Nach einer zwanzigstündigen Reise checke ich in meiner AirBNB Villa in Kathmandu ein. Popcorn für die Microwelle, sowie Sateliteninternet habe ich mitgebracht. Noch 23 Stunden bis zum Finale. Von hier aus werde ich es beobachten. Ich setze Bitcoin im Wert von 24 Millionen US-Dollar auf das rote Team. Mit Sonnenbrille und Hoodie sitze ich bei einem eisgekühlten Cocktail vor dem Gerät. Noch kurz die News checken. Alles läuft nach Plan. Team Blau fühlt sich siegessicher, hat es doch schon in den Vorrunden gut abgeschnitten. Doch Team Rot konnte in der Zwischenzeit zugewinnen und zählt jetzt 24 Millionen elektronische Staubsauger der Marke Roomba zu seinem Arsenal. Es ist also bald soweit. Das große Finale, die Schlacht um alles wird in wenigen Stunden beginnen. Ich rauche einen Joint auf dem Balkon, um runter zu kommen. Hier in Kathmandu fühle ich mich sicher. Fernab von den Hightechstädten der westlichen Welt. Die Spiele beginnen schon kurz vor dem Finale mit den kleineren Teams. Es gibt weltweit Nachrichtten von Ausfällen in Kommunikationsnetzwerken. Das Playsation-Netzwerk ist down, wahrscheinlich eine mittlere DDOS-Attacke. Genauso das Netzwerk von Microsoft XBOX-Live. Hier aus Kathmandu betrachte ich wie die Welt sich schlafen legt. Größere Städte wie Sans Franscico, New York, Bejing und Tokyo haben kein Internet mehr. Das Sateliteninternet ist noch stabil. Genüśslich greife ich in die Tüte mit dem gesüßten Popcorn. Auch das Sateliteninternet wird ausfallen, da bin ich mir sicher. Dann wird es auch bei mir ruhig werden. Ich habe mir ein paar Bücher über Spieltheorie mitgenommen, damit mir nicht langweilig wird. Die Schäden werden erst in den nächsten Tagen ganz behoben sein. Manch ein kleiner Inselsstaat wird es nicht überleben. Aktuell geht eine Liste mit Zielen im Darknet herum – es soll ja fair zu gehen, Zielen für Team Rot und Team Blau. Die russische Telekom zum Beispiel gehört Team Blau. AT&T und weitere amerikanische Netze übernehmen die Staubsaugerroboter von Team Rot. Es ist ein Spaß. Wochelang habe ich mich auf dieses EVent gefreut. Jetzt sind die finalen Chaos Tage gekommen. Es ist ganz einfach: Gekapterte Computersysteme spielen gegegeneinander wer die meiste Infrastruktur aus dem Weg räumen kann. Dahinter stecken Hacker aus aller Welt und Ziel ist es Freude am Gerät zu haben. Aktienkurse werden fallen, Menschen werden sterben, Chaos verbreitet. Und ich bin mittendrin. Ich bin kein Computergenie, nur jemand mit genug Know How um eventuell an dem ganzen zu profitieren. DEnn wenn das alles vorbei ist, werden die Wettbüros die Gewinne austeilen. Das heißt, falls sich deren Infrastrukur überhaupt erholt. Ein kleines bisschen Risiko ist schon auch dabei. Gegen zwei UHr früh fällt das Sateliteninternet aus. Jetzt beginnt mein Alternativprogramm. Popcorn habe ich genug gegessen, betrunken bin ich auch schon. Ich lege mich in den Jacuzzi und höre Musik. Meinen persönlichen Soundtrack zum Weltuntergang. In ein paar Tagen werde ich erfahren, dass Team Red gewonnen hat und mein Einsatz sich ausgezahlt hat. Doch jetzt döse ich im warmen Wasser der Unwissenheit. Verhaftungen werden folgen, die Börse wird sich innerhalb weniger Wochen erholen und das ganze wird in Vergessenheit geraten. Doch ich war ganz vorne dabei beim Finale und die ganze Welt schaute zu.
Kategorie: Erzählung
Jörg Hilse: Showdown in den Vogesen
Am Vormittag des 10.Mai 2005, gerade als sich André Wissembourg im staatlichen Automuseum von Mulhouse daran macht die Sitzpolsterung eines 1931er Bugatti aus der Schlumpf-Sammlung mit Lederfett einzureiben, steigt Jacques Lanthier, pensionierter Angestellter der Bank Credit Agricole in den Regionalzug nach Kruth um seine Schwester Severine in Saint Amarin zu besuchen. Fünf Minuten vor der Abfahrt betritt ein Fahrgast den Waggon dessen sportliches Outfit eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Denn obwohl der Mann mit seiner Begleitung sich in einer Sprache unterhält, die Monsieur Lanthier auf Deutsch schließen lässt, trägt er dennoch Trikot und Hose eines französischen Radrennstalls der allgemein nicht ganz unbekannt ist. Und als der Fremde in dem kleinen Nest Willer sur Thur sein blitzblank geputztes italienisches Rennrad auf den Bahnsteig schiebt, ahnt keiner der im Zug Verbliebenen, das ein Film mit der Schauspielerin Audrey Tautou Schuld daran ist, dass er ausgerechnet hier aussteigt.
Es war ein Freitag im Herbst des Jahres zuvor als Tobias Angermann in der Frankfurter S-Bahn saß und nach Hause fuhr. Der Tag war recht ruhig verlaufen, im Geschäft hatte es weder Ärger noch unangenehme Kunden gegeben, man ließ ihn sogar früher Feierabend machen um Überstunden abzubauen. So beschloss er vorerst nicht auszusteigen sondern in der Stadt ein bisschen durch die Fußgängerzone zu laufen um irgendwie zu entspannen. Tobias kam vom Bahnsteig die Treppe hinauf und blieb vor dem Kino an der Ecke stehen. Schon lange hatte er sich keinen Film mehr angesehen. Die ganzen Actionstreifen waren ihm meist zu blöd. Gerade lief in einem der kleinen Säle ein Film von dem Tobias Angermann bei ARTE einmal einen Ausschnitt gesehen hatte. Genau genommen ist es die Filmmusik, diese eigenartig beschwingte Melodie eines Akkordeons die ihn dazu bringt das er sich an der Kasse anstellt um sich eine Eintrittskarte und eine Cola zu kaufen ohne die Folgen zu ahnen. Ungefähr bei Filmminute 18 geschieht es. Tobias sieht wie kugelförmige Verschluss eines Flakons zu Boden fällt und gegen eine Fliese am Boden rollt, die von der Wand platzt. Als die Heldin Amelie Poulain in dem kleinen Hohlraum dahinter ein Kästchen findet dessen Inhalt nur ein kleiner Junge als Schatz betrachten kann, ist Tobias Angermann wie verzaubert. Die Kamera schwenkt auf die Spielfigur eines Radrennfahrers in dem Kästchen und plötzlich fühlt sich Tobias so als ob sein tiefstes Inneres Zwiesprache mit ihm hält.
