Andreas Lugauer: Yves Eigenrauch

Einleitung

Es ist an der Zeit, sich festzulegen: Der lustig-schönste Name aller Zeiten und Länder und eines Helden überhaupt ist der des langjährigen Abwehrspielers des FC Schalke 04 >Yves Eigenrauch<.
Yves Eigenrauch.
Yves Eigenrauch hat für einen Verteidiger eine bemerkenswerte Fairplay-Bilanz. Er [d.i. Yves Eigenrauch] erhielt in seiner gesamten Bundesligazeit nur 15 gelbe Karten, keine einzige rote Karte und – das muss dazugesagt werden –, Yves Eigenrauch verteilte die 15 gelben Karten sehr geschickt auf seine Profikarriere, denn: Yves Eigenrauch war nie gesperrt, wie es einem in der Herren-Fußballbundesliga nach der fünften gelben Karte in Folge geschieht. Opa meinte zwar, der fairste Spieler der Welt sei der Brasilianer Eusebio gewesen, aber »fair« hat, neben »fair«, einen viel schöneren Namen:
Yves Eigenrauch.
»Der Schiri brauchte kaum einzugreifen, denn das Spiel verlief sehr yveseigenrauch.«
»Alles eine Frage der Yveseigenrauchness!«
»Mein Play heißt Yveseigenrauchplay!«
Fairnesssätze, wie sie schöner kaum sein könnten.
Eigenrauch, ~Yves~ Eigenrauch. (Gut, dass ich nicht Eigenrauch heiße. Denn wie die Kinder benamsen als mit Yves?! Das heißt vielmehr: schade! Denn wenn ich eine Tochter erwartete, ich könnte sie Eve nennen.)
Yves Eigenrauch.
»Sag mal, ist das nicht ein kleins zu viel des Yveseigenrauchlobs?« Nein, das ist schon füglich richtig so, denn wenneiner des Lobes bedarf, weil er so sehr der Selbstbeweihräucherung enträt, ja qua Namen entraten muss, dann Yves Eigenrauch. Gelobt sei dein Name, Yves Eigenrauch.
Yves Eigenrauch.


Yves Eigenrauch Fakten

1)
Yves Eigenrauch hat in einem Spiel den damaligen brasilianischen Weltfußballer Ronaldo komplett abgemeldet. Ronaldo musste sich danach beim Verband einen neuen Spielerpass ausstellen lassen, einen neuen Spielervertrag mit seinem Verein abschließen, zum Einwohnermeldeamt gehen, Gas, Wasser, Telefon/Internet und Mülltonne wieder anmelden, Qualitätszeitung, Käseblatt und Zeitschriften wieder abonnieren, Versicherungspolicen neu abschließen, allerhand auf der Sparkasse erledigen etc. Bei vielem wurden ihm aber bessere Konditionen eingeräumt, so dass Ronaldo am Ende zwar einiges Nerviges zu erledigen hatte, finanziell aber besser dastand.
Danke, Yves Eigenrauch!

2)
Yves Eigenrauch kam vor seinem ersten Profieinsatz nur deswegen in den Kader, weil Mitspieler vor einem Auswärtsspiel in der Mittagspause Backgammon gespielt hatten und dafür aus dem Kader geschmissen worden waren.
Wollte Yves Eigenrauch überhaupt Profi werden? Yves Eigenrauch: «Nö.»
Yves Eigenrauch war einer, der es schaffte, obwohl er gar nicht wollte.

3)
Und einmal hätte Yves Eigenrauch beinahe eine Musikerkarriere begonnen. Der schwedische Gitarrengöttervater Yngwie Malmsteen nämlich kam auf ihn zu und meinte: «Hey, you have a pretty cool name, Yves Eigenrauch! How ’bout making some music together? We could be a duo called Ai Y. Y., or, wait, better: Yngwie Malmsteen and the Ownsmoke Yves!»
Yves Eigenrauch überlegte nicht lange und sagte, obschon er außer der Blutbratsche in fair-moll kein Instrument konnte:«Yeah, Yngwie, y not!», weil yngwie irgendwie würde er sich schon einbringen können im Studio, und an Kultur war er eh interessiert. Im Mannschaftsbus war Yves Eigenrauch es gewesen, der stets hinter einem Buch gesessen und so z.B. Dürrenmatt zu einer sehr obskuren Lektüreumgebung verholfen hatte.
Als Yngwies Management schließlich auf Yves Eigenrauchs Festnetzanschluss anrief, um ihm den Studiotermin durchzugeben – da war’s mit Yves’ möglicher Musikerkarriere
auch schon wieder vorbei! Yves Eigenrauch hatte nämlich, obwohl spiel- und trainingsfrei, an dem Termin schon was anderes vor. Wie schon beim zehnjährigen Jubiläum des Uefa-Cup-Gewinns der Schalker!
Da war Yves Eigenrauch nämlich zelten gewesen. (Offenlegung: Tatsache!) Man hatte ihm erst vier oder fünf Wochen vorher Bescheid gesagt, und da muss man Yves Eigenrauch erlauben, dass er eventuell auch etwas anderes geplant haben könnte.
(Es war toll gewesen dort, unterhalb der Müritz, am Leppinsee. Dort war er mit dem Schlauchboot gefahren und das Wetter nett gewesen, wie Yves Eigenrauch der Wochenzeitung «Die Zeit» verriet.)

4)
Yves Eigenrauchs Name «öffnet Türen» (Yves Eigenrauch).
Wahrscheinlich hat Yves Eigenrauch eine Alarmanlage mit Buchstabencode.

