Natalia Breininger: Staubflusen

Clara, Pierre und Elvis sitzen in einer Wohnung. Leere. Staubflusen. Auszugsblicke und Licht.

Clara (fern): Hier sind wir gewesen.
Pierre: Wo werden wir sein?
Elvis: Unter dem Licht.
Pierre (schrill): Unter dem Licht?!
Clara (träumerisch): Zugedeckt davon.
Elvis: Unter dem Licht fliegen Staubflusen herum. Die Wohnung ist noch nicht leer.
Clara (panisch): Oh nein! Wir können nicht ausziehen!
Pierre (verärgert): Du bist doch nicht sauber!
Clara (empört): Heee! Keine Beschimpfungen hier!
Pierre (grantig): Ja, was denn! Wo sollen wir mit dem ganzen Staub hin?
Elvis (etwas weltfern und entzückt): Wir können ihn in Truhen sammeln! Wie einen Schatz!
Pierre (entnervt): Ich gehe.
Clara (besorgt):Wohin?
Pierre (kalt): Von euch weg.
Clara (verletzt): Du verlässt uns?
Pierre (ausdruckslos): Ja. Ich verlasse euch.
Clara (empört und wütend zu Elvis): Hast du das gehört?! Er verlässt uns!
Elvis (sinnierend): Mhm. Er verlässt uns. (Pause) Wohin willst du denn gehen?
Pierre (stolz): Bis ans Ende der Welt! (Pause. Hinzufügend) Allein.
Clara (staunend und ängstlich): So weit? Allein?
Pierre (stolz): Ja.
Pause.
Pierre (etwas über Elvis’ Schweigen gereizt): Findest du nicht, dass es weit ist, Elvis?
Elvis: Doch … (Pause) … schon. Aber Weite bedeutet mir nichts.
Pierre (verärgert): Natürlich bedeutet dir Weite nichts! Nichts bedeutet dir was! Wenn du könntest, würdest du Dreck fressen, die ganze Zeit!
Clara (verträumt): Mhhhhm, Zeit. (Pause) Oh, holde Zeit, du bist mein Eis am Stiel!
Elvis (unbeeindruckt zu Pierre): Staub bitte, nicht Dreck!
Pierre: Von mir aus auch Staub! Wo ist da bitteschön der Unterschied?
Elvis (ruhig, weise): In der Feinheit.
Clara: Lauchkuchen wäre jetzt fein.
Pierre (zu Clara gedreht): Wir haben keinen Tisch.
Elvis (schadenfreudig): Ja … keinen Tisch.
Clara (feststellend): Weil wir ausziehen.
Elvis (dramatisch): Ja, wir ziehen aus! Aus unserem alten, so sorglosen Leben!
Pierre (bitter lachend): Das war doch nicht sorglos!
Elvis (beleidigt): Für mich schon.
Pierre: Du hast ja auch das Haus kaum verlassen!
Elvis: Weil ich geschwommen bin.
Pierre (gemein lachend): Wo? In der Badewanne? (Pause. Zu Clara) Wahrscheinlich hatte er unter dem Waschbecken heimlich seinen Schnorchel versteckt!
Clara und Pierre lachen.
Elvis (beleidigt): Nicht in der Badewanne.
Pierre (belustigt): Sondern?
Elvis (glücklich seufzend): In der Materie.
Clara und Pierre schauen sich an.
Pierre (verständnislos): In der Materie?!
Clara: Lass ihn. Er ist verrückt.
Pierre (zu Clara flüsternd): Vielleicht ist er der zweite Einstein.
Clara (verwundert): Wie kommst du darauf?
Pierre (geheimnisvoll): Er hat Löcher in den Socken.
Clara (sicher): Dann ist er Einstein.
Elvis: Wer – ich?
Clara (beruhigend): Nein, nicht du. Ein anderer Elvis.
Streichelt ihm abwiegelnd über den Kopf.
Elvis (ausatmend): Ach so. Ich dachte schon.
Pierre: Warum, magst du keinen Einstein?
Elvis: Doch schon … (Pause) …Aber es ist so anstrengend, ein Genie zu sein.
(Pause. Hinzufügend) Ohne Halt.
Clara (aufklärend): Aber wir ziehen doch alle ins Licht!
Elvis (wissend): Ja. (Pause) Deshalb muss der Weg dorthin frei sein.
Pierre (versteht nicht): Aber du sammelst doch Staub …äh, ich meine (nachdenkend) … Materie.
Elvis (ruhig, weise): Ja.
Pierre: Und die Wohnung soll frei davon sein?
Elvis: Ja.
Pierre: Aber du nimmst sie doch mit?
Elvis (erhaben): Natürlich. Das Wichtige nimmt man immer mit.
Clara (ehrfürchtig): Was ist das Wichtige?
Elvis (bestimmt): Staub.
Pierre (gereizt): Und weshalb brauchst du uns?
Elvis (lachend): Ja, irgendwer muss doch tragen.
Pierre (empört): Hast du gehört, Clara?! Packesel sind wir.
Clara (fern): Mhm, Packesel.
Elvis (korrigierend): Nicht Packesel. (Pause. Euphorisch) Jünger!