Der Radrennfahrer in dem Kästchen, das bist Du sagt eine innere Stimme zu ihm. Zaghaft wie Du bist hast Du Deinen größten Traum vor allen verborgen, sogar vor Dir selbst. Auf was wartest Du noch, erfüll ihn Dir endlich. Als Tobias Angermann aus dem Kino kommt steht fest, er wird im nächsten Sommer nach Frankreich fahren, seinen Berg ins Visier nehmen und ihn auf seinem eigenen Rennrad bezwingen. Welcher, ist erst einmal egal, solange über den Gipfel auch gelegentlich die Tour de France rollt.
Nicole Angermann, Tobias Ehefrau hätte eigentlich nichts gegen einen Urlaub in Frankreich einzuwenden. Aber den in einer Bettenburg im Wintersportdomizil Alpe d‘Huez verbringen, wo im Sommer nichts los ist, nur weil der Göttergatte ein bisschen spinnt? No, No, No Monsieur. Sie möchte ins Elsass, durch die alten Gassen von Colmar laufen, das Maison Pfister bestaunen und im Musée Unterlinden Matthias Grünewalds Isenheimer Altar sehen.
Ich werde sie niemals überzeugen können in die Alpen oder Pyrenäen zu fahren, denkt Tobias traurig. Dabei brauch ich sie, ich kann ja kein Wort Französisch. Immer noch in gedrückter Stimmung liest er ein paar Tage später vom traurigen Ereignis, wie der Franzose Laurent Fignon auf der letzten Etappe beim Zeitfahren 1989 die gesamte Tour wegen lumpiger 8 Sekunden verliert. Wenige Zeilen später ist vermerkt, dass einer der letzten Siege des tragischen Helden aus Paris eine Touretappe auf den 1400 Meter hohen Grand Ballon war. Neugierig geworden schaut Tobi auf einer Karte nach. Der Grand Ballon liegt nur rund 20 Kilometer entfernt von Mulhouse. Und Mulhouse ist die nächste Stadt gleich hinter Colmar.
Tobi hat seinen Berg gefunden.
Inzwischen scheint die Mittagssonne hoch über den Tälern der Vogesen. André Wissembourg verabschiedet sich von seinen Bugattis und Jacques Lanthier sitzt immer noch bei seiner Schwester im Garten und isst eine Tarte die sie ihm gemacht hat. Eine ganze Anzahl von Kilometern entfernt kämpft sich Tobias Angermann über die letzten Meter zum Berggipfel hinauf. Tortur de France müsste es heißen denkt er, alles tut ihm weh, sogar die Bügel der Sonnenbrille scheinen sich in seinen Kopf zu bohren. Und trotzdem ist es das Größte was er je getan hat. Endlich oben angekommen ertönt kein Applaus. Niemand scheint Zeuge seines Triumphes zu sein, nur ein einsamer Wanderer kommt des Wegs. „ Monsieur“ ruft Tobias außer Atem und holt eine kleine Kamera aus der Trikottasche, „ un Photo si‘l vous plait“.
Mehr französisch kann er nicht. Der Wandersmann nimmt sie, und murmelt, den Auslöser suchend ein paar englisch klingende Laute. „ Jetzt weiß ich“ sagt Tobias in fast perfektem Englisch „ was so ein Radprofi durch macht.“ „ You came from down“ ruft der Wanderer erstaunt aus und blickt ihn völlig entgeistert an. „ Directly from the bottom“ sagt Tobias stolz und lächelt. Es fühlt sich an als hätte er gerade selbst die Tour de France gewonnen.
FD: Die Finale Stufe
Seit wann und wie lange die Treppe schon bestanden hatte, ließ sich nicht genau feststellen. An den Tagen nach der Entdeckung wurden zunächst Grundbucheinträge und Aufzeichnungen der alten Ruine gewälzt, ohne einen Hinweis auf eine in der Tiefe liegende Ebene zu finden. Der ehemalige Hof hatte einen Keller, die Treppenanlage an der Grenze des Grundstücks war jedoch nirgends verzeichnet. Zu Beginn weckte die Treppe vor allem die Neugierde der Anwohner der nahegelegenen Siedlung.
Tagsüber liefen Spaziergängerinnen vorbei und warfen neugierige Blicke in die Tiefe, am späteren Abend trafen sich Gruppen Jugendlicher und forderten sich gegenseitig heraus, der Treppe ins Dunkel nach unten zu folgen. Sie hinterließen Zigarettenstummel und leere Bierdosen. Nach etwa einer Woche waren schließlich Bürgermeisterin und Presse auf die Entdeckung aufmerksam geworden. Es wurde ein offizieller Termin ausgemacht, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
Trotz der vielen Neugierigen war nämlich das Ende der Treppe noch nicht erreicht worden. Immer weiter schien sie sich in die Tiefe zu schrauben und die meisten, die mit Handylicht oder Taschenlampe bewaffnet den Abstieg wagten, gaben spätestens nach hundert Stufen auf. Manche, besonders Abenteuerlustige oder auch Geduldige erreichten vielleicht noch die Hundertfünfzig, verloren aber nach einiger Zeit ebenfalls die Motivation für den weiteren Abstieg – denn allen war klar, dass sie den Stufen später auch wieder nach oben folgen mussten. Dennoch wollten alle wissen, was sich wohl am Ende der Treppe befinden mochte. Vermutungen und Gerüchte machten sich bald breit. Einige behaupteten, es seien die Überreste eines alten Luftschutzbunkers. Andere versteiften sich auf die Idee, dass auf dem ehemaligen Hof wohl Bier gebraut und dieses in den tiefen Kellern aufbewahrt wurde. Wieder andere wagten die Theorie, es könne sich um den Anfang eines alten Tunnelsystems handeln, das noch viel älter als der ehemalige Hof war und mysteriösen Zwecken gedient hatte.
