für Lyra um mehr, als nur um einzelne Gemälde zu verkaufen. Hier dreht es sich auch darum, sich einen Namen in der Kunstszene zu machen. Aber ob das von Erfolg gekrönt sein kann, wird man doch erst am nächsten Tag in der Zeitung lesen können.

Eine Menge an Besuchern belagern Lyra. Tinkerbell kann unmöglich zu ihr durchdringen. So beobachtet sie aus den Augenwinkeln das Verhalten einzelner Kunstliebhaber. Die Bilder sind für die Freundin nicht neu. Sie kennt viele davon und hat auch schon für einige Modell gestanden. Wenn es sich nicht um ihre beste Freundin handeln würde, sie wäre längst nach Hause gegangen. Sie findet das ganze ein wenig affig. Tinkerbell, die selbst momentan noch eine Schreinerlehre absolviert.

Aber irgendwann wird es ihr doch zu viel. Sie spürt den Flug noch in den Knochen, winkt Lyra kurz zu und so verlässt sie die Ausstellung, indem sie die enorme Glasflügeltüre leise hinter sich schließt. Sie winkt eine Taxe heran. Zu Hause fällt sie todmüde endlich in ihr ersehntes Bett. Mit einem letzten Gedanken an ihren so gut aussehenden Flugbegleiter schläft sie endlich ein.

Tinkerbell erwacht am nächsten Morgen. Sie findet bereits in der Küche frischen Kaffee und Brötchen vor. Nimmt Platz.

Vor ihr liegt ein Zettel mit einer Nummer.

Lyra kommt aus dem Bad. Tinkerbell zu Lyra: „Was ist das denn für eine Telefonnummer?“ „Dreimal darfst du raten!“

Tinkerbell bekommt große Augen. „Nee, echt?“ Freudig öffnet sie ihr erstes Brötchen. „Wie bist Du denn an die geraten?“ Lyra: „Wenn Du nicht schon so bald gestern von der Ausstellung heimgegangen wärst, hättest du ihn selbst getroffen. Er war vergangenen Abend derjenige, der ein Bild mit Deinem Portrait von mir kaufte.“

Andy Frischholz: Heißgetränke

Wulferin geht durch die holzgeschwurbelte Tür von dem zu kaltweißlichen Draußen, dem Weiß eines verhunzten unbekannten Winter in die holzverbackene Stube oder Hütte. Es riecht selbstverständlich nach wiederaufgewärmten Männerduft und dürftig bis kalt angespritztem blauen Duschdas-Schampu aus der Holzdusche hervor und noch nach tierischen Unterbumpeln aus dem Film davor.  

Ihn friert in die blechernen Krallen im Arm. 

So schreitet er schneiend von draußen wo es kalt ist hinein und hat etwas vor. Wie zu erwarten war wird er wohl Wasser aufsetzen indem er das funktionierende  feingliedrige Ende seines muskelgepackten Oberarms, also die Hand, nach einem  Blechkännchen fast grabschend greifen lässt. Er selber bleibt dabei cool. Spannend ist dabei sicher die Dynamik des saunaesken Lichtes in der Spiegelung des  dauerwarmen Kännchens und das Aufglänzen der Muskeln. Im Wesentlichen füllt Wulferin hier Wurstwasser aus der Vergangenheit um, sodass er einfach beruhigt in das trübe  Hinterseits der Hütte verschwinden kann.

Carolin Wabra: Heißgetränke

Vor mir steht wieder einer dieser Personen. Späte Mittagspause, schlecht sitzende Anzugshose zum fröhlich gestreiften hemd, dazu natürlich helle Sneakers. Schließlich ist heute casual Friday und da darf, ja muss, sollte man sich sogar ein bisschen gehen lassen. Ein bisschen laissez faire, ein bisschen livin la vida loca.