Schweigen.

In der Wohnung wird es immer heller.

Alle drei treten vor zu ganz großen, sich mehr und mehr erhellenden Fenstern. Nach circa zwanzig Sekunden scheinen sie beinahe vollkommen vom Licht verschluckt zu werden.

Pierre (orgastisch): Und? UND?
Clara: Ja!
Pierre: Ja …
Clara (staunend): Das ist also das Ende der Welt!
Pierre(kopfschüttelnd): Nein … (Pause) … Das ist der Anfang!
Beide (ehrfürchtig): Ja…

Vom Zuschauerraum sieht man hinter ihnen noch eine Person (den echten Elvis Presley), auf eine Leinwand frontal projiziert, nicken. Dann wird alles weiß.

Daphne Elfenbein: O Stern, O Stern von Bethlehem

O Stern O Stern von Bethlehem
Weißt du worauf du scheinst?
Schon Ostern wird dein Kindlein gehen
Ist `s drum, dass du so weinst?

O Stern, dass hinter dunklen Wolken
der Julmond regnet vor sich hin
Ostern wird dann Blut gemolken
Vom guten Hirten – ob das Sinn…

macht, 0 Stern am Himmelszelt
wo sie vor Wiki-Weisheit schwitzen
Hinz und Kunz sich für Messias hält
Ostern verspricht man, still zu sitzen

Sieh, O Stern,wie sie einander foltern!
unter Kollegen, Brüdern, Bösewichten
Ostern zahlen wir`s ihnen heim
Der Heiland wird`s schon wieder richten

O Stern der Hoffnung nur kurze Zeit
Hat dein Kindlein lieb geflötet
Ostern siegt die Sachlichkeit
Wie geil es sich karfreitags tötet

Alle Jahre wieder siegt O Stern
Die Amtsgewalt über die Liebe
Ostern kreuzigt man fromm und gern
Zu Juul gibt´s gleich den Tod in die Wiege

Immanuel Reinschlüssel: Anconella

Scheppernd schleppt sich das stumpfgefahrene Triebwerk durch die hügelige Landschaft, die im Schein der ersten Sonnenstrahlen nur Konturen preisgibt. Ich höre die Lok ächzen und schnauben, während ich mich inmitten eines einzelnen verwaisten Waggons von ihr durch Täler und Hügel ziehen lasse, mein Schicksal in ihre staubigen Kolben lege. Im Gepäcknetz über mir wackeln meine Habseligkeiten und Mitbringsel hin und her, Geschenke für deine Großeltern, dunkle, ehrliche Schokolade, selbstgerührter Eierlikör, dazu ein Osterbrot aus der Backstube meiner Mutter. Dieser Feiertag, der für sie und ihr Land der höchste im ganzen Jahr ist und mir nichts bedeutet außer einem langen Wochenende und dem sicheren Übergang in die warme Jahreszeit, ausgerechnet er wird über uns entscheiden.

Niederlegung oder Auferstehung, so nah beieinander, einst drei Tage, für uns wohl nur drei Herzschläge voneinander entfernt.

Bis Bologna glitt ich in einem Hochgeschwindigkeitszug durch Voralpen, Tunnel und schwarze Nacht, eine surreale Reise ohne Anhaltspunkt für Raum und Zeit, eine konstante Überforderung der Sinne, die natürlich keinen Schlaf fanden im Angesicht der bevorstehenden, vielleicht letzten Begegnung mit dir. Der Umstieg im leergefegten Bologna Centrale, der sich in gespenstische Stille hüllte als kenne er das Ziel meiner Reise, ein letztes Lufthohlen. Ich hätte umdrehen können in diesem Moment, zum letzten Mal auf meiner Reise, hätte mich auf eine Bank setzen, das Osterbrot brechen und den Eierlikör entsiegeln können, auf den Zug zurück in den Nordnorden, das uferlose der beiden Monacos wartend. Und dann einfach einsteigen und alle Erinnerungen an dich für immer in den tiefsten Brunnen meines Geistes stecken, eine Felsplatte darauflegen und pfeifend nach vorne gehen können.