Einige professionell ausgestattete Mitglieder der örtlichen Feuerwehr wurden beauftragt, im Namen der Stadt in die Tiefe zu steigen. Nachdem die Schaulustigen vor Ort bereits eine Stunde ausgeharrt hatten und weiterhin kein Wort von den Feuerwehrleuten zu hören war, verloren die ersten die Geduld und gingen nach Hause. Nach zwei weiteren Stunden waren nur noch die Einsatzleute vor Ort zurückgeblieben. Auch die Bürgermeisterin hatte sich mit dem Hinweis auf einen weiteren wichtigen Termin verabschiedet und der Mitarbeiter der Lokalzeitung musste am Nachmittag noch zur Versammlung des örtlichen Kaninchenzüchtervereins. Man möge ihn später telefonisch über die Entdeckung benachrichtigen. Nach insgesamt fast fünf Stunden war die Gruppe der Feuerwehrleute ohne viel neue Erkenntnisse zurück an der Oberfläche angekommen:
Die Wendeltreppe führte stets weiter und weiter nach unten, die anfangs noch gemauerten Wände gingen nach etwa dreihundert Stufen in reines Gestein über, wurden teilweise von Abschnitten rein aus befestigter Erde unterbrochen, um dann wieder von Gestein und teilweise kleinerem Mauerwerk abgelöst zu werden. Je weiter die Einsatzkräfte nach unten vordrangen, desto kühler, dunkler und stiller schien es um sie herum zu werden, bis sie nur noch ihre eigenen Schritte und das Schlagen ihrer Herzen hören konnten. Ohne ausreichend Verpflegung und mit der Aussicht, den Stufen auch wieder zurück nach oben folgen zu müssen, hatten sie die Erkundung schließlich abgebrochen. Die letzte, die finale Stufe hatte man nicht erreichen können.
Der halbherzige, in der Lokalzeitung gedruckte Hinweis auf die Entdeckung der Treppe und deren mysteriöse Umstände konnte nur die Aufmerksamkeit Weniger wecken. Die anfängliche Neugierde der Ortsansässigen nahm bald ab und das Thema wurde im öffentlichen Interesse schließlich von anderen, dringenderen Fragen abgelöst. Dennoch gab es einen kleinen Kreis Interessierter, die von der Treppe und dem Rätsel, das sie aufgab, angezogen wurden. Im Laufe der Wochen entwickelte sich geradezu ein kleiner Kult. Täglich konnte man eine Handvoll Personen in stiller Meditation auf- und absteigen sehen. Vielleicht drangen sie jeden Tag eine Stufe weiter in die Tiefe hervor, um am nächsten Tag wiederzukehren und noch eine weitere Stufe hinabzusteigen. Die ersten begannen schließlich, auch die Nacht auf der Treppe zu verbringen, dann ganze Tage. Mit Taschenlampen, Decken und Verpflegung ausgestattet, stiegen sie die Treppe immer weiter hinab immer weiter weg vom Lärm der Welt.
In der kühlen Stille des Gewölbes verbrachten sie schließlich immer längere Zeitabschnitte, ließen sich für einige Tage auf einem bestimmten Treppenabsatz nieder und gingen schließlich dazu über, nur noch in gelegentlichen Abständen eine Person an die Oberfläche zu schicken, um Verpflegung und weitere, für den Alltag wichtige Gegenstände zu holen.
Sie gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, an die Kälte und die Ruhe des Treppenschachts.
Stückchenweise verlagerten Sie ihre Stätten immer weiter nach unten, immer weiter weg vom Lärm an der Oberfläche – aber scheinbar nie näher zur letzten, finalen Stufe. Stattdessen näherte sich die Treppe mit jeder Stufe der Ewigkeit an. Die Besorgungsgänge die Treppe aufwärts wurden immer seltener. Gespräche und Gedanken wurden langsamer, als übertrage sich die ewige Ausbreitung der Treppe allmählich auf die Gemüter der Anwesenden. Die Möglichkeit, die Treppe nach oben zu steigen, ging schließlich vergessen.
Lange war niemand mehr oben gewesen. Die Treppenstufen schienen sich nach oben wie nach unten gleich weit auszudehnen. Das Gefühl für den Raum hatte sie verlassen, genauso wie das Gefühl für die Zeit. Sie wussten nicht, was oben passierte, wer noch dort war und wer nicht, wen sie zurückgelassen hatten. Aber es interessierte sie auch kaum. Gedanken und Bewegungen hatten sich der absoluten Stille angenähert. Außerhalb von Raum und Zeit verharrten sie im Stillstand.
Niemand war mehr anwesend, um zu bezeugen, wie die Treppe schließlich wieder genauso
plötzlich verschwand, wie sie aufgetaucht war. Niemand war mehr. Außerhalb der Zeit bestanden weder Anfang noch Ende
Jörg Hilse: Ich bin ein Römer
Christian Knieps: Räum auf!
Letztens kam ich in das Zimmer meines pubertierenden Sohnes und es sah aus, als hätte er den nicht ernst gemeinten Auftrag ernst genommen, jeden Quadratmillimeter seines Bodens mit irgendeinem Gegenstand zu bedecken. Zwischen dem Gefühl der Freude, dass mein Sohn etwas mit einer solchen Konsequenz betrieben hatte und dem aufwallenden Zorn, dass mein eigentlich gemeinter Auftrag wieder einmal völlig ignoriert worden war, fand ich im hinteren Bereich des Zimmers eine kleine Ecke, wo ich den Boden sehen konnte – und das Gefühl der Freude hatte keine Chance mehr. Ich nahm tief Luft und ließ den Zorn über meine Stimmbänder entweichen, doch die erwartbare Reaktion meines Sohnes zeigte mir, dass er seine Legierung mit Teflon überpinselt hatte, denn es kam nicht mehr der zarteste Hauch einer Kritik bei ihm an. Doch, o Wunder, bemerkte ich plötzlich eine Regung in seinem Gesicht und ein noch etwas unausgereifter Blick der Überlegenheit – man möchte nicht gleich sagen: Überheblichkeit! – zeigte sich.
»Dein Vorwurf, lieber Vater«, begann er mit einer viel zu freundlichen Stimme, »läuft ins Nichts, da Chaos im Griechischen weiter, leerer Raum bedeutet, und ich interpretierte das so, dass mein leeres Zimmer nicht unaufgeräumt sein kann!«
Ich gebe zu, ich war baff, aber vor allem musste ich mir selber eingestehen, dass das Gefühl der Freude plötzlich die Oberhand hatte. Mein Sohn sah und genoss seinen klaren Sieg, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sicherlich die Momente des Bildschirmanbetens maximieren würde.