5)
Yves Eigenrauch wohnt in einer kleinen Mietwohnung, die er durchsaugen kann, ohne den Staubsauger umzustöpseln. Gut, nicht ganz, einmal muss er umstöpseln.

Arabella Block: Spielanleitung für Helden

Jeder bekommt eine Spielfigur.
Du musst eine Farbe anmelden,
sonst gibt es keine Helden.
Sonst singen sie nicht. Singen wie die Kiebitze.
Dazu muss es Seiten geben. Mindestens zwei muss es geben.
Hat etwas Seiten im Leben,
dann singen sie wieder, singen die Lieder
von richtig und falsch.
„Der Held liegt im Auge des Betrachters, doch er schert sich nicht drum.“

Wähl deine Seite und zieh.

Wähle Schwarz oder Weiß!
Nicht Feldgrau oder braun wie das Vieh.
Helden stehen nicht an Übergängen,
nicht an sanften Hängen,
selten im Morgengrauen und im Abenddämmer nie.
Sie stehen High Noon. Schattenlos.
Ohne den Schatten eines Zweifels, bloß
im Rücken und die festumwallte Burg.
„Der Helden steht immer am Abgrund, den er sich selbst gegraben hat.“
Schlag deinen Gegner aus dem Feld,
Den Gegenheld.
Helden erkennt man daran,
dass sie sterben.
Helden sind niemals Erben.
Helden leben nicht lang. Helden ist deshalb nicht bang.
„Helden glauben nicht an Schicksal, sie werfen sich ihm in die eisernen Zähne.“

Leider verloren.

Reden wir nicht darüber.
Singen wir Lieder.
„Der Held geht niemals im Kreis und das immer wieder.“

Singen will ich oh Muse
,
von ciao bella ciao bella ciao.
Wir haben nichts zu verlieren, die Reihen fest geschlossen,
es klappern die morschen Knochen,
ins Moor, ins Moor.
Komm, schöner schwarzer Vogel,
komm Kiebitz, sing mir das Lied,
es ist immer das Lied vom Tod.
Das Leben spuckt Helden wieder aus,
Das Leben spielt immer remis.
Nur der Held wird zerkaut und durchverdaut.
Das Richtige tut man einmal oder nie.
Dann vergeht dem Kiebitz das Pfeifen.

Angelika Jodl: 鴛鴦 (Mandarinente)

