Andii Weber: Paratext

Dieser Text ist eine scharfe Analyse, ein herrlich leichter Abgesang auf den Zauber der Jugend. Und vor allem: Schön geschrieben. Auch der Textsatz ist recht gelungen. Scheinbar leichtfüßig füßelt er zwischen Pop und Avantgarde und kleidet sich dabei zuweilen in windige Allegorien auf die große Freiheit aber auch den goldenen Käfig des Lebens.
Große Kunst, wer mit so wenigen Worten so bildgewaltig die kleinen Gefühle auf das Textblatt machen kann. Mystifiziert der Text das Leben? Wahrscheinlich. Übermystifiziert er es? Vielleicht auch, ja.
Der Text könnte auch eine Anspielung sein. Auf Alles. Er verbirgt sich zwar selbstunsicher hinter einem prätentiösen Schleier eingeschobener und entstellter Zitate
“Was uns micht unbrimgt. macht und mur stärker” (Niesche)
und unwichtigen Einschüben
Heute Abend im Bus ist mir eingefallen, dass ich ja noch einen Text schreiben wollte. Es war ganz komisch. Auf einmal war da so ein Gedanke an einen Text, der von nichts anderem , als sich selbst handeln soll. Wie schön wäre das bitte, noch nie hatte ich eine bessere Idee gehabt. Wirklich. Beim daran denken, dachte ich aber auch, dass es eine ganz und gar furchtbare Idee war, aber das würde sich dann schon im Schreibprozess legen.
Ich fing also an, während der Bus, der voller Smombies war, ein Wort, dass sich windige Sprachwissenschaftler, die zu allem Überfluss – aber was ist schon Überfluss? – sich auch noch, zur reinen Distinktion, als, man höre und staune, Jugendsprachexperten bezeichnen, an Glascontainern, die, natürlich, wie sollte es auch anders sein, zum Bersten gefüllt waren, vorbeiholperte, während … jetzt habe ich den Faden verloren. Wo waren wir noch gleich?
die den Textfluss extrem hässlich unterbrechen, aber das wollen wir, und damit meine ich uns Sprecher*Innen, dem Text gerne verzeihen.
Man spürt eine Müdigkeit beim Vorlesen des Textes, die lustig zwischen den lakonisch hingeschmierten Zeilen mitschwingt. Auch wenn ich versuche, den Text besonders spannend auszuacten, er ist einfach so dermaßen dröge und belanglos, dass er sich zu nichts formen lässt.
Ging es am Ende nur darum, ein Paar Worte hinrotzen um möglichst schnell möglichst viel Zeilengeld zu kassieren, um dann endlich an sich rumspielen zu können? Wollen wir das nicht alle? Ist es nicht so, dass das Zeilengeld das täglich Brot des kleinen Mannes ist, der großen Frau? Dieser Text stellt uns viele Fragen. Er ist aufwühlend und belanglos zugleich.
Zurück zur Banalität des des Künstlerlebens: Ein Käsebrot kündigt den scheiternden Wendepunkt dieses Textes an. Es liegt auf einem Teller irgendwo im Text herum und der Käse beginnt langsam, harte Ränder zu entwickeln. Iss schon. Iss das gute Käsebrot, dass du dir selbst geschmiert hast. Und es ist schön geschmiert. Hunger, ich habe so einen Hunger! Immer diese animalischen Triebe, sie ziehen sich quasi als Leitmotiv durch den gesamten Text. Aber echte Kunst entsteht ja auch nur mit leerem Magen, insofern scheint dies wohl genial zu sein. Eigentlich ganz cool.
Und was dann geschah, brachte mich wirklich zum staunen: Obwohl es eigentlich noch weitergeht, höre ich an dieser Stelle einfach auf, vorzulesen.
Toll geschrieben!