Auch ich nahm mein Handy aus der Tasche und wollte mich nicht so einfach geschlagen geben, denn ein verlorener Kampf macht noch keine verlorene Schlacht, und ich wühlte mich durch eine Vielzahl an unwissenschaftlichen Meinungstexten, ehe feststand, dass er zwar gewonnen hatte, es aber allenfalls ein Pyrrhussieg sein würde! Ich stapfte meinem Sohn hinterher ins Wohnzimmer, stellte den Ignoranten, wie er seinen Bildschirm anbetete, und fabulierte über die Zusammenhänge der griechischen Mythologie, redete über Chaos, Kosmos, Gaia, Nyx, Tartaros, Erebos, Eros und wie sie auch alle hießen, ehe ich zu dem Punkt gelangte, den ich vor allem machen wollte, und zwar den etymologischen Beweis, dass sich die Bedeutung des Wortes über all die Jahrhunderte verändert hatte und nun einfach nur Unordnung bedeutete, doch da war es wieder, das Teflon! Ich bemerkte viel zu spät, dass mir mein Sohn so gar nicht zugehört hatte, und vor meinen Augen stand das Endergebnis dieser Schlacht: 3:0 für ihn. Tief in mir sammelte sich etwas, das sich wie die Urwut anfühlte, doch bevor ich meine letzte Elternwürde aufs Spiel setzte, sollte ich ihn anschreien, sprang ich über meinen Schatten und bot an, sein Zimmer mit ihm zusammen aufzuräumen. Auch wenn ich dann sicherlich mehr als drei Viertel der Arbeit machen musste, würde unser Leben von einer großen Unordnung wieder ein klein wenig mehr in Richtung Ordnung geschoben – die Seite des Lebens, die ich einfach viel mehr mag!
Juli Kling: Moby Dick
Als Moby Dick die Essex mit seiner gigantischen Schwanzflosse getroffen hat, ging sie unter mit Pauken und Trompeten. Die Besatzung klammerte sich an alles, was sie hatte: an die Reling, an die Riemen, an die Ladeluken und aneinander. Aber es half den Männern nichts. Sie hatten keine Chance gegen den mächtigsten Wal der Welt. Sie hatten ihn jagen und erlegen wollen, denn sie waren gierig nach seinem Fleisch und dem Rat in seinem riesigen Kopf. Doch Moby Dick dachte nicht daran, sich mit den Walfängern zu beratschlagen. Er rammte die Essex mit ihren drei langen Masten, er brach sie entzwei, als wären sie aus Pappe, und mit seiner gewaltigen Fluke riss er alles in die Tiefe, was nicht niet- und nagelfest war. Die meisten Männer waren es nicht. Nur ein paar wenige von ihnen konnten sich in die verbliebenen Fangboote retten und in Richtung der chilenischen Küste treiben. Sie dachten, Moby Dick wäre fertig mit ihnen, und sie dachten, dass sie vielleicht heil aus der Sache herauskommen und zu ihren Familien zurückkehren könnten. Dabei vergaßen sie, dass auch Moby Dick eine Familie gehabt hatte, die sie ihm in ihrer Jagdlust genommen hatten, und Moby Dick vergaß im Gegensatz zu ihnen gar nichts. Er verfolgte die Fangboote und er beobachtete die Männer, während sie in ihrer Not und in ihrem Hunger begannen, sich gegenseitig aufzuessen. Er bemerkte mit Wonne, wie die Sonne ihre Haut verbrannte und wie ihr eigenes Fleisch ihnen wichtiger wurde als das seine. Er wusste, dass er gewonnen hatte und dass er niemandem einen Rat geben musste, dem er keinen geben wollte.
Daran dachte ich, als ich im Bug eines motorisierten Schlauchbootes saß und warm eingepackt über das bitterkalte Nordmeer glitt. Ich war hier, um den Nachfahren des wehrhaftesten Pottwals aller Zeiten zu begegnen. Zur Sicherheit hatte ich vorher ausreichend gegessen – selbstverständlich nur, um einer möglichen Seekrankheit vorzubeugen, welche mir von allen Seiten prophezeit worden war. Gewiss nicht zu Unrecht, denn ich leide an einem nervösen Magen und als Kind konnte ich lange Autostrecken lediglich mit einem Eimer auf dem Schoß bewältigen. Todesmutig hatte ich mich heute jedoch beim Einsteigen ganz vorne in das wackelige RIB-Boot gesetzt. Ganz oder gar nicht, lautete meine Devise und mit ihr das Gedenken an die zurückgelassene Reisetablette in meiner Unterkunft. Noch nie zuvor war ich in solch einem kleinen Boot auf dem Ozean unterwegs gewesen. Über meiner Winterkleidung trug ich einen ausladenden Kälteschutzanzug, der mir viel zu groß war und in dem ich kaum laufen konnte. Falls ich auf der Fahrt über Bord gehen sollte, was ich in Anbetracht der Historie und meiner mir vorauseilenden Tollpatschigkeit nicht unbedingt für ausgeschlossen hielt, würde er mir bestimmt gute Dienste leisten. Mit gefühlt 180 Sachen bretterte das Boot über das wogende Meer. Die Gischt schlug mir ins Gesicht und ich musste die Augen zusammenkneifen, um auf der azurblauen Unendlichkeit vor mir überhaupt etwas erkennen zu können. Trotzdem war ich die erste, die plötzlich in der Ferne das stiebende Blas eines Pottwals erblickte. Begeistert sprang ich von meinem Sitz auf und zeigte in Richtung des treibenden Wals. „Please sit down! It’s too dangerous!“, schrie mich der Walführer erschrocken an und irgendjemand zog mich am Arm zurück nach unten. Die anderen Fahrgäste redeten aufgeregt durcheinander, aber ich hörte ihre Stimmen nur noch dumpf und undeutlich, denn in mir war ein regelrechtes Konzert im Gange. Jeder Herzschlag fühlte sich an wie ein Paukenschlag und während wir uns der sechsköpfigen Walgruppe näherten, dachte ich, ich würde schlichtweg bersten vor Glück. Mehrere Meter, bevor das Boot die Wale erreichte, stellte der Kapitän den Motor aus und wir trieben schaukelnd über die rastlosen Wellen. Handys wurden gezückt und Kameraauslöser gedrückt, doch ich selbst saß ganz still da und bewegte mich nicht. So laut, wie die Trompeten in meinem Kopf gerade noch gespielt hatten, so verhalten waren meine Gedanken jetzt, im Angesicht der Urenkel von Moby Dick. Ich wusste, dass ich genau richtig war, wo ich war, und ich wusste, dass ich nirgendwo sicherer sein würde als hier draußen auf dem Nordmeer. Denn ich wollte keinen Rat von den Walen, ich wollte einfach nur, dass sie da waren und mein wildes Herz in Ruhe höher schlagen ließen.