Durch den Frost im Winter war der Boden gut vorbereitet. Als Lai Fang Lei ihn mit der Harke bearbeitete, fiel die Erde in schwarzen Brocken auseinander. Regenwürmer wanden sich auf den Klumpen. Seine Familie besaß noch mehr Ackerland am Dorfrand, heute hatte er nur die drei Mu hinter seinem Haus pflügen können. Aber Bohnen und Mais kamen sowieso erst in zwei Wochen dran.
Er legte die Hacke beiseite, holte das große Sieb und lehnte es an den Pflaumenbaum am südlichen Ende des Ackers. Dann lud er die Schubkarre voll mit Erde, fuhr sie dicht an das Sieb und begann, die speckigen Klumpen gegen das Sieb zu werfen. Es war harte Arbeit, Lai spürte, wie ihm Schweißtropfen in die Augen rannen und legte den Kopf in den Nacken. Oberhalb seines Hauses schwang sich die Große Mauer durch die Berge, zwischen dem Mädchenturm und dem Pekingblickturm genau über der Himmelsbrücke stand reglos eine weiße Wolke.
Hier war er geboren und aufgewachsen, er kannte die Mauer so gut wie sein Haus, die restaurierten Teile ebenso wie die Wilde Mauer. Vor vier Jahren hatte er mitgeholfen, das Stück zwischen Jinshanling und Simatai auszubauen. Sie sammelten die alten Steine, rührten Mörtel an und flickten die Stellen, wo Wind und eingewachsene Bäume die Mauer geschliffen und zersprengt hatten. An einer Stelle hatte er einen Stein mit einem alten Schriftzeichen gesetzt. Es war ein besonderer Moment gewesen, obwohl weder er noch seine Kollegen das Zeichen lesen konnten. Es mochte zweitausend Jahre alt sein, wer wusste das schon. Jedes Mal wenn er Gäste auf diesen Mauerabschnitt führte, machte er kurz Halt, um seinen Stein mit dem Zeichen zu grüßen.
Letzten Monat hatte er zwei japanische Touristen über die Himmelsleiter geleitet. Die Japaner waren trainiert, sie schafften das schwierige Stück ohne dass er sich sorgen musste um sie. Harte Burschen waren das, nachts lagen die Temperaturen oben bei Null Grad, aber sie rollten ihre Schlafsäcke in einem der Türme aus, tranken heißen Tee und legten sich zum Schlafen auf den Boden, als ob sie das alle Tage täten. Am nächsten Morgen setzte sich ein Baumfalke ganz nah vor sie auf einen Giebel am Turm. Die Japaner waren begeistert und fotografierten den Vogel von allen Seiten. Sie malten mit einem Stock Schriftzeichen in die Erde, Lai verstand, dass sie in ihrer Heimat Vogelkundler waren.
Wieder belud er die Schubkarre und warf die schweren Brocken gegen das Sieb. Auf der anderen Seite hatte sich schon ein schöner Hügel feinkrümeliger Erde gebildet. Noch eine Stunde, dann konnte er sie ausbringen und Furchen für die Samen ziehen.
Um diese Uhrzeit war seine Frau noch im Innenhof beschäftigt, reinigte den Backofen und bereitete die Mittagsmahlzeit zu. Demnächst käme sie heraus, um ihm beim Einbringen der Zwiebelsaat zu helfen, dann würden sie sich in den Hof setzen und Reis mit Gemüse essen, das war die gewohnte Reihenfolge. An jedem anderen Tag hätte Lai sich darauf gefreut, aber heute wäre es ihm lieber gewesen, die Frau bliebe im Haus. Bestimmt würde sie ihn nach dem Moped fragen, das seit gestern Abend nicht mehr im Schuppen stand, die Rede würde weiter auf den Abend kommen, auf ihren Bruder, auf das Mahjong Spiel und bei jeder ihrer Fragen könnte er nichts anders tun als den Kopf hängen zu lassen.
Er ergriff die Schaufel und begann in großen Schwüngen die Erde auf dem Acker zu verteilen. Die abgetrockneten, helleren Krümel legten sich als feine Schicht über den dunkleren Grund. Der Schweiß rann ihm in die Augen, er legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Vom Hof her hörte er ein leichtes Klappern. Die Frau kam heraus. Schweigend nahm sie den Rechen und begann vom Nordende des Ackers her Furchen zu ziehen. Sie arbeitete in raschem Rhythmus. Lai beschleunigte seine Würfe.
An der Westseite grenzte sein Acker an den des Nachbarn, immer noch wucherte da das Unkraut. Zwischen den Grasbüscheln tauchte die schwarze Katze des Nachbarn auf. Lai mochte beide nicht, die Katze und den Nachbarn. Leise wie ein Dieb schlich sie herbei, hielt an mit erhobener Pfote, dann betrat sie sein Feld und begann in der frisch ausgebrachten Erde zu scharren. Lai klatschte in die Hände, um sie zu vertreiben, er wusste, was sie vorhatte. Später, wenn erst die Zwiebelsamen gesetzt waren, käme sie noch einmal und würde alle ausgraben. Ausgiebig scharrte die Katze weiter. Lai bellte wie ein Hund, sie hielt kurz inne, dann scharrte sie noch emsiger.
„Gaiside, mao!“, schrie Lai – Geh zum Teufel, Katze! – er sah sich nach einem Stein um, den er nach ihr werfen könnte.
In dem Moment erschien der Nachbar auf seinem Grund. Offenbar hatte er gerade zu Mittag gegessen. Er hielt ein Teeglas in der einen Hand, in der anderen ein Stück Zuckerrohr, an dem er nagte.
„Nimm deine Katze mit!“, rief Lai ihm zu. „Sie macht mir die Arbeit hier kaputt.“
Der Nachbar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Gestern war Versammlung im Dorf“, erklärte er. Er schnaufte wichtig. „Parteikader Liu war hier. Aus Beijing. Er ist mit einem Auto gekommen.“
Die Katze saß gesittet mitten auf dem Acker. Lai beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er war entschlossen, sie zu verjagen, sobald sie wieder anfing zu scharren.
„Es ist so“, sagte der Nachbar, „dass Parteikader Liu dann noch in meinem Haus etwas gegessen hat. Wir sind so miteinander.“ Teeglas in der einen Hand, Zuckerrohr in der anderen, spreizte er seine beiden Zeigefinger ab, um sie aneinander zu klopfen. „Schnaps haben wir auch zusammen getrunken, der Herr Liu und ich.“ Vergnügt lutschte er weiter an seinem Zuckerrohr.
Ohne zu antworten, warf Lai weiter Erde auf den Boden.
„Ich habe über viele Dinge gesprochen mit dem Parteikader Liu. Er hört auf mich, weißt du?“
Die Katze erhob sich und machte einen Buckel. Lai bückte sich, hob den Stein vor seinem Fuß auf und zielte.
„He! Lass meine Katze in Ruhe, Lao Lai!“, schrie der Nachbar. Lai pfefferte den Stein direkt neben sie. Zielen konnte er, etliche Wildkaninchen hatte er schon auf diese Weise getötet. Entsetzt floh die Katze zurück zu ihren Grasbüscheln. Leise schimpfend trat auch der Nachbar den Rückzug an.
Die Arbeit war beendet. Schweigend ging Lai neben seiner Frau in den Hof und setzte sich auf den Boden. Auf dem niedrigen Holztisch vor ihm dampfte in einer Blechschüssel der Reis. Er ergriff seine Stäbchen. Hastig schaufelte er sich Reis in den Mund. Die Frau stellte drei Teller auf das Tischchen. Gestocktes Ei mit Zwiebeln und Spinat mit Erdnüssen und Trockenchili. Zwei Teller frisch gekochter Speisen und einer mit rohem Lauch und Paprika. Normalerweise gab es zum mittäglichen Reis nur die Reste vom Abendessen zuvor. Voll schlechtem Gewissen rupfte er sich ein Stück aus dem flaumigen Eierstich und schlang es hinunter.
„Laopo – ehrwürdiges Weib“, sagte er, „ich muss dir etwas sagen.“
Die Frau aß schweigend ihren Reis.
„Gestern Abend habe ich mit deinem Bruder Mahjong gespielt. Wir haben Reisschnaps getrunken.“ Hatte sie verstanden, was als nächstes käme?
„Das Moped“, sagte Lai mühsam, er spürte, dass sein Gesicht dunkler wurde, „das Moped ist leider kaputtgegangen. Es hängt in einem Baum auf der Straße zu unserem Haus.“
Seine Frau stand auf und ging ins Haus.
Ängstlich sah er ihr hinterher. Es gab Frauen in der Nachbarschaft, das wusste er, die waren wie Tiger, verprügelten ihre Männer bei geringeren Anlässen mit dem Besen. Den Nachbarn, der sich mit dem Parteikader so wichtigmachte, hatte er schon ein paar Mal laut schreien hören.
Sie kam zurück. In der Hand hielt sie die Teekanne und zwei Gläser. Sie stellte sie auf den Tisch und goss heißen Tee ein. „Mann“, sagte sie, „ich möchte dir einen Rat geben.“
Er wagte nicht, sie anzuschauen, starrte auf das Geschirr.
„Du sollst nicht mit dem Moped fahren, wenn du Reisschnaps getrunken hast.“
Jetzt konnte er sein Gesicht wieder zeigen. Er glaubte fast nicht, was er da hörte. Kein Schimpfen? Kein Geschrei? „Ich hole das Moped heute Nachmittag“, versprach er. O, wie war er dankbar für diese Frau! Er hatte die beste bekommen, eine Fleißige war sie, einen Sohn hatte sie ihm geboren und sanft war sie auch noch! Einen goldenen Ziegel hielt er in den Händen mit dieser Frau! Lai Fang Lei, Bauer an der Großen Mauer, schlürfte seinen Tee voller Genuss. Gleich am Nachmittag würde er das Motorrad holen und zusehen, ob er es flicken konnte.
In Ruhe aß er nun Reis, Ei, Spinat, er trank heißen Tee und genoss den Anblick seines Hofs. Was hätte wohl die Frau des Nachbarn mit ihrem Mann gemacht? Hinter dem Anwesen rauschten die Bambusblätter, aus dem Koben grunzte das Schwein. Alles war, wie es sein sollte.