Andii Weber: In der Parfümehrie

Melissa: Es stinkt, Paul, es stinkt!
Paul: Ja Melissa, ich weiß.
Melissa: Aber die Flaschen hier  sind schön!
Verkäufer: Wie kann ich ihnen helfen?
Melissa: Wieso stinkt es bei Ihnen im Laden so?
Verkäufer: Naja, dies ist eine Parfümerie und keine Metzgerei.
Melissa: Aber sind Parfüme nicht dazu da, einen Guten Duft zu verbreiten?
Verkäufer: Ja. Das funktioniert aber nur, wenn sie nicht gestört werden.
Paul: WIe?
Verkäufer: Naja wenn sich Düfte überlagern, dann fangen sie an zu kämpfen. und haben Sie schon mal eine wohlriechende Hundekampfarena gesehen?
Paul: Gesehen noch nicht, aber gerochen.
Melissa: Paul du warst bei einem Hundekampf?
Paul: Deshalb wollten wir doch das Parfüm kaufen
Verkäufer: An welchen Duft hatten sie gedacht?
Paul: Naja, Rosen und Lilien und Veilchen vielleicht?
Verkäufer: Das kostet extra.
Paul: Aha und was kostet nicht extra?
Verkäufer: Reiner Alkohol.
Melissa: Und ansonsten kostet das hier alles Geld?
Verkäufer: Ja, Nein, Vielleicht! Wer weiß das schon.
Melissa: Na sie!
Verkäufer: Ja, stimmt.
Melissa: Aber wie viel?
Verkäufer: 100 Rosen ungefähr.
Paul: Kann ich auch mit Karte zahlen?
Verkäufer: Ausgeschlossen.
Melissa: Schau mal, den da möchte ich gerne haben Paul
Paul: Den da? Wirklich? Der Riecht aber nach Parfümerie.
Verkäufer: Eine gute Wahl! Soll ich mich einpacken oder wollen sie mich gleich Essen? Ich frag nur wegen der Mehrwertsteuer.

Andii Weber: Eine kleine Erlösungsgeschichte.

„Erst aussteigen lassen, dann einsteigen!“ hat sie gesagt, dann schob sie sich in den Bus, noch bevor sich die Türen geöffnet hatten.
Der  Busfahrer hat eine goldene Feder am Ohrläpppchen. Er befreit sich unter Aufbietung von Kräften aus seinem Busticketkäfig und holterdipoltert den Gang entlang zur Türe des Fahrzeugs. Er stöhnt kurz, zieht an zwei kleinen Metallösen im Boden und klappt eine Zugbrücke aus Eichenholz nach außen.
Der Rollstuhlfahrer betritt den Raum [Applaus].
Busfahrer ab.
Aus der hinteren Ecke, da wo die Coolen sitzen, löst sich unvermittelt ein Schrei: „Hey! Der ist ja querschnittsgelähmt, das ist voll schlimm!“ [Lautstärke: Ü30] „Ich hab immer voll Mitleid mit diesen Typen, Ey!“ Es schallt durch den Bus. Draußen blinkt der Schnee blau. „Alter, kann ich dir helfen? Du tust mir voll Leid, Digger!“
„Ich glaube, das ist nicht nötig, guter Mann: Man steht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Füße unsichtbar.“
„Wow! Das ist aus dem einen Buch, dass mir meine Mutter immer zum schlafen vorgelesen hat, gell? Die Blechtrommel, oder? Alter, du bist ja  voll krass drauf!“
Dann sehe ich aus dem Augenwinkel ausgestreckte Hände, die den Rollstuhlfahrer an der Stirn berühren.
Kurze Stille, gefolgt von Jauchzen und Frohlocken.
„Ein Wunder! Ich kann wieder sehen! Oh, welch unbeschreibliches Glück!“
Der Rollstuhlfahrer steht auf und moonwalkt aus dem fahrenden Bus.

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen VI – Das Bier

Du köstliches Gepansch, oh, Gerstendunst,
Hältst fern von uns Verderben, Not und Pein.
Stehst gülden-braun im Glas, wie hingebrunst.
Du höchstes Gut der Welt und Sonnenschein.
Du prickelst, sprudelst, knallst wie ein Vulkan
Schmeckst herrlich auch Schnaps und Zigarett
Und brandest unsre kargen Kehlen an.
Du machst uns hunderttausend Sorgen wett.
Ergebenster Gefährt in bittrer Not
Und ewig unser allerbester Freund,
Wenn Finsternis ihn zu ersticken droht,
Hat jedermann noch stets von dir geträumt.
Wie Bernstein schmückst du unsres Tresens Kron.
Du funkelst wie der allerbraunste Stern.
Machst uns zu Helden, hebst uns auf den Thron.
Zefix, du Bierschatz, wir haben dich gern.
Was wärn wir ohne den umarmend Trost,
Den täglich du uns offenherzig leihst?
Weil du uns unsre Blödigkeit verzeihst,
Drum, Bier, auf dich, auf Ewigkeiten: Prost!

