Angela Aux: Club im Dunst

Der Himmel in Oberhausen war mit Wolken verhangen. Ein paar Vögel schossen über die niedrigen Häuser und verschwanden hinter den Feldern. Es war kurz vor halb vier. Sein Termin würde erst in knapp einer Stunde stattfinden und gegen seine Gewohnheit war er überpünktlich. Diese Abweichung seiner Gewohnheit konnte er sich nicht erklären und vermutete dahinter schicksalshafte Fügung. Aus irgendeinem Grund sollte er früher an der ausgemachten Adresse sein. Es würde sich zeigen warum.
Er ging die Straße hinunter und wunderte sich über die seltsamen Lichtverhältnisse. Es wirkte als würde sich der Tag schon verabschieden. Nichts warf einen Schatten. Alles lag wie unter Plastik verpackt, matt glänzend und seltsam entfernt. Von oben drückten die Wolken auf die Welt. Sogar die Bäume bogen sich leicht unter ihrem Gewicht.
Obwohl er sein Hemd bis zum Brustbein aufgeknöpft war ihm zu heiß. Auf seiner Oberlippe sammelte sich Schweiß / sammelten sich Schweißperlen. Er wischte sie mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Im Augenwinkel sah er eine Frau von ihrem Fenster zurückweichen. Ein Mann auf der anderen Straßenseite betrat den Teer und das Gartentor quietschte hymnisch dazu. Er wurde den Gedanken nicht los, dass man ihn schon jetzt beobachtete. Exakt als dieser Gedanke sich in den unendlichen Schlund seines Unterbewusstseins verabschiedete, grüßte ihn der Mann.
Es war sein erstes Treffen mit Vertretern der Gesellschaft der Universellen Automaten und es passte überhaupt nicht zum Friedensfest, dem Grund seines Aufenthalts in Augsburg-Oberhausen. Gleichzeitig passte es natürlich sehr gut. Frieden war als Prinzip auch für Maschinen essentiell. Genügend Strom und Zugang zu Replikations-Ressourcen zu haben war im Grunde das Pendant zu Essen und medizinischer Versorgung bei Menschen. Er hatte viel über den Club gelesen und war gleichermaßen angezogen und abgestoßen. Dass er sich bereits zu Gesprächen einer Chip-Implantation unterziehen musste, hatte ihn lange davon abgehalten Kontakt aufzunehmen. Aber als er von seiner Krankenkasse ein Angebot zur kostenlosen Chip-Installation für die bessere Überwachung seiner Nieren erhielt, dachte er zuerst an den Club der Automaten. Für sie war also schon Normalität was im Begriff war alle Menschen zu ereilen. Oder zumindest die meisten.
“Herr gib mir eine Arbeit damit ich nicht zu viel über mich nachdenken muss.” dachte er und musste schmunzeln über sich. Dann öffnete sich die Tür. Ein ruhiger Mensch in einer Art Kaftan begrüßte ihn. Während sie durch einen langen dunklen Gang schritten überlegte er ob der Mann silberne Pupillen hatte. Dieses Bild hielt sich hartnäckig vor seinem geistigen Auge. Es war keine besondere Sensation, eher ein Hinweis darauf, dass er einer der Versuchspersonen für integrierte Video-Membranen war. Davon hatte die Computer-Stimme im Vorgespräch beiläufig erzählt. So beiläufig wie Algorithmen eben erzählen können.
Die Implantation lief schnell und angenehm. Eine Stelle am Handgelenk wurde kurz betäubt, dann eine Art Lösung injiziert. Er fühlte die Flüssigkeit kühl in seinen Körper eindringen. Die Haarwurzeln an seinen Oberarmen stellten sich leicht und unmerklich auf. Eine kurze Zeit geschah nichts. Er erinnerte sich an die Drogen-Experimente während seiner Studentenzeit. Unmittelbar nach der Eingabe befand man sich in einem besonderen Zwischenstadium, einem kurzen zeitlichen Korridor. Man saß schon im Zug, die Türen waren geschlossen aber die Abfahrt verzögerte sich noch ein paar Sekunden. Ohne es zu bemerken versank er in diesem Gedanken. Draußen vor dem Fenster hing eine einzelne Wolke am Himmel. Dann stand die Ärztin auf und klopfte sich auf die Oberschenkel, als hätte ihre Arbeit feinen Staub produziert den sie jetzt wieder loswerden müsste.
“Wars das?” hörte er sich erstaunt fragen. “Ja. Oder hätten sie lieber dass wir ihnen eine Platine einsetzen?” Die Ärztin lachte. “Die Chips bestehen aus neutraler Biomasse und verfügen über eine Art Frequenz-Schnittstelle. Sie können das theoretisch nicht spüren, weil sich die Biomasse mit ihrer körpereigenen Zellkultur assimiliert”
“Verstehe. Was meinen sie dann mit “theoretisch nicht spüren”?”
“Ich denke wir wissen und spüren viel mehr als unsere Persönlichkeit wahrnimmt. Aber uns fehlt der Zugriff auf diese Information. Das Ich ist in erster Linie ein Verdrängungs-Modus. Wir sind wer wir sind je nachdem was und wie viel an vorliegender Information wir verdrängen”
“Interessant” sagte ich, hatte aber im Prinzip nichts davon verstanden. Ich machte kleine Augen weil mich das helle Licht schmerzte. Mein Hirn flackerte und die Ohren rauschten wie ein Ozean aus Glasscherben.
Ich konnte mich den ganzen Tag schon nicht wirklich konzentrieren. Jetzt ließ mein Körper mich also auch im Stich. Mein Hemd klebte schwer an der Brust. Die letzte Nacht zeigte immer deutlichere Nachwirkungen. Ich war seit langer Zeit wieder einmal abhanden gekommen. Der gefährliche Kreisel hatte mich verschlungen bevor ich merkte was geschah. So attraktiv die Mischung aus Kiff und Speed ist, so erbärmlich sind die Tage danach. Aber womöglich würde ich ohne diesen Absturz nicht hier sitzen, sondern in einem Reisebüro. Oder bei meinem Bankberater. Selten ein Schaden ohne einen Nutzen dabei sagt man. Zurecht.