Doch im wahren Leben gibt es kein zurück und keine Felsplatten für Erinnerungen, sondern nur Niederlegungen und Auferstehung, getrennt durch Phasen heimtückischer Stille.

Also hinein in den schiefen Waggon, als einziger Mensch der Welt zu dieser unchristlichen Zeit an diesem christlichsten aller Tage. Hinein in den Anstieg zur letzten Etappe, hinauf nach Anconella, hinunter ins Reich des Zerberus oder den Himmel auf Erden. Langsam, beinahe unmerklich rollte der Zug aus dem Bahnhof und rumpelte durch das schlafende Bologna, diese letzte Schönheit vor dem Mezzogiorno.

Die Sonne steigt mühsam auf. Wie gerne würde ich den Sonnenaufgang bewundern, dem du seit vielen Wochen wohl genau so jeden Tag beigewohnt hast, die Uhrzeiten deiner WhatsApp-Nachrichten gaben mehr über deine Schlafgewohnheiten preis als deine Nachrichten selbst, nachdem du zu deinen Großeltern gegangen bist, oder sollte ich sagen geflohen. Zurück zum Ursprung, zu dem deine Familie bei allen großen Anlässen zurückkehrt. Die kleine Kapelle sah jeden Bund fürs Leben entstehen, den deine Familie je schloss, und ihr Taufbecken machte euch alle Teil der großen Ganzen, jedes dritte Kreuz auf dem kleinen Friedhof trägt die Namen deiner Ahnen.

Natürlich musstest du nach Anconella, ich hätte es auch ohne deine Nachrichten gewusst. Hier beginnt es und hier endet es, hier kommen Niederlegung und Auferstehung seit Jahrhunderten zusammen, warum sollten ausgerechnet wir die Ausnahme sein? Du musstest an diesen Ort, um dein Herz ganz spüren zu können, diesen unersättlichen Sammler, für den ein einzelner Mann nie mehr als eine Aktennotiz sein konnte, bevor es auf mein Herz traf, das weder Sammler noch Jäger, sondern einfach nur Muskel ist.

Ein Muskel, der seit dem deutschen Monaco verknotet in meiner Brust liegt wie das Osterbrot in seinem Papiermantel im Gepäcknetz über mir. Ein Muskel, der auf seine Bestimmung wartet, die sich auf dem oleanderbewachsenen Bahnsteig von Anconella offenbaren wird, wenn deine stumme Karfreitagsmesse Niederlegung oder Auferstehung predigen wird.

Joe Wentrup: Alles fällt auf einen Tag

Wenn die Sonne am tiefsten ihre Bahn zieht und am frühesten erlischt, dann gedenken wir den Tod des Sonnengottes, des Mitras, von Rom – flüchtig mit Bibelversen übertapeziert – dereinst als neues Produkt präsentiert: als Jesus, beauftragt, das Reich unter seinem milden Blick zu stärken.

Doch halt – gedenken wir an diesem Tag nicht der GEBURT des Sonnenkindes? Auch dies trifft zu, denn auf den kürzesten Tag folgt immer auch ein längerer – Mitras erwacht zu neuem Leben. Doch noch ist dieses schwach und unbedeutend, noch wird es kälter, der Frost überzieht das Land, die Welt verharrt in Totenstarre.

Erschöpft kroch Jesus aus dem Schützen und starb im Steinbock – umgeben von elf weiteren Zeichen: seinen Jüngern. Am Himmel regiert nun die Dunkelheit, die Schwarze Sonne: Sie ist Saturn, der schwächste mit bloßem Auge sichtbare Planet – auch Satan genannt. Es ist die Zeit der Unterwelt, der Dämonen und des Jenseits.

Erst im Februar gewinnt Mitras langsam seine Macht zurück, die Menschen schöpfen Mut und beginnen hinter Teufelsmasken alles Zwielichtige zu verhöhnen und zu verscheuchen, im ekstatischen Treiben des Karnevals. Doch noch hat Jesus, Ra, die Sonne, Mitras, seinen Thron nicht bestiegen.

Bis zur Tag- und Nachtgleiche wird es dauern, daß der Göttliche seinen Platz einnimmt. Doch erst muss er nun den pietätvoll verschobenen Tod der Wintersonnenwende sterben und wie das winterliche Zentralgestirn sodann drei Tage scheinbar tot verharren – bevor er schließlich prächtig strahlend aufersteht!