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen II – Ode an den Gartenzwerg (lang und kurz)

Lang:

Oh, der du da den Garten uns behütest,
Magnolien, die Gurken und den Kohl.
Wie häufig hat Frau Mieze hier geschmutzt,
die schauerliche Wachtel gar gebrütet
und dennoch hältst du Wache, brav und wohl
von dir wird jeglicher Gefahr getrutzt.
Am Rande der Rabatten ist dein Hafen,
mit klarem Aug und apfelroten Backen
bewachst du alle Früchte, wenn sie schlafen.
Für Bohnen und für hilflose Tomaten
den Kürbis gar, die adipöse Beer,
setzt du dich ein mit blutdürstigem Spaten.
Wie häufig kam Herr Teckel her, zu kacken
und ohrenwehend floh davon nunmehr?
Du hältst den Buckel hin für Rübe oder Blüte.
Als treuster deiner Freunde liegt voll Schwere
dein Bart, der deinen Wanst so sanft umdeckt
wie tausend wollne Decken bester Güte.
Hast Krieg getrotzt und Nachbars giftger Schere,
die alle Tage mordlustig er streckt.
Das Rot von reifen Kirschen schmückts Barett,
trotzt Regenwetter, Hunden oder Bären
und ist wie durch ein Wunder noch komplett.
Wenn, abgestraft vom Chefe heim wir kehren
und sehnen die Geborgenheit, die warme,
stehst freilich wieder du vor unsrer Tür.
Dann schließt du uns in deine kalten Arme
und küsst uns auf die Stirn, werweißwofür.
Stehst auch noch hundertzwanzig Jahre hier.
Oh, lieber Gartenzwerg, wir danken dir!
 

Kurz:

Ein Männlein steht vor meines Hauses Flor,
es trägt ein Mützlein, ganz aus rotem Gips,
es schwingt sein Säckchen, was wohl hat es vor?
Ich denk, es will mich töten mit 1 Schnips.

Peter Momberg: Helden

Radio hat mich gefragt wer mein Vorbild ist.
Mein grosses Vorbild ist Christian Grey. Habe gelesen Bücher eins bis drei, in denen er sein Leben als Multimillionär beschreibt. Er hat viele Freunde aber im Herzen will er nur eine Sache: Liebe.
Das ist wie bei mir. Mombi möchte auch Liebe. Ich möchte geliebt werden, aber keine will mich lieben.
Christian Grey hat es aber geschafft, weil er ein Firmen Impernium besitzt, sehr sportlich ist, Hubschrauber fliegen kann und ein total kranker Mann ist.
Darauf stehen die Frauen, das zeigen Bücher.
Er heiratet und bekommt viele Kinder.
Ich weiß nicht wo ich anfangen soll. Mein Firmen Impernium ist pleite gegangen, Mombis Maulbomber sind die Maultaschen der Zukunft gewesen, aber nicht von heute. In Summe keine verkauft, schlechter Deal. Sportlich bin ich auch. Hubschrauber ist mein Onkel Costa-Raul in Vietnamkrieg geflogen. Er ist viel Hubschrauber geflogen.
Weil wir so viele Ähnlichkeiten haben ist Christian Grey mein Vorbild. Ich möchte so werden wie er. Er ist mein Stern am Himmel. Wenn ich nicht weiß, was ich kann, frage ich mich, was hätte Christian Grey jetzt gemacht. Wenn ich nicht weiß wer ich bin frage ich mich, wer ist Christian Grey. Wenn ich meinen Körper hasse frage ich mich warum Christian Grey so einen schönen Körper hat.
Er ist der starke Mann von heute.
Ich bedanke mich außerdem bei meinem Freund Mats Hummels für die Unterstützung die er mir in schweren Zeiten gegeben hat. Danke.