Die Ärztin führte mich den dunklen Gang zurück. Zwei Personen schlichen leicht gebückt an uns vorbei. Auf Höhe der Ohren leuchtete ein rötlicher Punkt. Mit ihnen näherte sich auch ein leises Fiepen, das kurz lauter wurde als die beiden mich passierten. Bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, erreichten wir am Ende des Gangs einen Aufzug. Die Ärztin drückte leicht in meine Seite und ich gab nach.
“In welchen Stock fahren wir?” fragte ich und spekulierte darauf ein bisschen mehr Information als nur die Antwort auf meine Frage zu erhalten.
“Das entscheidet das hohe Kommittee. Ich denke aber in den vierten Stock. Sie scheinen keine Abwehrreaktion zu zeigen und verhalten sich ruhig und vernünftig.”
Branner lächelte milde aber hinter seiner Stirn erhob sich ein Orkan. Er hatte gewissermaßen bekommen was er wollte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sein Anfangsverdacht ihn manipulierbar machte. Im Grunde war die Liste seiner Indizien längst ausreichend um sich unter einem Vorwand zu verabschieden. Er würde seine heutigen Erfahrungen noch in der Akte ergänzen und sie an die Cunha übergeben. Für die gefährlichen Parts war seine körperliche Verfassung zu unbeständig.
“Die Entscheidung scheint dem Kommittee nicht so leicht zu fallen wie ich dachte. Vielleicht sollten wir doch die Treppe nehmen.”
Branner sah der Ärztin ernst in die Augen. Nach einigen Momenten wichen ihre Pupille aus. Als sie Branners Augen wieder trafen hingen ihre Mundwinkel leicht vor Scham. Die Ärztin versprühte auf einen Schlag eine kindliche Nervosität die ihr der Privatdetektiv nicht zugetraut hätte. Er musste sich konzentrieren sich davon nicht anstecken zu lassen. Die Ärztin wusste entweder viel weniger als er noch vor ein paar Sekunden vermutet hatte. Oder sie war eine außergewöhnlich gute Schauspielerin.
“Es tut mir leid aber ich denke dafür bin ich heute schon zu müde. Ich würde lieber gerne wieder ins Erdgeschoss fahren und…” In diesem Moment schloss die Aufzugtür. Branner ließ den Satz halbfertig im Raum stehen. Er hatte Mühe nicht zu schmunzeln. Er war noch nie gut darin Situationen zu entschärfen, aber schon immer ein sehr guter Brandbeschleuniger für alle Arten von menschlichen Empfindungen. Ein umsichtiger Freund nannte ihn scherzhaft “den Auto-Polarisierer”. Wohlwissend dass er die Wahrheit hinter der flapsigen Formulierung zuweilen selbst zu spüren bekam. Mitunter vermochte Branner Menschen mit wenigen Worten in todesangst-ähnliche Zustände zu versetzen. Andere katapultierte er ähnlich schnell in Rage: Lehrer, Polizisten und Controller waren ihm grundsätzlich nicht geheuer. Aber er verstand sie gut genug um ihre emotionale Klaviatur zu spielen. Leider nur in eine Richtung.
“Geduld ist bitter aber ihre Früchte sind süß.” höre ich jemanden sagen aber weiß nicht woher die Stimme kommt. Meine Arme hängen vom Körper in die Dunkelheit. In der Luft liegt ein seltsamer Geruch. Jemand räuspert sich.
“Herr Branner… was glauben sie, wo haben wir uns das letzte Mal gesehen?” Branners Hirn durchzuckt eine Welle aus schauriger Ekstase. Diese Stimme ist ihm bestens bekannt. Warum genau weiß er noch nicht.
“Ich denke in Frankfurt” antwortet Branner um Zeit zu gewinnen. Er hat so lange in Frankfurt gearbeitet, da ist die Wahrscheinlichkeit hoch dass man sich in dieser Stadt mal begegnet ist.
“Bingo Branner. Warum stecken sie ihre Nase immer in Sachen die sie nicht verstehen?”
“Schwer zu sagen. Aus Versehen?” “Vielleicht. Oder sie haben zu viele billige Detektivromane gelesen”. Die Stimme wird energischer. Branner hat das Gefühl sich zu bewegen ohne selbst dafür verantwortlich zu sein. Er fühlt sich immer senkrechter und überlegt was das bedeuten könnte.
“Wie zur Hölle konnten sie eigentlich so blöd sein sich diesen Chip implantieren zu lassen? Was dümmeres hab ich echt seit langem nicht gehört! Ist ihnen klar was das bedeutet?”
“Ehrlicherweise nicht. Aber ich hatte lange genug Angst vor diesem ganzen Mist… ich wollte einfach mal drauf zugehen. Einfach eine Art Innenansicht bekommen, einfach ausprobieren.”
Wenn er sich so reden hörte konnte Branner selbst nicht fassen was er getan hatte. War er wirklich ins Haus dieser Robocop-Sekte spaziert und hatte sich irgendetwas implantieren lassen von dem er nicht mal wusste was es war? Was hatte die Ärztin gesagt welches Material sie ihm injizierte? Und wie hieß sie eigentlich noch mal? “Naja sie können jedenfalls froh sein, dass wir endlich eine Kopie ihres Bewusstseins sichern konnten. Die Server-Matrix der Universellen Automaten ist so etwas wie die chinesische Mauer auf Datenbasis.” Branner hatte das Gefühl mit den Wimpern zu zucken. “Das klingt ja mächtig futuristisch. Sie wollen damit sagen ich bin eine Kopie von mir selbst?”
“Sie denken und kommunizieren auf der Basis einer Kopie ihres Bewusstseins. Aber wir wissen nicht wann sie das letzte Mal gespeichert wurden. Möglich, dass sie ein altes Update von sich selbst sind.”