Juli Kling: Sommerfrische
Mein Freund Tobi verbringt die Sommerfrische am liebsten in Südengland. Er packt seine Reisetasche, bucht sich ein Zugticket nach London und fährt von dort aus weiter Richtung Cornwall. Am häufigsten zieht es Tobi auf die Halbinsel Lizard, wo man kilometerlang an den Steilküsten entlanglaufen kann und wo die rauen Felswände schimmern wie die Schuppen einer Eidechse. Schon Virginia Woolf hat gerne Urlaub in Cornwall gemacht und wenn sie keine überzeugende Referenz ist, dann ist es Tobi.
Man kann Tobi als einen Mann in den besten Jahren bezeichnen. Er schätzt rohköstliche Ofengerichte, trägt vorzugsweise Bootcut-Jeans und seine größte Schwäche sind Hunde. Für die würde er vermutlich alles andere stehen lassen. Während meiner eigenen Reisen sende ich Tobi hauptsächlich Fotos von Hundebegegnungen, denn damit bin ich garantiert auf der sicheren Seite. Wenn ich ihm Bilder von örtlichen Sehenswürdigkeiten schicke, stellt er mir daraufhin oft Fragen, die ich nicht beantworten kann und dann schäme ich mich, weil ich mich nicht eingehend informiert und stattdessen meinen halbseidenen Gedanken nachgehangen habe.
Manchmal setzen Tobi und ich uns zusammen im Kontumazgarten an die Pegnitz. Wir trinken mitgebrachten Rotwein, essen Snacktomaten und reden über das Leben. Für gewöhnlich geht es bei diesen Gesprächen vor allem um mein Leben, in dem mal wieder irgendetwas im Argen liegt. Tobi besitzt eine hervorragende Beobachtungsgabe und man kann ihm nichts vormachen. Meistens erkennt er bereits auf den ersten Blick, wie es gerade um mich bestellt ist und was man in dieser oder jener Situation tun kann. Falls Tobi nicht sofort einen Ratschlag für mich parat hat, hört er einfach zu. Auch das kann er ausgesprochen gut. Er guckt unterdessen verträumt aufs Wasser, nippt vorsichtig an seinem Weinglas und macht einen ungemein besonnenen Eindruck. Überhaupt ist Tobi ein sehr feingeistiger Mensch und in den Unterhaltungen mit ihm kann man einiges lernen. Mit seiner Kunstexpertise schlägt er mein halb verflossenes Studienwissen um Längen, seine Kenntnisse der Architektur sind bemerkenswert und das britische Königshaus ist sein persönliches Spezialgebiet. Außerdem mag er Filme. Nur keine von und mit Lars Eidinger. Den hasst er abgrundtief, aber das halte ich für absolut berechtigt.
Wenn Tobi Ferien in Cornwall macht, zieht er jeden Morgen seine bequemen Sandalen an und erkundet die Gegend. In meiner Vorstellung trägt er auf seinen Entdeckungstouren ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, rückt ab und zu seine Sonnenbrille zurecht und sieht so richtig nach Urlaub aus. Er besucht Museen und Galerien, bewundert Kirchen und Kapellen und nicht selten verliert er sein Herz an ein Gebäude, das die meisten Menschen schlichtweg übersehen würden. Gelegentlich verläuft er sich in den Irrgärten der englischen Renaissance, doch weil Tobi stets nach rechts und links schaut, findet er schnell einen Weg hinaus. Anschließend wandert er auf dem Küstenpfad an sattgrünen Hügeln und verschlafenen Schafen vorbei bis zu seiner Lieblingsbucht. Sie liegt abgeschieden zwischen zwei malerischen Fischerdörfern und an glücklichen Tagen ist Tobi der einzige Besucher. Kaum am Strand angekommen, zieht er die Sandalen aus, stellt er seine Füße ins Meer und lässt sich den salzigen Wind um die Nase wehen. Und während er andächtig über den stürmischen Ozean blickt und die turmhohen Wolken am Himmel mustert, vergisst Tobi die bedrückende Hitze der Stadt und die Verantwortung auf seinen schweren Schultern und atmet ganz tief und lange ein.
Ich glaube, dass die Sommerfrische in Cornwall sehr heilsam sein kann. Und vielleicht sollte ich mich baldmöglichst um ein Zugticket kümmern und nach Südengland reisen. Vielleicht brauche ich ein bisschen saubere Luft in der Brust, um die es mir momentan viel zu oft eng wird. Eine kühle Brise, die durch die halbseidenen Gedanken rauscht und mächtig Staub aufwirbelt. Eine freie Sicht auf schimmernde Felsen und meterhoch schlagende Wellen, die sogar einen Frachtcontainer voller Erinnerungen im Handumdrehen fortspülen könnten. Nächstes Wochenende treffe ich Tobi wieder und dann werde ich ihn fragen, wo er seine Sandalen gekauft hat.
Jörg Hilse: ABBAstan
Anfangs fühlte sich Jonas Neum etwas unwohl, wenn er daran dachte den Urlaub in einer Stadt zu verbringen, in der es nicht üblich war mit Bargeld zu bezahlen.
Aber als in der Küche immer öfter ABBA statt wie sonst meistens Helene Fischer zu hören war, wenn seine Frau abwusch, sagte er „Na gut, fahren wir“ und Sie buchte im Internet eine Woche Stockholm. Jonas Neum war beruhigt die Sache seiner Frau überlassen zu können und nur seinen Teil der Kosten zu übernehmen. Er fand das Ganze zu kompliziert weil man seinem Gefühl nach, hunderte von Passwörtern dafür zu brauchen schien. So überließ er solche Dinge stets ihr wenn es ging, floh geradezu innerlich davor, fast wie einst der biblische Jona vor den Weisungen Gottes. Um so mehr wusste er, wie sehr er ihr diesen Urlaub schuldig war, denn Sie wollte unbedingt einmal ins ABBA Museum. Und wenn man gerne Bücher liest, so wie er es tat, lernt man viel über die Kraft von Träumen und Wünschen.