Anz Nebel: Helden

So toll wie sonst nur die 80er oder 90er, 70er oder noch schlimmer.
Du denkst an Batman, du denkst an Supermans Cape, das irgendwie diese absurden Schwerkraftmoves, besser Antischwerkraftmoves draufhat, wie in einem Parabelflug für immer, an Superman, weil er irgendwie dazugehört und fragst dich: wie genau sind diese Menschen gealtert?
Sie haben geraucht und sich dran gewöhnt
Sie haben gesoffen und sich dran gewöhnt
und dann bleibt das – hängen – kleben
und da sind die Falten und alles. Alter.
Ich wünsch mir eine*n Held*in in meinem Leben und es macht mich ein wenig traurig, dass es das nicht mehr gibt, seit die Leute in den 70ern sich diese Postmoderne ausgedacht haben, seit wir nicht mehr nur schwarz-weiß sehen gibt es niemanden mehr, den/die man uneingeschränkt bewundern kann. Danke Nazis.
Ich weiß schon, es ist gut weil emanzipatorisch, aber einfacher wärs schon.
Back in the 90s: Als ich ganz klein war, da war ich der festen Überzeugung, dass man aufhört zu weinen, sobald man 18 Jahre alt wird. Erwachsene sind quasi Superhelden in meiner kleinen 4-Jährigen-Ideologie. Wenn ich in meiner privatpersönlichen Coming-of-Age-Phase alle Tränen verschütte, die ich habe, dann bin ich den Rest meines Lebens trockene Melancholikerin und somit auf der sicheren Seite, das ist mir klar. Jetzt bin ich groß, groß wie du, Mama. 5 Jahre entfernt von dem Schwangerschaftstest, der dir mich gebracht hat. Als du allein warst und doch so zu zweit. JA? NEIN? Danke.

Matt S. Bakausky: Spiel, Satz und…

Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte „Vom nächtelangen Zocken vor dem TV bekommst du noch viereckige Augen!“
Ich hielt das zu diesem Zeitpunkt noch für einen dummen Spruch. Ich betrachtete meinen Augen dennoch vorsichtshalber von nun an intensiv beim morgendlichen Zähneputzen im Spiegel – war nicht schon eine winzige kleine Vereckung wahrnehmbar?
Ich zweifelte immer noch an dieser Behauptung, hielt sie für einen mütterlichen Satz zu Erziehung, in der selben Liga wie „Wenn du eine Grimasse schneidest, bleibt dein Gesicht so“, „Wenn du deinen Teller nicht auf isst, regnet es morgen“ oder „Rauchen ist tödlich“.

Zwanzig Jahre und viele Konsolengenerationen später traue ich mich tagsüber nur noch mit Sonnenbrille aus dem Haus – denn sonst zeigen die Kinder mit ihren kleinen Fingern auf mich und sagen zu ihren Müttern: „Guck mal Mama, der Mann hat aber komische Augen“.
Zähneputzen um Zähneputzen konnte ich die fortschreitende Vereckung meiner Augen betrachten. Bis ich irgendwann alle Spiegel abgehängt habe.
Ein Augenarzt inspizierte meine Augen ungläubig: „Interessante Deformierung der Augäpfel“. Er stellte Fragen und schlug mir letztendlich vor meine Augen für die Wissenschaft zur Verfügung zu stellen – nach meinem Tod selbstverständlich.

Frauen gab es in meinem Leben neben meiner Mutter – im Beziehungssinne – nur kurzzeitig. Also solange bis sie meine Augen sahen.
Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte: „Wahre Schönheit kommt von Innen.“ Einen Satz den man zum Aufmuntern sagt, wie „Die ersten werden die letzten sein“, „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ oder „Nur die Besten sterben jung“. Doch ich war verzweifelt. Naja, außerdem hatten die Sätze meiner Mutter schon sowas Orakelhaftes an sich.