Die Menschen sind erlöst; Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen! Baalsfeuer brennen, gleich Hase und Kaninchen rammelt man zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Ostara – ihr Name sagt es: im Osten geht die Sonne auf – und reicht ihr und auch den Seinen als Gabe mehr oder minder lebensspendende Eier:

  • Ein gelbes, besonders süßes, das die Zahnärzte gelegt haben.
  • Ein rotes, mit dem Versprechen, dem Proletariat die Kontrolle über die Produktionsmittel zu verschaffen (wobei es sich – wie sollte es schon anders sein – umgekehrt verhält).
  • Ein grünes, ebenso verdreht gelegtes – aber immer eilfertig darauf bedacht, kein Nestbeschmutzer zu sein.
  • Ein violettes, welches eigentlich verdient hätte das rote zu sein, wäre da nicht der Beigeschmack von Zweitakt-Abgas und Norm-Eierkarton.
  • Ein schwarzes, unter Protest gereicht, da ich hier das Christentum entlarve (als würden sie das nicht die ganze Zeit selber tun).
  • Und schließlich ein blaues mit braunem Inhalt – welcher gewiss keine Schokolade ist.

Ich wünsche allen ein frohes Sonnenfest!

Andreas Lugauer: Nahteufelerfahrung

Für Eilige wird es am Ende dieses etwas längeren Textes eine Zusammenfassung geben.

In der Nürnberger Innenstadt gibt es ein kleines Café namens Treppenhauslounge. Es wird betrieben vom CVJM. Das ist der Christliche Verein Junger Menschen, der deutsche Ableger der – wir kennen sie von den Village People: YMCA, der Young Men’s Christian Association. Die Belegschaft der Treppenhauslounge wechselt häufig, immer aber besteht sie aus jugendlichen und jungerwachsenen Christ*innen von überall auf der Welt, die in ihrem jeweiligen Herkunftsland Mitglied des dortigen YMCA-Ablegers sind. Gelegentlich bin ich vormittags Gast in diesem Café, um vor der Schreib- und Lektürearbeit in einer nahegelegenen Bibliothek ein Frühstück einzunehmen. Es ist ein irgendwie subventioniertes Café und kann deswegen mit marktunüblich günstigen Preisen aufwarten. Das weiß aber kaum jemand, weswegen es dort meist angenehm oder vielmehr unangenehm leer ist.

Folgende Beobachtung mache ich bei diesen Besuchen immer wieder: Oft, wenn ich die Treppenhauslounge am Kornmarkt betrete und, noch bevor ich mir einen Tisch ausgucke und belege, am Tresen meine Bestellung aufgebe, machen die Mitarbeiter*innen so einen seltsamen Eindruck. So, als würde ihnen plötzlich eiskalt ums Heil, als umklammerten sie bei meinem Eintreten geschwind einen Rosenkranz in ihrer Hosentasche so fest, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten, ja, als zögen sie augenblicklich einen Bußgürtel fester, auf daß er seine Stacheln noch tiefer ins Oberschenkelfleisch treibe.

Sie verhärten, verhornen dann in spürbar, dennoch verhalten bannendem Ausdruck, als fürchteten sie in meiner Gegenwart die Anwesenheit des Leibhaftigen. Sie scheinen, als glaubten sie ihn fast zu spüren, den großen Verwandler, den Verführer, das Große Thier, das alle ins Dunkel zu locken trachtet – zu spüren als eisigen Hauch, der ihnen vom Nacken aus beckenwärts schießt.

Während sie den Kaffee zubereiten, das Gebäck auf den Teller heben und dann kassieren, scheinen sie, als sagten sie innerlich hastig Ave-Marias auf, und zwar auf Latein. 

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Angekommen beim Amen: wiederbegonnen beim Ave, und so in einem fort. 

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum – und so weiter.

Äußerlich ist ihnen das fast nicht anzumerken, aber ihre Augen wandern kaum merklich unruhig hin und her, so als läsen sie die Zeilen des Gebets vom Blatt.

Verlasse ich das Café wieder, ohne daß jemand hinabgerissen wurde ins Fegefeuer, wirken sie sogleich erleichtert. Die Erleichterung entspringt dem Glauben, erfolgreich einer Prüfung widerstanden zu haben. Der mit meinem Eintreten heraufgezogene Schatten verschwindet, die plötzlich die Sonne verdunkelnden Unwetterwolken lichten sich, das Licht des Herrn bricht wieder in den Laden. 

Die Nahteufelerfahrung ist überstanden. 
Und die verstummten Vögel singen wieder ihr fröhlich Lied.