“Wie alt bin ich denn ihrer Meinung nach?” “Naja. Allein das hochfahren hat eine Woche gedauert.” “Verstehe. Sie wollen mir also weiß machen, dass ich verschwunden bin und sie dann eine Kopie meines Bewusstseins aus irgendeiner Datenbank kopiert haben. Und diese Kopie haben sie jetzt irgendwie zum laufen gebracht und seitdem denke ich, dass ich ich bin.
“Korrekt. Ihr Körper ist immer noch verschollen. So richtig viel Hoffnung kann ich ihnen da auch nicht machen. Der einzige Grund warum wir miteinander sprechen können ist, weil das Institut für Inneres herausfinden möchte ob sie Kontakt zu ihrem Stammbewusstsein entwickeln können. Dafür ist meine Abteilung zuständig.”
“Wie heißt ihre Abteilung denn?” “CX3” “Verstehe. Und wie lange soll das ganze dauern?” Branner wunderte sich selbst über die Frage. Der ominöse Gegenüber hatte darauf keine schnelle Antwort. Um Zeit zu gewinnen legte Branner gleich noch eine Frage nach.
“Wie lang liegt mein Verschwinden denn zurück?” “Das Verschwinden ihres Stamm-Körpers ist meines Wissens auf den fünften August 2018 datiert. Heute haben wir den vierten September 2037 nach alter Zeitrechnung. Nach meinem Kalender leben wir im Jahre Vier nach der Singularität.”
In Branner flammte Interesse auf. Diese Geschichte war so absurd, dass er sie nicht ernst nehmen konnte. Auch wenn er selbst offensichtlich im Zentrum dieser Absurdität stand. Er spürte keine Emotionen, obwohl ihm jeder Satz eine halbe Welt unter den Füßen ins Nichts riss. Offensichtlich war die Welt aus der er kam untergegangen. Inklusive der Zeitrechnung an sich. Er fand aber nicht unspannend, dass diese neue Zeit offensichtlich nicht mehr auf einen Religionsstifter, sondern auf eine bahnbrechende technologische Entwicklung zurückzuführen war. Beim Gedanken an die Macht dieser Bewegung, die offensichtlich die Vorherrschaft der Religion besiegte zuckte eine Augenbraue. Zumindest fühlte es sich so an.
“Ich muss zugeben, dass ich ihre Geschichte sehr spannend finde. Was ich aber fast am spannendsten finde ist, dass ich ihnen aus irgendeinem Grund vertraue. Bei welcher Gelegenheit haben wir uns denn damals in Frankfurt getroffen?”
“Wir haben uns nie in Frankfurt getroffen. Aber ich kommuniziere mit der Stimme ihres Großvaters.”
“Ist das ihr Ernst?” “Herr Branner, ein Bewusstsein ist keine Blackbox. Wir können auf alles zugreifen was sie jemals sahen oder hörten oder waren oder glaubten zu sein. Aber die wirklichen Schätze liegen noch verborgen. Sie liegen in der Art wie ihr Bewusstsein Daten ausblendet. Im Grunde bestehen sie eher aus der Information die sie verdrängen als aus der Information die sie aufnehmen.”
Mir ist eindeutig die Abenteuerlust vergangen. Ein trostloseres Szenario kann ich mir schwer vorstellen. Ich fühle mich wie diese Person in 1984, deren Gesicht mit dem Rattenkäfig verbunden ist. Mit dem Unterschied, dass die Ratten schon in meinem Kopf sind und meine Erinnerungen fressen.
“Herr gib mir eine Arbeit, damit ich nicht so viel über mich nachdenken muss” spricht eine Stimme in mir und ich lausche. Irgendetwas bewegt der Satz aber ich kann nicht genau sagen was.
“Kennen sie diese Stimme Branner?” “Natürlich, es ist meine eigene oder?”
Die Stimme schweigt. Branner schließt die Augen. Vor ihm erscheint eine Art Bildschirm. Auf dem Bildschirm sieht man Branner in der Tür des Clubs der Universellen Automaten stehen. Er zündet sich eine Zigarette an und spricht leise mit sich selbst.
“Frieden” sagt er “ist keine Sache einer Gruppe von Menschen. Von Frieden kann man nur sprechen, wenn er die gesamte menschliche Zivilisation betrifft. Er ist ein intersoziales System das sich als solches andauernd weiter entwickeln muss. Eine Utopie die immerfort übersetzt werden muss. In alle Zeiten und Denkarten. Es gibt keine zeitlich abgeschlossene Form davon. Frieden gibt es nur als Prozess.”
Eine zweite Person erscheint neben Branner. Es ist die Ärztin. “Ich kann ihnen nicht widersprechen Herr Branner. Ich denke aber die Sprache der Mathematik durchzieht die physische Existenz klarer und exakter als die Kommunikation mit Wörtern. In gewisser Weise ist sie die nächste Dimension. Sie ist der Ort an den alles wandern wird und… was nicht in der Lage ist zu wandern, wird zurück bleiben müssen.”
Die Ärztin verbeugt sich leicht und verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera. Branner blickt nach oben, vorbei an der verborgenen Kamera. In seinem Kopf herrscht plötzlich eine seltsame Art von Klarheit, als hätte ihm das Gespräch mit der Ärztin seine Gedanken gewaschen. Er zittert leicht und kann sich nicht erklären weshalb. Tief in ihm bewegt sich ein Gedanke, erhebt sich ein Satz, eine monumentale Botschaft.
“Du hattest zeitlebens nur vor zwei Dingen Angst Branner: Vor Gott und vor der Mathematik. Vielleicht ist die eine Sache aber nur die Rückseite der anderen.”
Es beginnt zu regnen. Man sieht Branner noch einen Moment unter der Schwere dieser Erkenntnis stehen. Dann spuckt er in die Hecke neben der Tür und geht seines Wegs durch den Dunst.