Und die pause von der konzernarbeit verbringt man dann natürlich in dieser wunderbar, regionalen cafe-rösterei in der kleinen straße ums eck. Weil in der geht es ja so herrlich unkonventionell zu und da riecht es ja auch so intensiv nach gemahlenen bohnen und da kann man ja auch einfach so gut abschalten von den kollegen und dem chef und den 38 ungeöffneten emails im postfach, die man in den letzten 20 min erhalten hat. Und dann stellt man sich an diese schwere bar aus dunklem holz und überlegt erstmal ob man die bohne aus brasilien oder doch äthopien nehmen sollte, weil die eine ja eher nach schoko-nuss und die andere nach traube-grapefruit schmeckt und man ja nicht weiß was sich jetzt besser auf aufgeschäumter hafermilch macht.

Glücklicherweise muss man diese entscheidung nicht alleine treffen, denn als wäre es Schicksal – nein, vielleicht sogar Bestimmung – gewesen, steht da wer hinter der Bar, dessen langjährige und unverschämte teure Barista-Ausbildung nun endlich zum Einsatz kommen darf. Endlich darf man sich diesen ganzen Fragen stellen. Wie denn der Mahlgrad nun eingestellt war? Und die richtige Rösttemperatur? Wie hoch denn der Wasserdruck im Stadtgebiet läge und wie viel Gramm von welcher Bohne bei einer Sonneneinstrahlung von 35 Grad östlich benötigt wird?

Wenn dann die wichtigen Dinge endlich geklärt sind, darf der Gast von seinen eigenen Café-Gewohnheiten erzählen, von der kleinen Aeropress, die man sich erst kürzlich angeschafft hat, weil die ja so wunderbar praktisch ist, wenn man im selbstgebauten VW-Bus durch Marokko fährt. Von der kleinen italienischen Siebträger-Maschine neben der Herdplatte, die aber immer ein wenig leckt. Von diesem total starken, süßlich duftenden Mokka, den man sich damals auf der Durchreise nach Vietnam am Flughafen in Dubai gegönnt hat. Ach, die orientalischen Café-Gewohnheiten schlechthin. Total anders ist das ja, aber so interessant. 

Und während dieses ganzen Gespräches kann man endlich sein im Internet angelesenes Wissen anbringen und hält nach diesem mindestens drei minütigen Ritual endlich das heilige Cappuccino-Kalb in den Händen. 

Wenn ich hinter einer dieser Personen stehe möchte ich sie immer ein klein wenig schubsen. Nicht sehr. Nur einen ganz kleinen Schubs geben, damit der frischaufgeschäumte Milchschaum über den Tassenrand schwappt und das feine Blattmuster nicht mehr so ganz akkurat durch den Schaum schimmert. Ich selbst bestelle dann meist einer dieser Cold Brew Cafes mit Tonic Water, weil das ja auch so unkonventiell und eben doch ein wenig anders ist. Und während der engagierte Mann hinter dem Tresen das kühle Getränk ins Glas füllt, erzähle ich von meinem Urlaub in Rom und diesem unfassbar authentischen Café an der Promenade.

Ned F. McCowski: Heißgetränke

Ich war komplett besoffen und der Hintergrund war, dass ich mit Kommilitonen einen kleinen Weinhachtswinterspaziergang machte.
Und dann kamen wir auf den Wintermarkt und dort gab es Feuerzangenbowle.
Feuer – Zangen – Bowle.

Und wir tranken da erst mal einen. Ich kannte das noch gar nicht, schmeckte eigentlich ganz gut.
Und irgendwie trank ich da noch einen und ja Runde, um Runde. Immer mehr Runden, die Leute wurden weniger.
Zum Schluss waren wir nur noch zu dritt und … ich hatte kein Geld mehr, also habe ich mir noch Geld geliehen für ein weiteres Getränk.
Eine weitere Feuer – Zangen – Bowle.