Ich versuchte also meinen Blick für die wahre Schönheit zu schärfen. Da ich nicht wusste was dieses Innen von mir eigentlich ist, besuchte ich einen Psychologen. Dieser behandelte mich wegen meiner Minderwertigkeitskomplexe aufgrund der viereckigen Augen.
Wohl um mich aufzuheitern erzählte mir Dr. Schrank von seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen aufgrund seines kleinen Geschlechtsteils. Das wollte ich gar nicht wissen. Von nun an trug ich nicht nur eine Sonnenbrille, sondern polsterte meine Hose aus, wenn ich das Haus verließ.

Mir war nun bewusst, dass viereckige Augen nicht das einzige körperliche Manko von mir war. Meine Mutter nahm einen Zug von ihrer Movie, aschte ab und sagte: „Es kommt nicht auf die Größe des Werkzeugs an, sondern darauf wie man es bedient!“ „Woher zur Hölle willst du das wissen?!“, fauchte ich sie an.
Sie wurde still und wir redeten wochenlang nicht mehr miteinander.

Dann bekam ich einen Brief von ihr. Sie schrieb sie wäre beim Arzt gewesen. Weil sie Blut hustete. Krebs in der Lunge. Wenige Wochen zu leben. Tränen kullerten aus den Ecken meiner Augen.
Ich verbrachte die nächsten Wochen bei meiner Mutter im Krankenhaus, zockte immer seltener. Bis ich irgendwann die Konsole gar nicht mehr startete.

Dann Nachts wurde ich vom Telefonklingeln geweckt. Ich solle ins Krankenhaus kommen. Als ich im Taxi saß merkte ich bei einem sporadischen Blick in den Rückspiegel, dass ich in der Eile meine Sonnenbrille vergessen hatte. Ich verdeckte schnell panisch meine Augen. „Alles gut bei Ihnen?“, fragte mich die Fahrerin.
Ich schob die Hände beiseite und schaute in meinen ausgepolsterten Schoß. Als ich aus Versehen wieder in den Spiegel schaute traute ich meinen Augen nicht. Sie sahen irgendwie normal aus.

Im Krankenhaus lag meine Mutter im Sterben. Als sie die Augen öffnete sah sie in meine nicht mehr eckigen Augen und lächelte. Sie nahm einen letzten Atemzug und sagte: „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“.

Horst Schulze Entrum: Im Alter gibt es für fast jedes Problem ein Hilfsmittel, nur nicht gegen die Einsamkeit