 

Erzähler/Branner: Lukas Ullinger
Singularität/Großvater: Karlheinz Zuber
Ärztin: Mena Standhaft

Regie & Schnitt: Lukas Münich

Musik: Lauki – Gea

Immanuel Reinschlüssel: Stundendiebe

Wir können beide nicht alleine sein, haben es versucht.
Aber wir haben zu viele Messer in der Schublade, um uns etwas kochen zu können, haben zu viele Flaschen im Kühlschrank, um Musik zu hören, haben einen Föhn zu viel, um ein Bad zu nehmen und einen zu großen Berg an Tabletten angesammelt, um uns ins Bett zu legen.
Doch wir können auch nicht unter Menschen, weil uns jedes Wort weh tut, wir unsere Kiefer zu jeder Silbe zwingen müssen, um am Ende doch vor dem Nichts eines Gesprächs zu stehen, das wir so schon viel zu oft geführt haben – mit unterschiedlichen Menschen oder mit denselben, wer weiß das schon?
Und deswegen haben wir uns gesucht, stapfen durch den knisternden Schnee und genießen die Geräusche, die er nicht mehr gehen lässt und in sich aufsaugt wie ein gieriger Säugling. Wir müssen gehen, immer weiter gehen, von Bank zu Bank, von Zigarette zu Zigarette, von Bar zu Bar durch die Nacht, die unser einziger Verbündeter ist und manchmal doch unsere größte Sorge.
„Ich habe verlernt, alleine zu sein“, du sprichst aus, was wir beide denken und ich antworte dir nicht, weil es keine Antwort gibt und diese die einzig Richtige ist.
„Ich konnte das mal wirklich gut, stunden- und tagelang, einfach alleine sein.“ Und auch darauf bleibe ich stumm und spüre an deinem gleichmäßigen Atem neben mir und den wintertanzenden Rauchwolken, die sich zwischen uns vereinen, dass du Nichts anderes erwartet hast.
Die nächste Bar, der nächste Tresen, ein eingespieltes Team, obwohl wir keine Übung haben, keine Generalprobe abhielten, keine gemeinsame Vergangenheit in diesen Dingen des Lebens kannten. Doch wir sind eine Einheit, bestellen routiniert wie ein Zwillingspaar die Drinks, die uns näher an den Morgen bringen, die uns dem nächsten Tag einen Schritt entgegenstoßen, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Wodka, braune Flaschen, eine Gurke in deinem Gin-Tonic, für einen Moment treffen sich unsere Gläser, für einen Herzschlag unsere Augen, für eine Nacht pulsieren unsere Herzen in perfekter Harmonie, ohne von sich zu lassen, ohne von sich lassen zu können, weil die Loslösung das Ende bedeutete.
Blicke ruhen auf unseren Schultern, die meisten auf deinen schmalen, weißen, die eindringlichsten auf meinen, von der südlichen Sonne eines fremden Kontinents braungetränkten Schultern und wir spüren ihre Fragen auf unserer Haut, hören ihre unausgesprochene Sehnsucht in unseren Ohren, fühlen ihr Verlangen auf unseren Seelen, die viel zu alt sind für unsere jungen Körper.
„Wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Frauen einen Schritt näher kommen und sich doch nicht trauen, etwas zu sagen.“ Deine Worte zaubern ein Lächeln auf meine Lippen.
„Und wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Männer über dich herfallen wie die Schakale und doch wissen, dass ihr Krieg bereits verloren ist.“
„Dann müssen wir wohl zusammen bleiben, bis die Sonne uns trennt.“ Einer dieser Sätze, für die man dich küssen müsste.
Doch ich küsse dich nicht, werde es nie tun und du wirst es nie tun, eine unsichtbare Barriere – von  der Vergangenheit gezogen und unserer letzten Hoffnung auf die Zukunft konserviert.
Ihre Blicke schieben uns zurück auf die Straße, ein Griff in die Tasche, zwei Zigaretten und ein Feuerzeug, ich lege beide in meinen Mundwinkel und zünde sie zeitgleich an, reiche eine an dich weiter – auch ein neu entdecktes Ritual, so selbstverständlich wie das Atmen und einst auch die Liebe, bevor wir ihr den Rücken zuwandten, jeder auf seine eigene Weise. Der Dezember dringt durch unsere Reißverschlüsse, möchte unsere Haut erreichen, doch wir verscheuchen ihn mit unserem Rauch, blasen ihm unsere Verachtung entgegen, eine Verachtung, die ihm und jedem anderen Monat und jedem anderen Jahr gilt, das noch kommen mag. Zwei Zigaretten lösen sich von zwei Händen, segeln glitzernd durch die Dunkelheit wie ein Neujahrsfeuerwerk, schlagen auf dem Asphalt auf wie Meteoriten und zerstäuben doch mit einem kaum wahrnehmbaren Zischen und nicht dem Knall, den sie verdient hätten.
Ein neuer Tresen, neue Menschen, manche altbekannt, manche fremd wie die Sahara. Sie umringen uns, sprechen plötzlich auf uns ein und wir umarmen sie, trinken mit ihnen, lachen mit ihnen – und doch merken sie nicht, dass wir zu laut sind, zu lustig, zu schnell, in einem eigenen Tempo leben, uns einen Kokon teilen, in dem nur wir Platz haben und der mit dem ersten Sonnenstrahl platzen wird wie eine Seifenblase.
Doch bevor wir zurück müssen in unsere beendeten Leben werden wir rauchen, werden wir trinken, werden wir uns in den Armen liegen und die Gedanken des anderen aussprechen, werden wir tanzen als wäre es die letzte Nacht auf Erden, werden wir uns gegenseitig die Burger-Soße von den Wangen streichen, werden wir uns in der U-Bahn aneinander kuscheln und uns nicht mehr trennen wollen, im Wunsch vereint für immer auf den Plastiksitzen durch den dunklen Tunnel zu brausen.
Und doch wir trennen uns irgendwann, müssen uns trennen, müssen die Seifenblase zum Platzen bringen, müssen zurück in unsere getrennten Leben.
Aber bis dahin kämpfen wir ein letztes Mal, auch wenn wir verlieren.
Und wer weiß, vielleicht sind wir genau dafür geboren.