Und dann fiel mir irgendwie ein: Ich hab ja noch das Bewerbungsgespräch beim Callcenter bei der Meinungsforschung. Institut Soundso.
Also setzte ich mich in den Bus und fuhr die paar Stationen zum Callcenter.
Callcenter ist so: Es gibt Kohle dafür, aber man brennt irgendwann aus. Ersteres konnte ich gebrauchen, zweiteres – na ja – ist nicht so toll.

Als ich da ankam, war ich schon mit ein paar anderen Bewerbern im Raum.
Und irgendwann ging die Führung los und uns wurde die Etage gezeigt.
Wenn der Mitarbeiter was erklärte, sagte ich immer: „Aha!“ und „Ist ja interessant!“
Dann war der Rundgang zu Ende und wir kamen in so nem Raum an, da stand halt ein Computer, ne, mit nem Headset.
Und wir sollten jetzt mal unseren ersten Call machen.

Uns wurde noch erklärt, dass wir den Leuten sagen sollen „Die Nummer ist zufällig gewählt“, aber die Nummer ist nicht zufällig gewählt. Und wenn die Leute zu sehr nachfragen, leiten wir sie an den Vorgesetzten weiter.

Da nahm ich halt Platz da in den Reihen in den Reihen hinter dem Computer und der Erste oder die Erste war dran.
Ich hielt meine Klappe, schaute zu.
Dann war ich dran.
Und ja, dann habe ich da halt den Text abgelesen.
Hab so möglichst freundlich gesprochen.
Es ging bei der Umfrage um einen Katalog und welche Marken da drin vorkommen.
Ich halt gefragt: „Kennen Sie diese Marke?“ und „Würden Sie diese Marke weiterempfehlen?“.
Halt voll scheiß freundlich und höflich und so. Dann bin ich auf Seite 14 oder so angekommen von dieser Umfrage und das Gespräch ist endlich vorbei.

Der, der Mitarbeiter der Firma klopft mir dann auf die Schulter und sagt: „Sehr gut, sehr gut“ – „Ich kann mir vorstellen, dass du eine große Zukunft in diesem Unternehmen hast, und ich würde mich freuen wenn wir Freunde werden würden“…

Dann war mir auf einmal voll schlecht und ich hab vorher noch: „Ja, klar“ gesagt. Bin ich… habe ich nach dem WC gefragt, bin ich aufs Klo und hab erst mal den ganzen, die ganze Feuer – Zangen – Bowle ausgespien.

Am Ende habe ich den Job doch nicht bekommen.
Seitdem habe ich nicht mehr Feuerzangenbowle getrunken.

Ramona Deniz: Abwarten und çay trinken

Du hast nie verstanden, wie wir selbst in der größten Affenhitze immer çay trinken können. Zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Mal mit Zucker, mal ohne.
Kaffee eher weniger. Und wenn es doch einer sein soll, dann nicht aus diesen massiven Gefässen, in denen sich das tiefe Schwarz ausbreitet wie eine sternenarme Nacht in jeder mittelgroßen Stadt.

Komische Kaffeekültür.

Dann lieber çay. Aus diesen filigranen Tulpen, die sich besser im oberen Drittel halten lassen.
Wegen der Hitze.
Kleines Hindernis neben den vielen Freuden:
Besser für das Herz. Und für die Freundschaft.

Denn während sich çay ohne Ende schlürfen lässt, von morgens bis abends, an milden und
bitteren Tagen, lässt sich das von Kaffee nicht behaupten.
Wer sich zum Kaffee trinken trifft, hat seine Zeit nicht eingepackt.
Bisschen auf Absprung. So zwischen Tür und Angel.
Sich etwas warm halten.
Sich jemanden warm halten, nur um dann wieder zu verschwinden.
Bis zum nächsten Kaffee.

Hayır. Das passiert bei çay nicht.
Nicht im Stehen trinkbar, nicht in Pappbecher befüllbar.
Du sitzt mehrere Teelängen, genießt.
Nicht zwischen Tür und Angel, mit Blick auf die Uhr.