Nicolai Hagedorn: Unwahre Alltagsschurken

Häufig hört man, wirkliche Helden seien Leute, die unbemerkt Großes leisten.
„Held des Alltags“ kann demnach im Grunde jeder werden, der sich irgendwie nützlich macht. Besonders „stille“ bzw. „wahre“ Helden sind beliebt und wer nach ihnen Ausschau hält, findet sich bald in einer Stadt wieder, von der man nur hoffen kann, sie hätte keinen solchen, deren „Mannheimer Morgen“ aber meldet, es reichten oft „kleine Gesten, die Menschen zu Helden des Alltags – und damit zu „Kavalieren der Straße“ – machen.“ Kavaliere der Straße? Jepp, sagen die Mannheimer, man habe bereits über 60.000 als solche ausgezeichnet, sogar zwei Frauen (Eden und Lisa), die einmal ein entlaufenes Pferd eingefangen hätten. Es gibt auch eine FIT FOR FUN-Heldin des Alltags (70 Kilo abgenommen), Wuppertal hat einen „Alltagsheld in Fußballschuhen“, die Schreibwarenfirma „odernichtoderdoch“ vertreibt einen „Schreibtischorganizer A4 Alltagsheld“ und galileo.TV kürte kürzlich den „Gummihandschuh“ zum Alltagshelden, weil er „so widerstandsfähig“ sei: „Saubere Hände, griffige Finger, sterile Operationen: Das alles geht am besten mit Gummihandschuhen.“
Alles in allem, die Auflistung zeigt´s, sind Alltagshelden eigentlich Idioten. Wo und wann immer es hoch her geht, kommen sie angepacet und sorgen für Ruhe und Ordnung auf dem Schreibtisch, ziehen Verkehrsleichen aus den Straßengräben und nehmen dabei dutzende Kilo ab. Mannheim hat derweil offenbar eine Armee von 60.000 Vorbildern aufgestellt, die die Schurken des Alltags durch ihre einzige Superkraft „Schlechtes Gewissen machen“ besiegen sollen.
Ich hingegen bestelle hier noch ein Bier, bevor ich um vier Uhr morgens lärmend durch die Anwohnerschaft bösewichtern, lächelnd die angefahrene Omi auf dem Zebrastreifen liegen lassen werde, um endlich und schnurstrack zur Arbeit, nämlich ins Uniklinikum zu fahren, wo ich ohne Gummihandschuhe die anstehende Transplantation (war es Niere?) durchführe.
Prost am Tisch.

Horst Schulze Entrum: Wie ich das Ozonloch stopfte

Der folgende Text ist mein allererster Action-Text. Und deswegen wollte ich den eigentlich mit der Synchron-Stimme von Robert De Niro sprechen. Aber das darf ich nicht. Reine Rechtefrage. Der Text heißt:
Wie ich das Ozonloch stopfte
Irgendwo da oben musste ein großes Ozonloch sein. Ich beschloss, es zu stopfen. Doch ich war wohl wieder mal ganz auf mich allein gestellt: Im neuen Y-Heft fand ich so schnell kein passendes Gimmick, und auf meine alten Freunde Chuck Norris und Bruce Willis musste ich verzichten. Denn die sind nur reine Fiktion und werden selber von richtigen Schauspielern gespielt.
Aber zum Glück hatte ich noch ein paar olle Edeka-Tüten, eine Packung abgelaufener BigBen-Kondome und die Perlmutt-besetzte Badehaube meiner Omma. So eine Erdenrettung muss gut vorbereitet werden.
Deshalb besorgte ich mir beim Praktiker auch noch eine Leiter, ein günstiges Set Inbus-Schlüssel und eine Tüte Gummibärchen. Die Leiter benötigte ich zum Besteigen, die Inbus-Schlüssel waren einfach nur günstig – ich würde sie nie im Leben benötigen. Und Köttbullar gibt es halt nur bei Ikea, und die verstopfen bekannter Maßen alles – nur bei Ozonlöchern machen die irgendwie schlapp.
Oben auf der Leiter tackerte ich erst einmal alle Edeka-Tüten zusammen. Das war gar nicht so leicht wie sich das jetzt wieder so anhört, weil bei diesem Billig-Tacker jede zweite Klammer völlig verbogen herauskam. Ich hatte ihn bei einem Preisausschreiben meiner örtlichen Volksbank gewonnen, doch nun war es zu spät, ihn zu reklamieren. Da ist die Volksbank immer ganz hartkackig.
Bei stumpfen Anspitzern sind die völlig kulant. Aber wenn man den Tacker einmal benutzt hatte, gilt für die das Verursacherprinzip. Und auf einen langwierigen Rechtsstreit wollte ich es diesmal nicht drauf ankommen lassen; meine einstweilige Unterlassungs Klage gegen Volksbank-Luftballons, mit denen man keine Furzgeräusche machen kann, zieht sich jetzt schon 16 Jahre hin.
Und hier oben auf der Leiter lief mir einfach die Zeit weg. Sie krümmte sich sogar bereits, weswegen ich Einstein auch nur eine kurze SMS schickte: „Albert, alter Schweizer, die Achse krümmt sich tatsächlich.“
Die Edeka-Tüten hielten prima. Aber in meiner Euphorie muss ich mich einfach vertackert haben. Über Afrika gingen mir plötzlich die Kondome aus.
Ich versuchte es mit Laminat. Bei den Stammzeiten hatte ich damals höllisch aufgepasst: lamino, laminas, laminat. Aber damit die ganze Sache auch dauerhaft hielt, benutzte ich sicherheitshalber das Futur Eins: Laminabo. Und über der Schweiz den Imperativ; Laminate: Ihr schichtet. Warum? Ich weiß es doch auch nicht. Wenn man auf einer Leiter im Weltall steht, macht man sich als allerletztes Gedanken darüber, ob sich das so souverän gerettete Publikum auch mal mit einer faden Pointe zufrieden geben könnte.
Glücklich, wenn auch ein bisschen geschafft, stieg ich schließlich wieder zur Erde hernieder, wo wir Menschen wohnen. Und da sah ich, dass ich versehentlich den gesamten Mond in ein fluoreszierendes BigBen-Kondom einlaminiert hatte: Jedes Mal wenn der alte Knabe abnahm, wurde auch die terrestrische Schutzhülle kleiner.
Doch das beweist wieder mal nur eins: Kondome sind nicht immer sicher. Und der Mond leuchtet nur, weil die Sex-Industrie die grandiose Idee hatte, erigierte Schwänze in attraktive Selbstleuchter zu verwandeln.