Ich schlafe gerne lang, werde immer vergesslicher und habe öfters schlechte Laune. Also hab ich mir gedacht: Das sind doch gute Ressourcen; warum nutze ich die nicht beruflich?
Und so habe ich eine Stelle als Tester angenommen. Als Tester für Senioren-Bedarf. Und bevor ich den Titel dieses Textes auch wieder vergesse, habe ich ihn einfach nur Alter genannt, aber vollständig heißt er:
Im Alter gibt es für fast jedes Problem ein Hilfsmittel, nur nicht gegen die Einsamkeit.
Ich habe schöne Socken an. Socken, die meine Waden nicht so einschnüren. Dazu Schuhe, in die ich leicht hineinkomme.
Ich probiere meinen neuen Rollator aus. Setze mich auf die Sitzfläche. Der Scheiß-Urin-Beutel bleibt dabei irgendwo hängen. Aber auf meiner Windel sitze ich schön weich. Später werde ich es dort wohl noch etwas weicher haben. Im Alter freut man sich auch über die Kleinigkeiten des Alltags.
Ich öffne mein Mittags-Menü. Der junge Mann vom Lieferdienst war schon heute Morgen da. Aha. Hühner-Risotto. Gestern gab es Rindfleisch-Risotto, morgen wird es wohl wieder Grünkohl geben. Lecker. Mit Mettwurst. Die Pelle werde ich wohl liegenlassen müssen. Und die Scheiß-Senfkörner werden sich unter meiner Prothese festsetzen, wo ich sie dann nur mit Mühe herausbekomme. Ich werde laut Schleim hochhusten und die Körner in die Spüle spucken. Zwei-drei Körner werden an meinem Hemdkragen hängen bleiben, weil ich nicht mehr soweit spucken kann. Ich habe einen alten Lappen, mit dem ich den Auswurf dann auf meinem Hemd verreiben werde.
Ich esse schnell mein Hühner-Risotto. Schnell heißt, dass ich das Risotto in meinem Mund aufwärmen muss, denn es kühlt so schnell ab. Die Alufolie auf der Packung dient wohl nur der SeniorenBelustigung. Fünf Minuten brauche ich dafür, bis das Luder endlich offen ist. Das werde ich in meinem Protokoll vermerken.
Siedend heiß fällt mir ein, dass meine Freundin heute ihre neuen Arbeitskolleginnen zum Essen eingeladen hat. Ich muss dafür noch einkaufen, und die Zeit ist knapp. Wo ist der verdammte Einkaufskorb. Ich soll keine Taschen nehmen, denn sonst platzen die Tomaten, der Basilikum wird zerdrückt und die Rauke-Blätter, die ich einzeln auswählen soll, leiden.
Der Rollator hat einen Korb und passt schön zu meiner Grützefarbenen Hose, dem Speichelgrünen Hemd und dem Fensterkitt-gelben Blazer. Ich nehme den Rollator.
Ich knie mich auf das Sitzbrett, löse die Bremsen und rase den Berg zum Karstadt hinunter. Den Urinbeutel halte ich vor mich. Als Air-Bag wird er wohl das Schlimmste verhindern. Mit quietschenden Bremsen komme ich vor Karstadt zum Stehen. Zum ersten Mal sehe ich die Bremsspuren eines Rollators. Aus dem Karstadt höre ich schon die Aufforderung, das Geschäft zu verlassen. Erzähl das mal einem Windelträger.
Mit dem Rollator hakel ich mich durch die doppelten Schwingtüren. Keine dieser verzogenen Scheiß-Gören hält mir auch nur eine einzige Tür auf. Dafür kneife ich sie in den Pöter. Keine würde einen alten Mann zur Rechenschaft ziehen, der sich nur noch so gerade eben über seinen Rollator buckeln kann.
Der Urinbeutel bleibt beinahe in der Griffleiste der Rolltreppe hängen. Kostbare Sekunden vergeude ich damit, glaubwürdig geistesabwesend so vor der Rolltreppe stehen zu bleiben, dass die anderen Kunden nur mit Mühe an mir vorbeihasten können. Bei dem Versuch, wieder so einer jungen Schlampe an den Arsch zu langen, erwisch ich nur eine ältere Dame. Auch Sex im Alter kann schmutzig sein.
Seufzend mustern mich die Verkäuferinnen, als ich stocktaub ihre Hinweise – „Wir schließen gleich!“ – ignoriere. Geriatrisch schlenze ich Strauchtomaten in meinen Korb vorne am Rollator. Mit meiner Greifzange fische ich den Mozzarella unten aus dem Kühlregal. Spitzen-Ding, so eine Greifzange. Meine Scheißwindel hat sich gelöst und rutscht in der Hose langsam herunter. Werde in mein Protokoll aufnehmen, dass die neuen Klettverschlüsse nicht nur tierisch scheuern, sondern auch unglaublich schnell aufgehen. Habe meinen Urinbeutel verloren. Finde ihn unten im Kühlregal bei den Mozzarellas. Werde auch vermerken, dass man sich mit diesen Billig-Dingern schnell die Blase verkühlen kann.
Leutselig stellt sich mir der Abteilungsleiter in den Weg. Ich mache auf kurzsichtig und ratter ihm voll über die Zehen. Als er wieder Luft kriegt, schafft er es immer noch zu lächeln. Und bevor er mich hinauskomplimentieren kann, drücke ich ihm die Einkaufsliste in die Hand und lasse mich mit einem vernehmlichen „Uff“ auf die Sitzfläche fallen. Zum Glück war der Urinbeutel nicht so voll, den ich dort abgelegt hatte. Werde den Hersteller darauf hinweisen, dass Männer mit Windeln eigentlich nicht auch noch einen Urinbeutel benötigen. Es sei denn, sie legten Wert auf gespritzte Tomaten.
Entsorge den geplatzten Urinbeutel in der Biotonne am Gemüseregal und die stark tropfenden Strauch-Tomaten ebenfalls. Als der Verkaufsleiter gestresst mit vollem Korb zurückkommt, beschwere ich mich lauter als nötig über den teuren Büffel-Mozzarella, dessen Verpackung so schnell reißt. Kläre ihn lauthals darüber auf, dass ich meine nunmehr nassen Kompressionsstrümpfe nicht ohne Hilfe wechseln könne. Schicke ihn nach dem teuren Barolo. Brülle hinterher, er soll den Cremant nicht vergessen.
Muss den ganzen Berg wieder hoch. Habe jetzt Blasen von den Rollatorgriffen an den Händen. Aber der Korb ist spitze. Alle Tomaten sind noch heil und der Basilikum steht vorne wie eine Eins. Bin stolz auf mich. Zeitlich liege ich noch gut, muss mich nur noch schnell umziehen. Beschließe, erst einmal die hors d´heuvre zuzubereiten. Die finden alle immer ganz lecker und lieben den Wortwitz von wegen Horst d´heuvre.
Ich blanchiere die Tomaten und frage mich, warum meine Freundin trotzdem immer darauf besteht, dass die Tomaten heile ankommen sollen. Richte schon mal Wasser für die Nudeln her. Im Timing bin ich bei den Nudeln immer Spitze. Es klingelt. Ich öffne. Meine Freundin mag es zwar nicht, wenn ich immer noch Rentnerklamotten anhabe, wenn sie nach Hause kommt, aber was willste machen, will ich sagen, kann mich ja gleich noch schnell umziehen. Habe leider nur vergessen, dass sie sofort mit ihren neuen Kolleginnen von der Arbeit nach Hause kommen wollte. Aber das ist ja das Schöne an Demenz; wenn man dann ein Déjà-Vu hat, hebt sich das auf.
Die Kolleginnen schauen betreten weg. Der Mozzarella-Fleck auf meiner grützefarbenen Hose bildet einen schönen Kontrast zu meinem speichelgrünen Hemd mit dem senffarbenen Auswurf.
Das Nudelwasser kocht, meine Freundin auch. Werde meine Nudeln demnächst wohl wieder alleine essen müssen.
Im Alter gibt es für fast jedes Problem ein Hilfsmittel. Nur nicht gegen die Einsamkeit. Auch das werde ich in meinem Protokoll vermerken.