 

SprecherInnen:
Lukas Münich, Selina Früchtl

Christine Wiesel: Auflösung in der Nacht

Kontaktlos verbringen wir die Zeit
Raum bleibt molekularlos
Galaktische Körper schwirren umher.
Blockaden im Kopf
das Herz im Asphalt
wird wortlos umverteilt


Sprecherin: Selina Früchtl

Lisa Neher: Life is a rollercoaster

In der Popmusik der Neuzeit werden Leben und Liebe oft mit Abenteuerspielplatz verglichen. Schon Ronan Keating wusste: „Life is a Rollercoaster you just gotta ride it.“ Oder Kimya Dawson singt: „My Rollercoaster’s got the biggest ups and downs – as long as we keep moving it is unbelievable“. Sie sind allgegenwärtig, die Ups, die Downs – aber manchmal fühlt sich das ganze weniger wie eine gaudigen Achterbahn an, sondern vielmehr nach „Riding Solo“. Nach schäbigem Geräteturnen. Betrachten wir als Beispiel mal eine Wippe. Schon mal jemanden beobachtet, der einsam auf einem dieser frustrierenden, nach Zweisamkeit schreienden Pärchengeräten saß? Lächerlich, wie das aussieht. Hilflos. Man könnte auch denken: Er oder sie will nur da sitzen. Die Wippe zweckentfremden, blockieren, damit kein Team der Welt dort Spaß haben kann. Ich stelle mir vor, auf so einem Spielplatz zu sein und beobachte mich selbst, wie ich auf dieser Wippe sitze – allein – und mal jammere, mal ganz zufrieden aussehe.
Das denke ich, wenn ich jammere: Toll, niemand ist da, der mit mir spielen will. Oder niemand ist da, mit dem ich spielen kann. Vorhin hat zwar Martin aus der 5a gefragt, aber der hat ein gebrochenes Bein, wie soll denn der wippen können? Ist doch viel zu gefährlich, soll er in drei Wochen wieder kommen, wenn sein juckender, stinkender Gips weg ist, er ihn sorgfältig in einen gläsernen Schrein verstaut hat und wenn man 50 Cent in ein Kästchen wirft, geht das Licht an. Dann sieht man all die Unterschriften darauf, die ihn bis an sein Lebtagsende daran erinnern werden, wie beliebt er in seiner Jugend war, so überhaupt nicht allein und Get Well Soon und HDL.
Das denke ich, wenn ich zufrieden aussehe: Ist das nicht schön, draußen in der Natur, die Gänseblümchen, die meine nackten Zehen kitzeln hahaha, die Sonne scheint und oh da fliegt eine Hummel, die erste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt). Fliegt viel zu schwer für die Luft, die sie trägt, viel zu schwer, so wie ich für dieses Spielzeug auf dem ich sitze aber das macht mir gar nichts aus, denn das Milcheis in meiner Hand – das zwanzigste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt) ist köstlich und eins will ich sowieso nicht und zwar: Wippen.
Denn vorausgesetzt da käme jetzt jemand an, ein Freund vielleicht und mit dem wippt man dann so durch die Gegend: Dieses ständige Aufschlagen auf verformtem Kautschuk – meist einem ausrangierten Autoreifen – der an der Unterseite des Wippensitzes befestigt ist, um die Stöße abzufedern. Autsch. Man spürt jeden einzelnen Aufprall in der Wirbelsäule. Die waren auch nie das, was sie mal hätten sein sollen, die Reifen. Früher war alles besser, als sie noch zu einem Auto gehörten, als Quartett an einer Karosserie und nicht einsam und halb im Boden versunken. Sie sind verantwortlich für den Schmerz, der mir vom Steißbein hoch bis ins Genick schießt, während mein Gesäß hart ummantelt wird von einer verkrusteten, ausgeblichenen roten Plastikschüssel, die obendrein noch viel zu klein ist für meinen weißen Milcheisarsch. Aber ich hätte jemanden zum Spielen.
Aber was, wenns doch kein Freund ist, der da kommt? Ich erzähle euch was dann passiert: An einem dieser Sommersonnennachmittage, an denen man sich versehentlich mit einem „gemeinen“ Kind eingelassen hat. Nichtsahnend und voller Vertrauen – nur das gemeine Kind, die Gravitation und ich – wippen wir so, dass unsere Sorgen gen Himmel katapultiert werden und STOPP Mitten in der Luft bleibe ich stehen. Werde stehen gelassen. „Haha!“ schreit das gemeine Kind. Es hat sich mit der Schwerkraft verbündet. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Mit der Gummikappe seiner schmutzigen Converse-Sneakers hat es sich unter dem Gummireifen festgekrallt. Gummi zu Gummi, Staub zu Staub. Ich hänge in eineinhalb Metern Höhe und bin auf erstaunlich freie Art gefangen. Wer braucht schon Boden unter den Füßen? Ich kann die Welt von oben sehen und werde das noch eine ganze Weile können, denn gemeine Kinder sind geduldige Kinder. Ich hab jemanden
zum Spielen.
You’ve really got me flying tonight You almost got us punched in a fight But, baby you know The one thing I gotta know
We found love So don’t fight it Life is a rollercoaster Just gotta ride it