Nicolai Hagedorn: Helden

Es trug sich dereinst eine Geschichte zu, an der insgesamt 3 jugendliche Herren aus der Mittelschicht, einer davon sogar Türke, beteiligt waren.
Sie ergaunerten um ein Haar einen gehörigen Batzen Bargeld. Die Geschichte ist selbstverständlich ganz wahr und beginnt mit Nils, der sich zu jenem Zeitpunkt einerseits für deutlich klüger und gewitzter hielt als den großen Rest der Gleichaltrigen, allerdings bei diesen nicht recht die beanspruchte Anerkennung fand, was ihn zu einem leichten Opfer machte hinsichtlich der Anwerbungsversuche des eigentlichen Ausheckers des ganzen Coups, Chris, ein bereits in der Spätpubertät rund einen Meter neunzig messenden und viel umjubelten Torwart der örtlichen Jugendfussballmannschaft, die sogar einmal gegen Kickers Offenbach gewonnen hatte.
In dem Kleinstadtgymnasium, das sie besuchten, hatten die Herren aufgrund ihres wenig konstruktiven Wirkens längst einen beträchtlich unangenehmen Ruf, insbesondere wegen einiger von ihnen begangener Sachbeschädigungen, sowie mehrerer Hänseleien zu Ungunsten des Klassenstrebers und –zwerges. Einmal, als der kleine Klassenbeste offenbar zum Zwecke der Deeskalation die bösen Herren zu sich nach Hause lud, fesselten diese den Armen mit einem Tau an sein eigenes Bett. Er kam dann aber wieder frei.
Der dritte im Bunde hieß Farit, erwähnungsgemäß Türke, und wurde auf einer Klassenfahrt einmal so heftig in die Wade gebissen, dass er zwei Tage nicht aufhören konnte, über den Biss zu lamentieren und der Übeltäterin (der er zuvor übel mitgespielt hatte) Krankheiten und Unglück an den Hals zu wünschen, immerhin hatte sich diese nunmehr aber einigen Respekt beim ihm erbissen. Farit wurde später, wer weiß auch aufgrund dieser Erfahrung, Kleinstadt-Anwalt.
Nun also verkündete der Hüne Chris den beiden anderen, er habe einen Plan, wie an eine quickliche Summe Geld zu kommen sei, nämlich durch Nutzung einer Sicherheitslücke der Firma Hertie, ein Kaufhaus, das später im Zuge der Kaufhauskrise vom Markt verschwand. Eingeweiht wurden Nils und Farit. Eine junge Dame, die bereits zum dritten Mal die 11. Klasse absolvierte, spielt ebenfalls eine Rolle, da zur Durchführung des Plans eine so genannte Mitarbeiterkarte benötigt wurde und die Frau aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters (20) bereits im Berufsleben stand, als Kassenkraft und Sortier- und Einräumhilfe bei besagtem Hertie nämlich.
Der Trick sollte darin bestehen, mit Hilfe der Mitarbeiterkarte an ein Rabattformular zu gelangen, auf diesem dann vermeintlich getätigte Käufe einzutragen, um später den Mitarbeiterrabatt von 25 Prozent auf den gesamten „Einkauf“ bei der Zentralkasse des Hauses einzustreichen. Als Beleg für einen Kauf genügte die Kassenquittung und so musste man nur durch´s Einkaufsparadies bummeln und nach weggeworfenen Quittungen Ausschau halten, die Werte korrekt ins Formular eintragen und mit Unterschrift (tatsächlich hatten die Herren zu diesem Zweck die Autogramme von Fußballgrößen wie Lothar Matthäus, Uwe Bein oder Franz Beckenbauer nachahmen gelernt) die jeweilige Zeile abschließen.