Zwei Tage bevor es los ging fand er beim Durchblättern eines Reiseführers etwas das seine Aufmerksamkeit erregte. Das wollte er sich ansehen. Am frühen Dienstagmorgen flogen Sie los und einen Vormittag später öffneten sich für beide die Pforten des ABBA Museums. Für seine Frau war es überwältigend. Sie sahen die Kostüme die die Vier bei ihren Auftritten getragen hatten und hörten von den Videoleinwänden die Entstehungsgeschichte der Band. Am Beeindruckendsten fand sie den Nachbau des ehemaligen Tonstudios mit seinem riesigen Mischpult. Eine Sache erinnerte beide an ihre Urlaube in England. Kein Museum ohne großen Souvenirshop.
„ Mekka nährt sich von den Pilgern und die Pilger nähren sich von Mekka“ meinte Jonas als seine Frau ein ABBA T Shirt mit zur Kasse nahm. Kurz darauf ergab sich allerdings eine ungeahnte Möglichkeit wieder Geld zu sparen. Zurück in der Altstadt, die Gamla Stan genannt wird, entdeckte Sie einen großen IKEA und sagte „ Irgendwie hab ich jetzt Lust auf Köttbullar.“ Deine Idee klingt ein bisschen nach dem Film „ Memphis Belle“ erwiderte Jonas. „ Wie meinst Du das“ fragte Sie. „ Weißt Du noch, die eine Szene : „ Wenn ich nochmal von Deiner Idee höre, das Du nach dem Krieg eine Schnellimbiss-Kette aufmachen willst, hau ich dir eine rein. Niemand will in einer anderen Stadt das Gleiche essen.“ Antwort: „Oh doch, es ist so beruhigend“ Sie lachten und gingen dann hinein. Beim anschließenden Bummel durch die Strassen fragte Jonas: „ Können wir vielleicht zu diesem Denkmal gehen, das ich im Reiseführer gefunden habe?“
Es war gar nicht weit zu dem kleinen Platz mit der Adresse Mosebacketorg 1-3.
Die mannshohe Skulptur zeigte zwei Frauen, Rücken an Rücken stehend, eine von Beiden hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Andere schien etwas zu tragen.
Ein kleines Schild, unten auf dem kurzen Sockel verriet den Namen der Skulptur und des Künstlers der es geschaffen hatte. Systrarna- die Geschwister, Nils Sjögren 1945.
Jonas setzte sich auf eine Bank in der Nähe und las noch einmal den Wikipedia Artikel darüber was den Künstler inspiriert hatte diese Skulptur zu schaffen.
Es erinnerte an ein tragisches Ereignis das sich 1911 in Stockholm ereignet hatte. Zusammengeschnürt, Rücken an Rücken ertränken sich zwei junge Frauen gemeinsam im Hammarby See. Die Zeitung „ Dagens Nyheter“ schrieb das die Beiden „ eine herzliche Freundschaft in Zusammenhang mit etwas Überdrehtem“ gehabt hätten. „ Sie hatten ihre Körper an den Hüften zusammengebunden und ihre Säcke mit Steinen gefüllt, um sie mit ihrem Gewicht in die Tiefe zu ziehen- daraus ging hervor dass die beiden jungen Mädchen gemeinsam den Tod gesucht und gefunden hatten.“ Der Wikipedia Artikel erwähnte noch, dass die Skulptur heute als Symbol der Erinnerung an die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transgender Menschen in der Queeren Bewegung gilt.
Still saß Jonas auf der Bank in der Sonne und dachte in diesem Moment an viele seiner Kollegen.
An Jens, den Zugbegleiter aus Köln mit dem er seine letzte Schicht vor dem Urlaub nach Brüssel gefahren war. Wie selbstverständlich, begrüßte ihn ein anderer Kollege mit den Worten „ Hallo Jens, wie geht’s Deinem Mann?“ An die Autorin Sabine Brandl aus München, die einmal auf einer Buchmesse gebeten wurde, ihre Bücher vom Tisch ihres Verlages zu entfernen, nur weil Sie lesbische Liebesgeschichten schrieb, an denen nichts auch nur entfernt Anstößiges war. Jonas mochte ihre Erzählungen. Sie handelten von der Suche nach Freundschaft und Liebe , den Schwierigkeiten und den Enttäuschungen die jeder in Sachen Partnerschaft erlebt. Dann kam ihm ein anderes Denkmal in den Sinn, das er einmal zu Hause in Frankfurt gesehen hatte. Es erinnerte an das grausame Schicksal jener KZ Häftlinge die mit einem rosa Winkel an der Kleidung gekennzeichnet wurden, nur weil ihr „ Verbrechen“ darin bestand Männer statt Frauen zu lieben. Nicht wenige von den Juristen die sie damals in die Lager schickten durften nach 1945 weiterhin solcherlei „Recht“ sprechen, der berüchtigte Paragraf 175 wurde erst 1994 endgültig abgeschafft.
Kurz bevor er sich wieder erhob fiel Jonas noch ein Gespräch ein. Einmal, am Kölner Hauptbahnhof hatte er Pause und zwei Kollegen beratschlagten dort ihre Teilnahme am Christopher Street Day.
Sich schrill und laut zu gebärden, so wie dort war eigentlich nie Jonas Sache gewesen, er war nie in der Lage sich in einen derartigen Zustand der Euphorie zu versetzen. Er liebte eben die Stille und seine Bücher.
Doch hier in Stockholms Strassen, vor dieser Skulptur Nils Sjögrens, verstand er warum man dort buchstäblich mit Pauken und Trompeten für die sexuelle Gleichbehandlung demonstrierten musste.
Weil niemals und nie mehr ein Mensch ausgegrenzt, verurteilt oder gar in den Tod getrieben werden durfte, nur weil er anders fühlte und liebte, als der Andere.