Erasmus zu Roevershagen: Vögel I-X

Vogel I – der kleine Vogel

Vogel II – der große Vogel

Vogel III – der andere Vogel

Vogel IV – der dritte Vogel

Vogel V – der falsche Vogel

Vogel VI – der schräge Vogel

Vogel VII – der obere Vogel

Vogel VIII – der Nebenvogel

Vogel IX – der Hauptvogel

Vogel X – der kalte Vogel

Matt S. Bakausky: Déjà-Vu Forever

Als ich Abends nach Hause kam, fand ich einen dicken Umschlag im Briefkasten. Ohne Absenderadresse, jedoch mit Briefmarke und Stempel aus Hong Kong. In der Wohnung angekommen öffnete ich den Brief und fand darin ein kleines Fläschchen. Es war verpackt in dieser Folie mit diesen Aufplopp-Noppen. Die Flasche sah irgendwie billig aus, als wäre sie leicht zerbrechlich. Doppelt bedruckt mit dem Namen „Deja vu Forever“. Ich hatte vor kurzem in einem Onlineshop diese Flüssigkeit bestellt. Oben an der Flasche angebracht war ein Deckel mit einem Zerstäuber. Der Marketing-Text war knapp und doch aussagekräftig. „Deja vu Forever is a parfume for experiencing deja vus a lot a lot a lot…“.
Ein Deja Vu ist wahrscheinlich eine Gedächtnisstörung. Dabei kommt es einem so vor, als hätte man etwas schon mal gesehen oder erlebt. Dieses Wundermittel soll chemische Substanzen enthalten, die jene Störung öfters hervorrufen. Vorausgesetzt man verwendet es wie ein Parfüm. Ich stellte das Fläschen ins Bad, um das Parfüm am morgigen Tag auszuprobieren. Am nächsten morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen. Ich ging ins Bad, um die Zähne zu putzen. Als ich nach der Zahnbürste griff, schmiss ich beinahe das Fläschchen mit dem „Deja vu Forever“ um. „Ob es die gewünschte Wirkung haben wird?“, fragte ich mich.
Nach dem Duschen war es soweit. Ich besprühte meinen Hals drei mal mit dem Parfüm. Es roch nach einer Mischung aus Rose und diesem chemischen Geruch von Neuwagen. Ich war bereit für das erste Deja Vu, musste mich jedoch auch fertig machen für die Arbeit. Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich ein Lied im Radio, das ich schon zu kennen schien – ich wusste nur nicht woher. Da fiel mir der „Deja vu Forever“ ein. War das schon ein erstes „Deja vu“?
In der Arbeit begrüßte mich eine Frau. Diese Situation kam mir bekannt vor. „Es geht los…“, dachte ich mir. Es folgten zig Deja vus. Es war ein konstanter Zustand von bereits erlebten Dingen. Mein Chef kam an meinen Arbeitsplatz und fragte nach den TPS-Reports. Die Situation kannte ich irgendwoher. Mittagessen vom Asiaten bestellen, kenne ich schon irgendwoher. Überstunden bis zum späten Abend, kenne ich schon irgendwoher. Den Bus verpassen, kenne ich schon. Endlich zu Hause ankommen, nichts im Kühlschrank haben, kenne ich schon irgendwoher. Im Internet was von einem Lieferservice bestellen, kenne ich schon. Pizza kalt und verbrannt: bekannt. Sich in den Schlaf weinen und sich auf die Traumwelt freuen: bekannt.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen – das kannte ich schon. Ich ging ins Bad, um die Zähne zu putzen – jaja, kenn ich. Als ich nach der Zahnbürste griff, schmiss ich beinahe das Fläschchen mit dem „Deja vu Forever“ um – noch ein Dejavu! „Ob es die gewünschte Wirkung haben wird?“, fragte ich mich – nicht zum ersten Mal. Nach dem Duschen war es soweit. Ich besprühte meinen Hals drei mal mit dem Parfüm – wie oft denn noch? Es roch nach einer Mischung aus Rose und diesem chemischen Geruch von Neuwagen – seltsames Gefühl, den Geruch zu kennen. Ich war bereit für das erste Deja Vu, musste mich jedoch auch fertig machen für die Arbeit.
Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich ein Lied im Radio, das ich schon zu kennen schien – ich wusste nur nicht woher. Da fiel mir der „Deja vu Forever“ ein. War das schon ein erstes „Deja vu“? In der Arbeit begrüßte mich eine Frau. Diese Situation kam mir bekannt vor. „Es geht los…“, dachte ich mir. Es folgten zig Deja vus. Es war ein konstanter Zustand von bereits erlebten Dingen. Mein Chef kam an meinen Arbeitsplatz und fragte nach den TPS-Reports. Die Situation kannte ich irgendwoher. Mittagessen vom Asiaten bestellen, kenne ich schon irgendwoher. Überstunden bis zum späten Abend, kenne ich schon irgendwoher. Den Bus verpassen, kenne ich schon. Endlich zu Hause ankommen, nichts im Kühlschrank haben, kenne ich schon irgendwoher. Im Internet was von einem Lieferservice bestellen, kenne ich schon. Pizza kalt und verbrannt: bekannt. Sich in den Schlaf weinen und sich auf die Traumwelt freuen: bekannt.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Wecker aus der Traumwelt gerissen – hab ich schonmal erlebt. „Konnte es sein, dass das ganze Leben ein Deja Vu ist? Seit wievielen Jahren schon?“, fragte ich mich auf dem Weg ins Bad.
Kam mir bekannt vor der Gedanke.