Nach einem erfolgreichen Probedurchgang – eine Quittung für ein Paar Sportschuhe zu rund einhundert D-Mark brachte die erwünschten 25 Mark – traf man sich tags drauf zum gemeinsamen Kassenzettel sammeln in der Filiale des Einzelhändlers. Schon bald entwickelte die gemeinsame Arbeit eine beträchtliche Dynamik. Man beschloss, sich, sich auf die Abteilungen des Warenhauses zu konzentrieren, in denen vergleichsweise Hochpreisiges, aber gleichzeitig nicht allzu Sperriges zu erwerben war, wie Pelzabteilung, Schmuckabteilung oder Kleinelektronik, wobei sich herausstellte, dass die Käufer tatsächlich Quittungen zu mehreren hundert bis zu zweitausend D-Mark vergessen oder noch in der Filiale weggeworfen hatten, was die Sammler veranlasste, sich den baldigen Reichtum in den wildesten Farben auszumalen. Es wurde von ihnen viel und laut gelacht, man konnte sich kaum einkriegen und befeuerte sich gegenseitig in scherzigen Einlassungen zu folgenden Themen: Blödheit der Quittungenliegenlasser, eigene Genialität (wegen des sich abzeichnenden Coup-Erfolges), bevorstehendes Luxusleben.
Nachdem ausreichend Belege im Formular eingetragen waren, schritt man zum Abschluss des Geschäfts. Zunächst mussten die Quittungen an das Hauptformular geheftet werden, was man leicht durch Diebstahl einiger Heftklammern bewerkstelligte – schließlich befand man sich ja in einem Warenhaus. Zur Abzeichnung der Posten zogen sich die Herren nunmehr auf die Warenhaustoilette zurück, zwängten sich zu dritt in eine Toilettenkabine und setzten die gelernten Unterschriften der Fußballhelden hinter die einzelnen Positionen. „Das waren wir nicht, das waren Uwe Bein und Lothar Matthäus, wie man sieht“, rief Nils, die Situation des Erwischtwerdens parodierend, und löste damit einen erstaunlichen Lachanfall bei sich und den anderen aus. Dermaßen in Rauschstimmung versetzt, schloss man das Werk ab und begab sich zur Zentralkasse des Unternehmens. Auf dem Rabattzettel hatten sich rund 10.000 D-Mark, mithin ein zu erhaltender Rabatt von etwas um 2500 DM angesammelt, den man jetzt einzustreichen gedachte.
Chris übergab das gesammelte Werk einer Schaltermitarbeiterin, die die einzelnen Posten kontrollierte, alles für korrekt befand und den Herren anschließend bekundete, sie wolle kurz ins angeschlossene Büro gehen, um die Auszahlung zu veranlassen. Da verflüssigte sich Farit Richtung Filialausgang, so dass kurz drauf sich nur Chris und Nils umzingelt sahen von Sicherheitsmitarbeitern des Unternehmens, die die beiden Herren als nächstes freundlich darum baten, sie in die Katakomben der Filiale zu begleiten. Eine Bitte, die sie mit sanftem körperlichen Schiebedruck zu untermauern wussten. Wie sich viel später herausstellen sollte, hatte sich unter den abgegebenen Quittungen auch eine Tagesumsatzbilanzrechnung des Vortages befunden. Die wurden täglich nach Betriebsschluss von der Kasse auf Knopfdruck erstellt und dann in der Buchhaltung abgeheftet, an diesem Vortag jedoch hatte die zuständige Kassenkraft den Beleg im Kassenbereich liegen lassen, warum ist unbekannt.
Auf mehrfaches Insistieren, wer denn der dritte im Bunde sei, man habe Überwachungsbilder und derjenige sei ohnehin leicht zu ermitteln, und ein unkooperatives Verhalten verschlechtere die Situation der beiden Gefangenen, verrieten diese dessen Namen.