Benjamin Weissinger: HOLZ BALANCE MIT [Estragonmilch] weitere Personen
In einer Klasse wird gefragt, was die jeweiligen Großeltern der Kinder besonders gut kochen oder anders zubereiten können – oder konnten. Als Ira als letzte an die Reihe kommt, fällt ihr nichts ein. Sie hat auch gar keine Großeltern. Da sagt sie halb in ihre Hand: „Estragon Milch“. Die Lehrerin ganz laut: „Was? ESTRAGONMILCH? Das kann ich mir ja garnicht vorstellen.“ Ira wird rot, die Kinder feixen, rufen „wäh“, diese Dinge. Doch die Lehrerin kniet sich zu Ira hin und sagt, dass sie es nicht böse gemeint habe und alles gut sei. Dann macht die Klasse mit etwas anderem weiter.
Als Ira mittags nach ihrem Hause eine Straße entlang geht, findet sie nicht, dass alles gut ist. Ich kann mich schon gar nicht daran erinnern, wenn einmal alles gut war. Und das mit der Milch war nicht die Wahrheit, aber etwas Erfundendes ist besser, als wenn man gar nichts hat. Da geht sie an der geöffneten Tür einer Kneipe vorbei, vor der ein riesiges Fahrrad steht. Innen hört sie einen gehörigen Händel und zersplitternde Holzmöbel. Schließlich kommt, ganz zerzaust, der drei Meter große Zimmersmann herausgewankt. Fast läuft er Ira über den Haufen, die sich vor lauter Staunen nicht rühren kann. „Huch“, brummt er, „pass doch auf, sonst walz ich dich noch platt.“ „Schön und gut, aber was war denn da drinnen los“, fragt Ira forsch. Ein Lächeln, das man nicht sehen kann, huscht über das grimmige Gesicht des Zimmersmanns. „Ach, nur ein kleiner Händel. Alles gut, mein Kind.“ „Ich heiße Ira und es IST NICHT ALLES GUT!“ Der Zimmersmann wird ernst. Nach einer Pause sagt er: „nein.“ Und: „hier, eine Kastanie“. Die Kastanie ist sehr groß, schön glatt und sieht als wie poliert, so wunderschön rotbraun leuchtet sie. „Darfst sie behalten, Ira. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich muss los.“ Als der Zimmersmann gerade losfahren will, ruft Ira: „du bist doch sicher schon an vielen Orten gewesen.“ Er hält an und dreht sich zu ihr um. „Das will ich meinen.“ „Hast du schon mal Estragon M.. magst du Estragon?“ Der Zimmersmann nickt und Ira lächelt zufrieden.
Die Lehrerin hat sich zuhause Estragonmilch in einem Vergleich der Berge gemacht und befüllt ein HOLZ BALANCE MIT ESTRONG MILCH BEHANG VOLL in der zoterharensik und dort gekordelt in den sportkordelonmmnm. ESTRANK heißt das Gemank. Die Lehrerin denkt, mit dem Experment sei alles gut. Doch manchmal ist auch weniger schon Mut.
Andii Weber: Daten
Meine Armbanduhr zeigt 17:08 Uhr an, der Bus ist bereits zwei Minuten zu spät. Der Bahnhofsvorplatz wirkt übersichtlich: Eine Bushalteschleife, ein etwas in die Jahre gekommener Gasthof und irgendwo den Hügel hinunter die große Sehenswürdigkeit: Eine Pyramide aus Trinkgläsern, aufgestellt von der örtlichen Glasfabrik, um sich einen Platz im Guinnessbuch zu sichern. Über die Jahre sind mehr als ein paar dieser Gläser durch bloße Langeweile zersprungen, jetzt hat diese Dorf-Monstranz Löcher und Mäkel und sieht eher traurig als repräsentativ aus.
Ich schaue noch einmal auf den Busfahrplan; Abfahrt 6 nach, stimmt schon. Und sicherlich ist in den letzten 10 Minuten hier kein Bus abgefahren, das hätte ich mitbekommen. “Wo soll’s denn hingehen?” Eine krächzende, zigarettenrauchbelegte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende meinen Kopf vom Fahrplan ab und blicke in ein Gesicht mit grau-braunem Schnauzbart, einem Bluetooth-Headset und einer runden Nickelbrille, aus der ein gelbes und ein trübes Auge in unterschiedliche Richtungen herausschauen. Ich möchte nicht reden müssen, aber der knubbelige Mann schaut mich erwartungsvoll an. Vielleicht kann ich einen ortskundigen Rat gerade gut gebrauchen. „Nach Rottenbach, Tiefecker Straße.“ „Ah, da kannst du gleich bei mir mitfahren.“ Der Mann wippt nach vorn, bläst Rauch in die Luft und nickt in Richtung eines geräumigen VW-Busses. „Danke, aber ich glaube, mein Bus müsste gleich kommen. Den nehme ich dann einfach.“ – „Was für ein Bus ist das denn?“ – „Die Linie 13 nach Steigen am Berg.“ – „Ja, das ist meine Linie und wenn du die nehmen willst, steig ein, ich fahr jetzt nämlich los!” Weder der Mann noch das Gefährt sehen nach Linienbus aus: Die Duftbäume im Fenster, die Aufkleber mit Wildmotiven am Heck des Wagens, das schmierige Bluetooth-Headset am Ohr des Mannes, das schiefe Grinsen. Doch es ist bereits 10 nach, und Unpünktlichkeit widerstrebt mir so sehr, dass ich wortlos die Schiebetür des Wagens öffne und mich auf einen der Sitze installiere. Der Mann nickt, steigt ein, dreht das Radio auf und startet.
Zu meinem Erstaunen hält der Bus tatsächlich an jeder planmäßigen Haltestelle, wartet für einige Augenblicke und bewegt sich dann träge weiter zur nächsten. Manchmal stehen auch Menschen an der Bushaltestelle, doch sie scheinen nicht einsteigen zu wollen und blicken nur weiter die Straße hinauf, von wo der Bus herkam. So geht das viele Stationen lang. Ich presse meine Nase gegen die rußverschmierten Fenster und sehe den Schatten der Bäume zu, wie sie am Fenster vorbei getragen werden. Ein kleiner Bachlauf rauscht braun parallel zur Straße. Der immergraue Himmel scheint festgepinnt zu sein von den einzelnen herausragenden Bäumen an den wulstigen Steinkissen, die sich in die Laubhaufen hineinfragmentieren.
Eine eigenwillige Idee, mich in ein Jagdhaus einzuladen für ein erstes Date. Warum wohnt man in dem Alter wohl so weit draußen im 0? Aber auf eine Art passt es: Lili versteht es, durch eine bemerkenswerte Offenheit und punktuelle Informationslücken eine mysteriös vibrierende Aura um sich zu radiieren. Oft genug blinken die 3 Punkte unterm Namen stundenlang auf, die Schreibaktivität anzeigen, ohne Nachricht.