Hier gibt’s jetzt überhaupt keine Zusammenfassung. Das wäre ja, als schöbe man einen ganzen Leberkäse in den Backofen, büke ihn, schnitte ihn in Scheiben, äße dann aber nur die beiden Endstücke und würfe den Rest unverdaut in den Mülleimer. – Wir sind hier schließlich nicht bei Spiegel Online oder einem von seinen Epigonen. Mahlzeit!

Ronja Paffrath: Frühstück

1
name dropping in nürnberg zur blauen stunde
Clara Fieger trifft im Cereal Foyer
Ceal Floyer persönlich
mit einem Frostie auf den Kopf
Über dem Kopf von Kerstin Stakemeier
bringt mich eine psychotherapeutische emotionstabelle zum weinen,
ich halte ein und falle,
rein, schön, falle!
Wie kluge Wörter über KP Brehmer
mich zu Trost zürück bringen,
wie Frosties Milch herunter

2
Ich habe meine Tage,
alle.
Meine Tage gehören mir.
Ich habe meine Tage alle gegliedert:
Die Nacht mit dem Schlaf dazwischen kommen zu lassen und dann zur etwa gleichen Zeit zu frühstücken ist wichtig, damit das
tägliche Licht zum immer gleichförmigen (aber nicht zwingend gleichgroßen) Rechteck wird. Die Tage sind dann schon vom
Licht bezeichnet und man müsste nichts weiter machen.
Vom Licht bezeichnet müsste man nichts weiter machen
mit meinen Gliedern –
Meine Tage erblicken das Licht der Welt,
ich lege sie Glied auf Glied.
Gegliedert kommen sie aus mir heraus,
gebildet zu griechisch hystéria, Gebärmutter, Hysterie.
Vom licht bezeichnet,
mit meinen Gliedern,
lege ich Glied auf Glied,
lege ich Lid auf Lid,
lege ich ein Lied auf die Lippen.
Ich habe meine Glieder beisammen.
Ich habe meine Tage alle
gegliedert

3
ich habe einen apparat
mit dem ich etwas aufnehmen kann
in dem ich darauf schieße
ich bin ein apparat
mit dem ich etwas abgeben kann
in dem ich es erschieße
damit es nicht umsonst gestorben ist
bist du mein letzter apparat
mit dem ich etwas teile

4
er soll nicht umsonst gestorben sein
dieser tod von
hat uns nichts gekostet
und nichts eingebracht
er ist umsonst gestorben
also wirklich, ich bitte dich,
freundin, lass mich umsonst gestorben sein
und bleib dennoch ein freund
der preis für die kaufware
ist nicht der einkauf
der einkauf von
wurde nicht mit dem einkaufen bezahlt
ich habe dir einen mittelgroßen tod mitgebracht
die im internet haben ihn auf dem bett liegen oder unter dem schreibtisch
und schieben ihre glieder darunter
wir haben alle diese warmen füße
und jene müden zehen, die zum mond hin abstehen, zugedeckt
wow so ein extraflauschiger tod
teddybären mit herzen wurden dafür ausgeweidet
die füllende faser war noch zu
verwenden, weiße viskose
die rotbraunen hüllen dagegen sind im regenfall verschimmelt weil
sohnemann die waldbestattung vorzog
im vorbeifahren kann man sie nicht mehr für fliegenpilze halten:
sie sind jetzt eine birke
sei beruhigt schöne schonung
er ist nicht umsonst gestorben
der probemonat licht zieht in formation
vor deinem auge, dem bedeckten
himmel vorbei
aus dunkelgrüner ferne der gesang
die stimmen jeder stimmung
kommen bei dir an, freundin refrain
dieser tod
hat uns nichts gekostet
und nichts eingebracht
er ist umsonst gestorben
lass uns umsonst gestorben sein
und dennoch befreundet bleiben
der preis für die kaufware
ist nicht der einkauf
er wurde nicht mit dem einkaufen bezahlt
freundin freund freunde freundinnen
lasst uns befreundet bleiben
mit kostenlosen toden
lasst uns umsonst gestorben sein
freundin refrain
für kostenlose tode kostenlose
freundin refrain
umsonst sterben kostenloser freund
für den kostenlosen tod umsonst
freunde umsonst freundin judy refrain
schonung freundin schonung hier
wohnt schon nicht mehr weil verzogen
doch wohlmöglich zieht noch vor den
wolken wieder ein in dieses schöne
häuslein unsere liebe
freundin schonung refrain