Felix Benjamin: Filme

In der vierten Klasse dreht sich alles nur noch um den Übertritt aufs Gümminasium. Mama sagt: „Mein Kind geht nicht auf die Hauptschule!“
Was passiert, wenn ich es nicht aufs Gümminasium schaffe?! Bin ich dann nicht mehr ihr Kind?! Das frag ich mich nachts im Bett, lieg deshalb lange wach und komme in der Schule noch schlechter mit.
Mama bringt mich jede Woche zur Frau Göllner. Das ist eine komische Frau, die will, dass ich meine Familienmitglieder als Tiere male und sich dazu Notizen macht.
Ich gehe trotzdem gern zu ihr, weil sie einen Abreißkalender hat, wo jeden Tag ein anderes Filmfoto drauf ist und auf der Rückseite immer eine Inhaltsangabe vom Film steht. 365 Blätter voll Action und Abenteuer. In diesem Kalender darf ich jede Woche schmökern.
Aber vorher muss ich mich immer eine Ewigkeit auf eine Matratze legen und die Augen zumachen. Frau Göllner sagt ständig: „Deine Arme werden schwer, ganz schwer…Deine Beine werden schwer, ganz schwer“ und so weiter.
Niemals, während ich da so liege, wird irgendwas schwer. Nur das Warten darauf, mir wieder den Kalender schnappen zu dürfen, ist schwer.
Ich liege mit geschlossenen Augen rum und male mir all die tollen Filme aus, die in dem Kalender drin sind, und all die noch tolleren Filme, die ich machen will, wenn ich groß bin.
Endlich darf ich die Augen wieder aufmachen, zu Frau Göllners Schreibtisch gehen und mir den Kalender anschauen, bis ich ihn schweren Herzens aus der Hand geben muss, weil Mama mich abholen kommt. Jede Woche das Gleiche.
In der letzten Sitzung schenkt mir Frau Göllner den Kalender. Den kenne ich zwar mittlerweile längst auswendig, nehme ihn mir aber jeden Abend zur Hand, wenn Mama aus meinem Zimmer geht und sagt, dass ich noch Autogenes Training machen soll. Ich wüsste ja jetzt, wie`s geht.
Mein Schlaf ist weiterhin scheiße, aber letztlich schaffe ich es aufs Gümminasium und darf Mamas Kind bleiben.

Ruben Trawally: Salat

Scheppernd flogen die Fensterläden des kleinen Nürnberger Bungalows, der Wind blies feurige Flöten, als bei dem Sturm auch noch die Familienkutsche abhob und krächzend auf Nachbars Trampolin landete.
Geläufig war einem dies Getöse ja nicht, und geheuer ebensowenig. Was für ein Spektakel – zumindest aus dem Wintergarten.
Am nächsten Morgen konnte sich die Nachbarschaft ein Wunder hoffen, denn sämtliche Wege waren aus Salat.
Es hat in der Nacht eben gestürmt und die Kohlfelder zuerst auf den Windpark, dann in den Hühnerhof, dann übers Möhrenfeld und dann noch etwa 3 Stunden in den Kreisverkehr geweht, womit sich ein durchaus angenehm duftender Teppich aus knackig triefendem Gemüsebrei auf dem Asphalt niederlegte.
Einen Tag später gingen die Schipparbeiten immer zäher voran, da viele Nagetiere aus allen Ländern sich zu kleinen Gangs zusammenrotteten und die Spatenstiele systematisch zerlegten. Andere Viecher suhlten sich in der gärenden Brühe die in den Niederungen der Stadt vor sich hin blubberte. Doch intensiver Sonnenschein wärmte die Sandsteinfassaden so gut an, womit sich ein Krautbierlikör zu entwickeln begann, welcher über die vielen Freiflächen natürlich gefiltert ins Grundwasser gelangen konnte.
Etwa 30 verschiedene Quellen kennt man nun im Reichswald, wo noch immer Krautbierwasser gezapft werden kann, da bei jedem Regen das Wasser, welches die Kohlköpfe benetzt, wieder frischen Geschmack mit in die Tiefen der natürlichen Krautbiersalatquelle nimmt.
Gemahlen zu einem Puder kann die Erde nun ins Müsli gemischt werden, um so auch einen Beitrag zur morgendlichen Fitness zu leisten. Sollten sie jedoch eher auf passive Fitness stehen, kann man genauso Kohl auf der Krautbierwassererde anbauen, welcher dann alkoholisch wird, doppelt so stark nach Kohl riecht, halb so stark danach schmeckt, doppelt so viele Kalorien hat, weniger kostet, besser aussieht und keine Nachteile hat.
Unsere Nachbarn (ich nenne keine genauen Namen) erquicken sich gerne an dem alkoholischen Saft der Erde, wieso nicht auch der Rest der Welt?
Bei einem richtig guten Salat, ist doch der Sud am Ende das Beste!
Salat gehört zu den gesündesten Errungenschaften der menschlichen Kultur, neben Joggen und Yoga.
Die Natur hat nicht immer nur Böses im Sinn wenn sie es Regnen lässt, sie will uns damit nur etwas Freude zurückgeben, die sie uns im gleichen Moment wieder nimmt.