Der Bus fährt vorbei an einem verlassen wirkenden Grillhaus und hält dann schließlich. Der Bluetooth-Mann dreht sich eulengleich nach hinten um und bedeutet mir, auszusteigen. Ich blicke auf mein Handy. Unweit der Bushaltestelle muss es einen Eingang in den Wald geben. Der Pfad ist wurzelig, asynchron und windet sich um zahllose gefallene Bäume.
Nach etwa 23 Minuten (laut Google) muss ich den Weg verlassen, um das Haus zu erreichen. Ich vertraue der Triangel auf meinem Display, die mich bisher noch an jedes Ziel gebracht hat und biege ab Vorbei an gefallenen Bäumen mit tetraedrischen Schnittstellen. Auf einer Lichtung dann :::: Ein etwas in die Jahre gekommenes, doch durchaus hübsches Blockhaus mit einer kleinen roten Bank davor und einem Ziegenschädel mit Hörnern, der einen dreieckigen Schatten über die Tür wirft. Es gibt keine Klingel, mein Klopfen hilft nichts. Die Vorhänge sind zu. VVVielleicht gibt es ja einen Hintereingang. Aus der Rückwand kommen dicke, Rote Leitungen aus den Holzwänden und bohren sich wie Würmer in den tiefschwarzen Waldboden. Sind das Starkstromleitungen? Ich gehe wieder zur Tür und klopfe erneut. Es tut sich wieder nichts. Ich drücke die Türklinke hinunter, die Tür gibt nach und geht auf.
Innen riecht es transistorisch-klamm nach feuchtem Filz und angesengtem Plastik. Es ist außerdem erstaunlich warm, obwohl der Ofen nicht eingeheizt ist. Einige pixelige Ölbilder von Wildtieren hängen an der Wand, und am Boden liegen auf dem grünen Teppich Kabel, die von allen Seiten des Raumes Richtung Treppenaufgang laufen. Die Treppe selbst ist steil und klein und kaum benutzbar mit all den bunten Kabeln, die an ihr hoch ins Obergeschoss führen. Vor allem sind es diese gelben LAN-Kabel, die ich nur zu gut von meiner Arbeit kenne. Einmal hat der komplette Server meines Büros den Geist aufgegeben, und es hat mich mehr als 1 Woche gekostet, den Server wieder zum Laufen zu bringen. Das waren die schlimmsten Tage meiner bald 20-jährigen Karriere. In meiner Erinnerung bin ich tagelang damit beschäftigt gewesen, eben solche LAN-Kabel an- und abzuklemmen, bis ich das fehlerhafte Datenkabel endlich ausfindig gemacht hatte und durch ein neues ersetzen konnte. Es war nur ein 1 Meter langes Datenkabel, das meinen Hoheitsbereich, die digitale Infrastruktur meiner Firma und somit den gesamten Betrieb lahmgelegt hatte.
Die kleine Treppe scheint schier endlos weiter nach oben zu führen, und es werden mit jeder Stufe mehr Kabel um mich herum. Sie winden sich um das Treppengeländer, hängen von der Decke, und je höher ich komme, desto orientierungsloser werde ich. Lange Kabelkanäle knicken ab, führen wieder nach unten. Die Luft wird schwerer und trockener mit jedem Höhenmeter. Ich kann nun nicht mehr aufrecht die Treppe hinauflaufen, sondern muss mich immer weiter herunter bücken, dann schließlich kriechen aber ich suche ja nach nichts festem. Zunehmend verengt sich das Treppenhaus, die Kabel werden größer und dicker, entweder das oder ich werde immer kleiner und dünner. Ich koche gerne. Meine Uhr wird unerträglich heiß und die Ziffern spielen verrückt. Ich meine, neben all dem schmorenden Plastik nun auch eine Note von verbranntem Gras und Salbei zu riechen. Fieberoptik.
Welchen Menschen würdest du gerne einmal treffen (tot oder lebendig)? Da die Stufen nun Schicht um Schicht von Kabeln bedeckt sind, ziehe ich mich mit den Händen an ihnen empor ::: Sunken Cost Fallacy, eigentlich sollte ich umkehren. Ich steige weiter hinauf. Lili muss mich empfangen, ich bin extra diesen Turm hinaufgestiegen, das muss sie doch zumindest anerkennen. Strom zu Binärgold. Einen Kaffee nur, oder was man eben mindestens so macht, wenn ein Gast einen so langen Weg auf sich genommen hat. Schon lange kommt kein Tageslicht mehr in den Schacht doch tausende gelbe und grüne LED-Lichter morsen ein wenig Licht hinein. Die Profilbilder haben rostrotes Haar, manchmal burschikos und kurz, manchmal fällt es in wallenden rosskastanienfarbenen Lockensträngen bis tief den Turm hinunter ::: Ich werde immer unwichtiger und klettere weiter nach oben. Sie hatte sich als eher konservative Kreatur zwischen den haarfeinen Spalt ::: Entschuldigung für die Unterbrechung. Hier ist die Fortsetzung: weltoffene Träumerin. Neben den zu erwartenden Bands wie Alt-J, Deichkind und The XX fand ich auch Dimmu Borgir und Summoning im Spotify-Profil verlinkt, zusammen mit blinkenden Glasfaserlichtern. Ich bin weltoffen und träumerisch, es könnten nur noch ein paar Mikrometer sein, so hoch war das Jagdhaus doch gar nicht. Vegan, Nichtraucher, keine Kinder, will auch keine. Ich schlüpfte durch die Hohlräume, und immer größer wurde die Menge, die schiere Menge vor mir, hinter mir, unter mir. Untentop, Obenbottom, Switch, Master- und Slaveplatte. Keine Haustiere. Immer mehr Kraft ist nötig, um im Kabelknäuel voranzukommen. Meine Glieder werden kälter und kälter, meine Blutbahnen sind abgeklemmt. Es tut richtig weh, sich durch die haarfeinen Spalten zu pressen. Die Isolationen, die mich vom glühroten Kupfer trennen, werden immer dünner, erscheinen unwichtig —
Als ich die letzte Stufe übertrete, stehe ich am Bahnhofsplatz. 17 Uhr 6. Der Linienbus ist Pünktlich. Der einäugige Busfahrer nickt mir zu. Ich steige ein „Da bist du ja. Schön, dich endlich leibhaftig zu sehen.“