Sodann folgte man den durchgehend stiernackigen Sicherheitsmännern und wurde zur allgemeinen Überraschung in das mit allerlei Fußballdevotionalien, afrikanischen Souvenirs und Flaggen sowie Fußball-Fanartikeln geschmückten Büro des damaligen Vorsitzenden der so genannten Ghana-Union geführt, einer Organisation, von der gemunkelt wurde, sie bestehe mehr oder minder nur aus einer Person, dem nämlichen Vorsitzenden, und nur zu einem einzigen Zweck, nämlich der Erlangung von Freikarten für die Heimspiele des örtlichen Fußballclubs Eintracht Frankfurt, bei dem damals der ghanaische Nationalspieler Yeboah mitwirkte, dessen berühmtester Fan nämlich der Ghana-Union-Vorsitzende war. Als Musterghanaer und Aushängeschild der Fankultur des Vereins fand er häufig in der Fußballberichterstattung des Fernsehens mit Einblendungen und sogar Interviews Berücksichtigung und aus symbolischen Gründen wurde er von der Club-Geschäftsleitung mit freiem Eintritt bedacht, was er damit dankte, dass er während der Spiele unablässig eine überdimensionierte Ghana-Flagge zu schwingen bereit war – sehr zum Unmut derer, die auf der Tribüne hinter ihm postiert waren.
Nachdem der Vorsitzende, der offensichtlich im Hauptberufe Leiter des Hertie-Sicherheitsdienstes war, den beiden Herren kopfschüttelnd unterbreitet hatte, nunmehr die Polizei rufen zu müssen, da der Betrug ja aufgeflogen war, wies Chris wie abgesprochen darauf hin, dass doch die Unterschriften von Bein, Matthäus und Beckenbauer stammten. „Sie können das direkt überprüfen“, triumphierte der Hüne, fröhlich auf die direkt hinter dem Chefdetektiv an der Bürowand angebrachte Autogrammkartenwand deutend.
„Ha, die sind doch Millionäre“, erwiderte der Sicherheitsmann clever und mit starkem ghanaischen Akzent, „die würden doch nicht wegen so ein paar Mark so eine Arbeit machen!“
Leider ging den beiden Herren nun die Erkenntnis der Ernsthaftigkeit der Situation, in die sie geraten waren, endgültig ab und der Detektiv stimmte bald in die unkontrollierbaren Lachanfälle der beiden ein, zu komisch auch für ihn die Vorstellung, Matthäus, Bein und Beckenbauer könnten einen solchen Coup durchziehen, noch dazu kurz vor der WM. „Matthäus würde sich wie immer verstecken!“, brüllte der Schwarze , „den würden wir wohl kaum kriegen!“ und warf brüllend über diesen anspielungsreichen Witz den Kopf in den Nacken und Chris ergänzte, den „Kaiser“ parodierend: „Ja gut, der Lothar, des is an Weltstar, der lässt hoit auch mal die andern gut ausschaun, ge?“ – „Und Bein“, brüllte Nils, „würde sich nur auf einen Abschnitt in einer Abteilung konzentrieren, alles andere wäre zu viel Laufarbeit.“ – „Ja“, grölte da der Detektiv, „und zwar auf die Kinderabteilung“ – ein Witz, den die beiden Herren nicht verstanden.
Den beiden Polizisten, die bereits einige Sekunden in der Tür zum Detektivbüro gestanden hatten, bot sich ein interessantes Bild. Warum man sie denn genau gerufen habe, fragten sie nun und der Meisterdetektiv erklärte den Beamten strahlend die Sachlage und verabschiedete sich überschwänglich von den beiden Delinquenten, worauf die Herren per Handschelle aneinander gekettet wurden und sich auf die Rückbank des draußen bereitstehenden Streifenfahrzeugs setzen mussten.