Tibor Baumann: Volition – brennt hinter dem Rubikon

Er sagte: „nun“ Es gibt keine Entschuldigung. Ich erinnere mich gut, plastisch. Die Sonderausgabe wog schwer, limitiert, Fadenbindung. Es ist nur ein Schritt über den Fluss ohne Wiederkehr.
Wussten Sie: Es wird ein System entwickelt, um Autoren pro angefangener Seite zu bezahlen. Flatratelesen. Spannung ist die Motivation. Wie oft ein Spannungsmoment aufgebaut werden muss, wie viele Zeichen es braucht, bis der nächste Coitus Interruptus stattfinden muss, errechenbar. Dann schreibt man nur mit Ziel; Volition, klar so weit?
Mir war das nicht klar. Es tut mir so leid. Ich hatte schon immer Angst, dass ich einfach so – eines Tages – versuche sanft umzublättern, ein mir ganz kostbares, geliebtes Buch, eine Sonderausgabe; und ich bekomme einfach die Seite nicht zu fassen. Es geht einfach nicht. Und dann stehe ich auf, ganz ruhig. Stelle das Buch an seinen Platz, gehe hinaus – und zünde das Haus an.
Wussten Sie: zu verfassen kann sich an keinen Zweck binden außer der Tat. Klar soweit? Es ist nur ein Weg – nur Motivation; nie Volitation!
Und er…er sagte „nun“. Eine Phrase. Weniger! Eine Hülse; nur noch Betonung.
Ereignisse geschehen immer, wenn man sie liest. Aber verfasst man sie, ist es eine Tat: Ich hätte das nicht tun dürfen. „Nun“ – eine kalte Nadel durch weiche Membran. Mein Schritt über den Fluss.
Wussten Sie: für mein erstes Manuskript, haben sie mir angeboten, es zu beobachten. Das wilde Tier. Frei verfügbar auf einer Literaturplattform. Klar soweit? Klickklickklick – klickt es oft, dann ist es gut. Vielleicht druckwert. Neoliberalliteratur.
Er sagte „nun“ – und es klang beinahe antiquiert. Umblättern, zivilisiert, mit Ziel, kontrolliert: Das entglitt mir. Nur für einen kurzen Moment. Ich fühlte mich, als würde ich ganz plötzlich, ganz schnell meinen Kopf schütteln; so schnell, das ich nur noch ein Farbklecks bin – ohne, dass ich damit begonnen hätte. Ohne Anfang. Nur die Tat. Nur im Verfassen. Nur verfassen und suchen. Nur erfassen und die Ungreifbarkeit des Moments akzeptieren. Die Seite loslassen. Den Fluss ohne Umkehr übertreten.
Ich habe den Entwurf erklärt und er sagte: „Das klingt ja alles sehr spannend – wer ist denn nun die Zielgruppe?“
Ich habe das Buch genommen, bin zu ihm hinter den Schreibtisch – und habe ihm die Sonderausgabe so lange ins Gesicht geschlagen, bis die Treffer klangen wie Schritte im Matsch am Flussufer.
Es hat gebrannt und ich habe kein Wasser geschöpft um zu löschen.