5
Wenn auf mich geschossen wird,
bleibe ich

  • in Bewegung.
  • Oder: An einem Ort, aber über- oder unterbelichtet.
  • Oder: An einem Ort,
    aber zur Seite des Geschosses hin von Pflanzen, Gesteinen und Wänden verdeckt.
  • Oder: An einem Ort und klar, scharf umrissen, aber doppelt.
  • Oder: An einem Ort und klar, scharf umrissen, aber doppelt.
  • Oder: An einem Ort und klar, scharf umrissen, aber viele
    also jedes Körperteil vereinzelt sich,
    jedes vereinzelte Körperteil lebe ich aus,
    bis zu jeder möglichen Einsamkeit,
    aber ich bleibe in Kontakt.
    Mit meinen Gliedern
    lege ich Glied auf Glied,
    lege ich Lid auf Lid,
    lege ich ein Lied auf die Lippen.
    Ich habe meine Glieder beisammen.
    Ich habe meine Tage alle
    gegliedert

6
Aus dem Modus des Beschäftigungsverhältnisses:
Im Modus Autofokus Ein-Schuss, bringe die Misere durch ein Objekt auf den Punkt, dass in der gleichen Distanz situiert wird, wie
das Subjekt und verrücke die Misere auf den Punkt, nachdem das Bild neu kompositioniert wurde.
Subjekte durch die es schwer ist, die Misere auf den Punkt zu bringen:

  1. Mit Vorliebe kontrastierte Subjekte
    (Beispiel: Blauer Himmel, Uni-farbenes Murren, etc.)
  2. Sehr wenig suffisant aufgeklärte Subjekte
  3. Gegen den Tage gewaltsame Subjekte und solche mit starker Reflektion
    (Beispiel: Gefährt mit einer kraftvoll reflektierten Karosserie, etc.)
  4. Geschlossene und angeleinte, wiederentdeckte Subjekte, durch einen Kettenautomaten auf Autofokus
    (Beispiel: Tiere im Käfig, etc.)
  5. Repetitive Momente
    (Beispiel: Fenster eines Gebäudes, Tastaturen eines Computers, etc.)

Wichtig (von: Wicht; lebendes Wesen, Geschöpf, Ding, Dämon, Sache) !
Prozessieren Sie die Wiederaufladung genau nach der Impression.
Besonders im Falle von Beschuss, prozessieren Sie die Wiederaufladung immer genau nach der Impression.
Eine Prozession durch Sitzen schließt die Auswahl des auf Autofokus gestellten Kettenautomaten hinten an.
Das erfordert, den auf Autofokus gestellten Kettenautomaten auszuwählen und die Molette zu drehen, bis das rote Licht blinkt.
Passen Sie den Tusch ab um den Kettenautomat im Autofokus auszuwählen.

7
nachts wach
ronja geht alleine durch die
nacht, sagst du, begleite sie!
ich kann nicht, ich bin ronja
ich bin ronny, sagst du, gut,
so machen wir‘s, du begleitest ronja,
ich bin solange ronny und begleite clara
die mich ronni nennt, mit hut,
die nacht ist doch für alle da

Theobald O.J. Fuchs: Frühstück

Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Zeitung ist ein wichtiger Bestandteil des Frühstücks. Nicht der wichtigste, aber schon sehr wichtig. Aber die Zeitung kommt heute sehr spät. Durchs Küchenfenster sehe ich die Zeitungsfrau auf ihr Rad steigen und weiter fahren. Ich gehe hinaus, ziehe die Zeitung aus der grünen Plastikröhre, die außen an unserem Jägerzaun befestigt ist. Ich will schnell zurück ins Haus, weil das Frühstück wartet. Im Gehen werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen und bleibe überrascht stehen. Da steht: »Verdacht bestätigt – erster Todesfall seit 143 Jahren!«

Drinnen stehen für mich auf dem Küchentisch dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst bereit. Ich habe noch nicht einmal angefangen und will doch von allem essen. Von jeder Marmelade einen Löffel. Himbeere, Schlehe, Erdbeere, Zwetschge, Kirsche, Orange, Apfel, Rhabarber, Pfirsich, Johannisbeere, Quitte, Mandarine und Radieschen. Von jeder Wurst eine Scheibe: Bierschinken, Stadtwurst, Gelbwurst, Mettwurst, grobe Leberwurst, feine Leberwurst, kalte Bratwurst, Pfefferbeißer, Bauernseufzer, Räucherschinken und kalte Frikadelle. Immer nur diese Sorten, keine anderen. Und das jeden Tag.