Während der Fahrt bemühten sich Chris und Nils, das Prusten einzustellen, allein es gelang ihnen nicht – nicht einmal ein ernster Blick des Beifahrerpolizisten samt der Feststellung, er könne nun wirklich nicht erkennen, was an der Lage für die Herren denn so unglaublich witzig sei, half. Vielmehr brachte Nils nur ein verprustetes „Wir auch nicht, Herr Wachtmeister“ heraus, was zu weiteren Lachsalven seitens der beiden Verbrecher führte. Auf dem Revier wurde man zunächst an einem Heizungsrohr befestigt.
Kurz drauf wurden Nils und Chris in das Hauptkommissar-Büro gerufen und obgleich sich die Betrüger unterdessen stark am Riemen gerissen hatten, war es mit der Beherrschung bei Eintritt in das Büro vorbei, denn auch im Arbeitszimmer des Kommissars waren reichlich Fußball-Devotionalien platziert und Chris vermutete – vor Lachen kaum zu verstehen – man sei wohl in einem obskuren Eintracht-Frankfurt-Albtraum gelandet. Dem braven Polizisten hingegen gelang es mit der These, Dragoslav Stepanovic sei ein ahnungsloser Stümper und trage die Schuld an der verpassten Meisterschaft, die Heiterkeit zu beenden. Stattdessen entbrannte zwischen den dreien nunmehr eine angeregte Diskussion über die Fähigkeiten des Coaches, die nach Ansicht des Ordnungshüters in erster Linie in „Äppelwein saufen“ bestand, während die beiden Kriminellen auf manchen taktischen Kniff des Serben verwiesen und darauf, dass solch geniale Spieler wie Bein, Möller oder Yeboah eben eine lange Leine und einen Äppelwein nach Trainingsende benötigten, was ein autoritärer Charakter wie der Herr Kommissar naturgemäß nicht verstehen könne. Man steckte mitten in einer Debatte über die Personalpolitik, sowie die mangelnde Form des einzigen Liberos im Aufgebot, Manfred Binz, als ein Mann in den Raum trat, die beiden Festgesetzten und den Polizisten begrüßte und sich als Nils´ Vater vorstellte. Er sei gerufen worden, die beiden Verbrecher abzuholen und nach Hause zu geleiten. Was dann auch geschah.
In den folgenden Wochen wurden dann noch allerlei Versuche unternommen, die Herrschaften zu entlasten, sich beim Hausmanagement zu entschuldigen und solches Zeug, das nun eben aufstrebend-bürgerlichen Eltern so einfällt.
Schließlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung, anlässlich derer der Türke nun behauptete, er sei bei dem ganzen Schlamassel überhaupt nicht zugegen gewesen, die anderen Herren hätten seine Tatbeteiligung nur erfunden, da sie Nazis seien. Diese sonderliche Verteidigungsstrategie wurde nun allerdings nicht nur dadurch konterkariert, dass die Kaufhausbediensteten ebenfalls eine dritte Person erinnerten und ebenjene im Türken auch wiedererkannten, sondern sie wurde vom ansonsten wohlwollenden und gut gelaunten Richter als überflüssige Starrsinnigkeit gewertet, so dass der Türke alles sogar mehr soziale Arbeitsstunden als Strafe erhielt als die anderen beiden Herren, was wiederum Nils auf den Plan rief, der Eurem Ehren mitteilte, es verhielte sich aber doch so, dass der Türke tatsächlich von den dreien die geringste Kriminalenergie aufgebracht habe, ja an den Vorbereitungen und Heckereien kaum beteiligt gewesen sei und daher trotz Starrsinn die gegen ihn verhängte höhere Anzahl Sozialarbeitsstunden wiederum nicht so ganz gerechtfertigt sein könne. Worauf der Richter die Sache rund machte und alle drei die gleiche Strafe erhielten.
Womit dann aber auch genug ist mit dem Unsinn.