Natalia Breininger: Neon

Ich frage die Katze, ob sie genug gekotzt hat, ja, meint sie, aber ich noch nicht; mein Hals ist geschwollen, die Nase läuft, Hartz IV bald auch; irgendwie ist alles kaputt und angeschlagen, abgeschlagen, mit Lichtern und Raumfahrten dazwischen, Größenwahnphantasien und Existenzängsten, Beziehungswracks und unrealisierter Romantik, ich bin – so viele, dass ich es gar nicht halten kann, und draußen sind – so wenige: wer klopft an die Tür, der klopft an die Tür, ich gehe in Tangenten die Welt ab, Entropien wie Berge um mein Gehäuse, ich esse die Suppe, weil ich muss, und wache auf, weil ich nicht anders kann – nach dreißig stellt sich der Sinn plötzlich tot, und ich weiß nicht, ob das schlecht ist – am Nullpunkt ist immer Ruhe, die besser scheint, als Amplituden der langweiligen Wiederkehr: Karriere machen, fragt mich einer, nein danke, antworte ich, ich wüsste nicht, worin und wozu, zudem niese ich ständig, oder bin kopfkrank, und nur die Sonne geht unter und ist schön und wieder auf und ist noch schöner, das ist alles, was sich zu sehen lohnt, und mit den Spatzen die Krümel zu klauen, und irgendwie zuhören zu können, ohne eine Strafpredigt zu halten, da zu sein, ohne nachlässige Ignoranz oder falsche Leichtigkeit – in Armut lebt es sich schwerer, aber auch ehrlicher, das Finanzamt zieht mir den letzten Teppichboden unter den Füßen weg: wie stellen die sich das eigentlich vor, wovon du leben sollst, fragt eine Freundin, ja, sage ich, weiß ich auch nicht, gar nicht wahrscheinlich – vor mir Berge und Mondkrater, über die ich zu lugen versuche: nur nicht unsichtbar werden, zurückgeworfen ins Negativ, auf sich aufmerksam machen, auch wenn der Globus vor meinen Augen riesig erscheint, ein Kreuz setzen, in Merkels Gesicht, um ihm klar zu machen: so nicht, meine Liebe, du hast keine Ahnung davon, wie wir leben, wer wir auch immer sein mag – die Verlassenen, Geflohenen und Entstellten, die Alten und die unglückseligen Künstler, die Hebammen oder einfach die mit einem vaginalen Loch zwischen den Beinen – was auch immer du mir erzählst, du kennst das Leben nicht, wo du Dostojewski liest und mit dem Masterabschluss putzen gehst, auf halben Stellen, wie halben Stühlen sitzt, desinteressiert und krank; ich weiß doch auch nicht, was mit meinem Körper los ist, oder mit meinem Herz, aber das Leben in diesem Land hat etwas Fahles, Glanzloses, ist fluoreszent, ich sehe, wie dort die Wärme evaporiert und keine Spuren hinterlässt, nur eine Fata Morgana – als wär sie nie da gewesen; ich lecke die eingefrorenen Fenster ab – draußen ist Winter, bald, und ein Jahr ging vorbei, nichtssagend und schwer, mit Gesellschaft dazwischen und der Einsamkeit, in buntes Neonlicht getaucht, kalt und schön – ein Licht, aus dem auch die Frauen kommen, die mir so ungleich sind, Bella, Gigi Hadid, Cara Delavigne, Rihanna, manchmal auch Heidi Klum, wenn sie nicht kreischt, ausgehungert und schön, mit Reichtum behängt, den sie hin und her tragen, wie Sträflingskugeln, Frauen, die zum Verkauf stehen, und irgendwie auch nicht, mit operierten, injizierten Gesichtern, die im Blitzlichtgewitter untergehen und von denen am Ende nur (ihre) Gespenster zurückbleiben: haben sie was gesagt, was gedacht, wer weiß das schon, dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Fitschlanknhappy, wie wäre es stattdessen mit Schlappfettnkrank, beides schenkt sich doch nichts und ist nur Ausdruck des Lebens, des Sterbens; ein Kreislauf, der vor sich geht, zusammen mit der Erdrotation und den Gezeiten, und viel mehr als das ist da nicht, obwohl – gestern hat ein Penner meinen Namen gewusst, oder es hat so gehallt, als ob, es hat mich entsetzt, er – in einer Güte, die mitten aus Verzweiflung erwächst: im Leiden noch Wärme geben, geht, geht ausgerechnet da, geht, während die Mode- und Unterhaltungsindustrie Mädchen castet, nach Farbe und Form und das Arbeitsamt neue Sklaven, der Klasse I, Klasse II in seinem asozialen Bürgerklassifizierungwahn heranzüchtet; Merkel erzählt mir irgendetwas davon, wie sie die Arbeitslosigkeit halbiert hat, aber nicht um welchen Preis, und welches Leben die Menschen fristen, in den Ghettos und der Peripherie in Armut, die unterm Strich aufs Gleiche hinausläuft, wie sie dann an Wochenenden in die steuerfreien Oasen des Starbucks strömen, in modischen Billigversionen und Masken aus perfektem Makeup, zum Schaumschlürfen und Kollegenbasching – für mehr reicht das Geld nicht, und im Vergleich dazu hat es selbst Kafka noch knallen lassen, war aber auch früher tot, so läuft es nun mal – wer ehrlich lebt, muss früher sterben – / ich rauchte meine Zigarette zu Ende.