Anja Gmeinwieser: Die Welt

In den Killerwalen sammelt sich die Welt. Ich meine das wörtlich, alles, alles was ist auf der Erde endet letztlich im Inneren eines Killerwales. Also, wirklich alles. Sie sind „Spitzenräuber“, ganz oben in der Nahrungspyramide, in der weltweiten Fressordnung, sie fressen Fische, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die Plankton und/oder Pflanzen fressen. Und wahrscheinlich fressen die Killerwale selbst auch ihrem Fressen das Fressen weg, fressen also auch selbst Plankton und die Fische, die Plankton fressen und die Fische, die diese Fische fressen, und die Fische, die diese Fische fressen und so weiter. In Killerwalen sammelt sich, ich sage das nochmal, ich sage das wiederholt, ich unterstreiche das: die Welt.
Deshalb können Killerwale sich nicht mehr fortpflanzen, weniger wegen dem Plankton oder den Fischen, sondern wegen den Giften in dem Plankton und in den Fischen, Dioxin, Weichmacher, Glyphosat, Erdöl.
Um über den Zustand der Welt im Bilde zu sein, blicken Sie mit mir in einen Killerwal, soeben gestrandet, unwiederbringlich, er ist von uns Menschen umringt, die es wissen, und er weiß es selbst. Ich gebe dem Wal einen letzten Kuss auf seine fischige Nasenfläche.
Er blickt uns mit traurig halbtoten Augen an, es sind ja auch halblebendige Augen, dies zur Steigerung der Laune, die angesichts sterbender Wale oft ins Melancholische driftet.
Skalpell!
Tupfer!
Nein im Ernst:
Kettensäge!
Der Bauch des Wales öffnet sich und wir blicken und finden: Klar, Blut, klar, Organe, klar, Magen, Leber, Milz, wie bei uns, nur größer. Und auch klar, darauf haben wir uns eingestellt, wegen der Nachrufe auf gestrandete Wale in den Medien: Wir finden, Plastikplanen, klar, Autoreifen, klar, Surfbretter, klar, Bagger, klar, Abrissbirnen, klar, Bügelbretter, klar, Kräne, klar.  CO2, klar, Angsthormone, klar, alte Geldscheine, klar, Gliedmaßen unserer Artgenossen, klar.
Und jetzt – q.e.d. – auch den Rest der Welt: Winzige Zeichen von – man könnte fast sagen, „Hoffnung“, aber das wäre so pathetisch wie übertrieben – also winzige Zeichen von Intaktheit, eine Flaschenpost,  die die Liebe zur Welt in verschwommener Tinte in den Wal hineingespült hat, eine Waldlichtung, mit Tautropfen im Gras und Himbeeren an ihrem Rand und tatsächlichem Wald außenherum, ein Bienenschwarm auch und natürlich ein Imker, und hier und da Neugründungen bisher unbekannter Ökosysteme, außerhalb eines Killerwales so nicht vorstellbar, Symbiosen aus Bobbycars, Rankgewächsen und Dachsen und insgesamt ganz neue Lebensformen, bisschen wie Axolotl, aber eben keine Axolotl, genau so, aber anders.
Steht und schaut und staunt.
Und ihr werdet denken, wir werden einen Gedanken denken, einen Kollektivgedanken, und er wird sein: Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefischt wurde, dann gibt es im inneren des letzten Killerwales immer noch den allerletzten Baum, den allerletzten Fluss und den allerletzten Fisch. Und erst, wenn der letzte Killerwal unfortgepflanzt versiecht ist, erst dann werden wir merken, dass die Welt kein Abflussrohr hat.
Vielleicht.
Das dauert aber noch.
Bestimmt bis 2050.
Mindestens.
Und Killerwale sind jetzt auch nicht so gut erforscht.
Nee.
Da geht was, da geht schon noch was.

Frau Lärm: Ihr sagt

Ihr sagt,
das ist doch ganz einfach.
Die schaffen es nicht,
weil sie persönliche Probleme haben.
Da muss man einfach an sich arbeiten.
Alle haben schließlich die gleichen Chancen.
Die Plattformen sind da.
Die versuchen es nur nicht genug,
haben kein Herzblut investiert.
Es wäre schön, wenn das selbstverständlich wäre
und wir darüber nicht reden müssten.
Ihr sagt das,
weil euch nie Steine in den Weg gelegt worden sind,
weil ihr alle Privilegien, alle Unterstützung und
alle Macht habt, diese zu behalten.
Weil ihr nicht in andere Schuhe schlüpfen könnt.
Oder warum?

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen V – Der Kloß

Oh, güldengelbe Seele vom Potack,
aus Bulwens Leib geborenes Gezier,
von Erdenäpfeln bestgeratner Erb,
Die Götter lachten und es strahlte schier
der Himmel, als Bramburo dich gebar.
Schneeweiß liegst du auf unsern Tellern hier
wie Alabaster oder Marmor gleich.
Oh, feisteste der Speisen, sieh dich an!
Gibt es ein Ding auf Koches weiter Flur,
das Rundungen so reizvoll hat wie du?
Wie Meißners Porzellan, so schön und pur
liegst du wie Aphrodite in der Schal.
Noch nicht wie sie, oh unschenante Hur,
gehst schwanger du, mit Brot in deinem Leib.
Wir blicken deine Rundung an und nur
der Anstand hält uns fern, dass gierig wir
dich händisch in den Schlund uns stopfen rein.
Derweil saust uns das Blut aus Kopf und Hirn
und kindlich-reine Freude ins Gebein.
Du brandest unsre darbend Kehlen an,
die Lippen kräuseln sanft sich um das Dein.
Die Zunge, sorgenschwer benetzt dich gut,
der Zahn dringt ohn Erbarmen in dich ein
der eisge Speichel netzt dein weißes Fleisch.
Die Speiseröhr, die derbe, drückt dich klein.
Du wartest bis man Zutritt dir gewährt,
gemessnen Schrittes gehst du alls hinein.
Der Magen schließlich haucht dein Leben aus.
Du lässt es tapfer, ohne Kummer, zu
und schenkst dich her, du selbstlos nobler Schmaus.
Dein Opferwill bald größer als sichs ziemt:
„Oh, Heiland!“, rief so mancher schwärmend aus,
weil Leben und Erquickung du ihm gabst.
Augapf der Götter, schön bist du und gut.
Du schützest uns vor Pommesfritzens Harm.
Schon Omas von gebrechlichstem Gebein,
dich bargen unter ihrem weichen Arm.
Wes Vater mahnte nicht vor Schmerz durch Reis?
Wes Mutter schlug bei Nudeln nicht Alarm?
Oh, Kloß, du lieber, sakrosankter Glob,
Wir danken dir.
Vom Teller bis zum Darm.