Die Meldung in der Zeitung bringt mich aus dem Tritt, meine Routine ist unterbrochen, ich bin verwirrt. Seit einhundertdreiundvierzig Jahren ist das Rezept für die Unsterblichkeit bekannt. Sofort, nachdem die Formel für ein ewiges Leben bekannt wurde, begannen alle Menschen so zu leben wie die Wissenschaftler es rieten. Im Grunde war es ganz einfach, die Zutaten waren alle längst bekannt, jeder konnte sich einfach und billig mit dem notwendigen Zeug eindecken: Dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst. Jeden Morgen von jeder Sorte Marmelade einen Löffel, von jeder Wurst eine Scheibe. Dazu Kaffee oder Tee, was man eben bevorzugt, und ein Brötchen, kein Problem. Auch ein Ei oder ein Stückchen Käse – da gibt es keine Vorgaben. Hauptsache Marmelade und Wurst, in der richtigen Menge, die richtigen Sorten. Das Resultat: Unsterblichkeit.

Und nun das: Ein Todesfall, irgendwo in Kanada, in einem kleinen Dorf. Dort ist zum ersten Mal seit einhundertdreiundvierzig Jahren wieder ein Mensch gestorben. Schnell gehe ich ins Haus, setze mich an den Frühstückstisch, beginne Wurst und Marmelade zu essen. Immer abwechselnd, ein Löffel hiervon, eine Scheibe davon, dazu Kaffee und ein Bissen von der Semmel. Wie immer, wie jeden Tag. Wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Wie seit einhundertdreiundvierzig Jahren, jeden Tag. Immer dieselben dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst.

In der Zeitung steht, der Mann in Kanada ist gestorben, weil er keine Wurst mehr sehen konnte. Weil ihm die Marmelade zum Halse hinaushing. Weil er es nicht mehr ertragen hatte, jeden Tag dasselbe zu frühstücken. Seine letzten Worte hätten gelautet: »Ehe ich noch ein einziges Mal Gelbwurst und Rhabarbermarmelade auch nur anschaue, will ich lieber sterben.«

Das hat er nun davon, denke ich. Hätte sich halt nicht so anstellen brauchen. Selber schuld. Mir schmeckt’s jedenfalls. Mir schmeckt’s sehr gut, jeden Tag, immer dasselbe.
Weil: Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.

Sarah Grodd und Lukas Ullinger: Ein Brunch – zwei Perspektiven

Sie weiß es. Sie weiß es ganz genau. Ich hasse brunchen. Wer hat sich diesen Unsinn überhaupt einfallen lassen? Überhaupt, diese unmögliche Uhrzeit. Soll das jetzt Frühstück oder Mittagessen sein? Das ist doch normalerweise nicht ohne Grund getrennt. Brunch – schon dieses Wort löst Abneigung in mir aus. Müssen wir jetzt für alles einen neuen Begriff einführen? Nicht mal Hobbits nennen ihr zweites Frühstück Brunch. Sondern das was es ist: ein zweites Frühstück. Und dann das Zeug, das es da zu essen gibt. Grenola, Granola oder was weiß ich, für mich ist das einfach Ofen-Müsli-selbstgemacht, aber egal. Im Prinzip wäre das alles ja halbwegs erträglich, Müsli geht ja wirklich zu jeder Tageszeit. Aber nicht, wenn da ihre bekackten Freundinnen dabei sind. Vor allem Jennifer. „Hi, Jenny!“ Ich pack die Trine nicht. Wenn Brunch in mir Abneigung auslöst, bringt Jennifer die totale Ablehnung in mir zum Vorschein. Ihr albernes Lachen, ihre krallenartigen Fingernägel und ihr absolut verkacktes Tattoo auf dem Rücken vom Selbstfindungstrip in Indien. Die Vollpanne in Person.

„Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“, kommt es aus dem Schlafzimmer. „Ja sicher.“, knirsche ich zurück. Wie sollte ich die Dinger auch vergessen. Bei 15 Pfannkuchen habe ich assistiert. Aber keine stinknormalen Pfannkuchen. Nein, die werden jetzt glutenfrei zubereitet. Weil Jenny kann ja jetzt kein Gluten mehr. Seit Indien. Also, ab zu DM glutenfreies Mehl, Agavendicksaft – Zucker geht auch nicht – und Demeter Eier. Ist besser für die Tiere. Dass der Lachs bei Netto im Angebot nur 1,70 kostet, wird geflissentlich übersehen.

„Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“, sagt sie und streckt wie eine halb geschminkte Schildkröte ihren Kopf in den Flur. Klar, denke ich mir. Das Ding ist dann so eng, dass ich keinen Bissen von dem Fraß runterbekomme. Ha, vielleicht gar nicht schlecht. Und warum muss die sich jetzt so dermaßen aufbrezeln! Zum Frühstück – Verzeihung, Brunch? Ehrlich, von mir aus kann das auch so ablaufen: Kaffee, Kippe, fertig. Gerne ungeduscht in Unterhose und am besten allein. Stattdessen müssen wir uns fertig machen um dann stundenlang beinahe-bio-Lachspfannkuchen und Käse mit Weintrauben auf kleinen Holzspießen in uns reinzustopfen. Danke dafür.

Heute ist ja eigentlich Fußball. Aber es stimmt schon: Jenny hat nur einmal im Jahr Geburtstag.

Und wenn Jenny nur einmal im Jahr Luft holen würde, mir doch egal.

Ich gehe zum Kühlschrank, hole die Lachsröllchen. Eines schnappe ich mir schon mal heimlich. Schmecken tatsächlich ziemlich gut – zugegeben. Besser noch schnell eines, soll Jenny doch ihr Müsli essen.

„Also, los geht’s…“ murmle ich durch geschlossene Zähne und binde mir die Schuhe zu.

Das Frühstück. Die wichtigste und großartigste Mahlzeit des Tages. Es gibt nur wenig, das ein schönes Frühstück mit frischem Kaffee- und Brötchengeruch toppen kann. Eine Sache, die das noch um Längen schlägt: der Brunch. Diese Fusion aus Frühstück und Mittag, da ist für jeden noch so süßen Zahn sowie herzhaften Gaumenfreund etwas dabei. Seit Wochen freue ich mich auf den heutigen Tag, denn die liebe Jenny hat zum Geburtstagsbrunch eingeladen.

Jenny und ihr geiles, ja weltberühmtes Granola. Sie weiß ganz genau, wie gut es ist. Da muss ich gegensteuern. Nur mit ein paar langweiligen Sea Salt-Chia-Buchweizenvollkorn-Brötchen mit Sesam-Topping aufzutauchen, das kommt definitiv nicht in Frage. Ich muss sie ausstechen. Stundenlang habe ich bei Pinterest nach Instagram-fähigen High Class-Rezepten gesucht, die zudem auch noch glutenfrei sind. Denn die arme Jenny bildet sich seit ihrem Indien-Selbstfindungstrip eine Gluten-Unverträglichkeit ein. Nun ja, so sind es nun Lachsröllchen geworden. Und die habe ich natürlich äußerst akkurat auf einem extra dafür gekauften Teller drapiert, genau so wie auf den Vorschaubildchen bei Pinterest. Hoffentlich lässt der die Finger davon, bis die Mädels es gesehen und anerkennend gelobt haben.

Hauptsache, wir vergessen die Dinger nicht! „Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“ schreie ich aus dem Schlafzimmer, damit er auch was zu tun hat. Diese Brunch-Vorbereitung stiehlt mir schließlich schon genug Zeit.

Jenny hat einen neuen Freund, den sie uns heute vorstellt. Martin, Markus oder so ähnlich. Ein schnieker Typ soll das sein. Jenny schwärmt jedenfalls unerträglich oft von ihm. Bedeutet also, sich heute besonders viel Zeit fürs Schickmachen zu nehmen. Das gilt natürlich für uns beide – für mich UND für ihn, denke ich und rufe: „Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“. Unter uns: alles Taktik. Brunch ist eben nicht nur Essen, es ist auch ein Statuszeigen, eine Anstrengung.

„Also, los geht’s…“ sage ich und ziehe mir die Jacke an.

Daphne Elfenbein: Casino

„Du gehst heute Abend nicht da hin!“ Sie haute die Faust auf den Tisch, dass die Weihnachtsdeko hüpfte. „Oder ich verlass dich!“ Es war still. Gleich würde eine Tür schlagen. Er stand in der offenen Badezimmertür und füllte ein Glas mit Wasser. Sie saß am Küchentresen. Er kramte im Spiegelschrank, warf sich ein paar Aspirin ein, kippte das Wasser runter und zog seinen Mantel an. „Du siehst aus wie ein Penner“, sagte sie. „Danke, das ist charmant von dir, sagte er leichthin, „ich geh heute zum letzten Mal, Liebes, glaub mir“. Er kratzte sich die Bartstoppeln, strich seiner Frau zerstreut über den Kopf, worauf sie in haltlosem Schluchzen über dem Tisch zusammensank. Dann drückte er sanft die Tür ins Schloss und atmete auf. 

In Erwartung eines sicheren Hochgefühls schwebte er durch die Straßen mit seinem Leihwagen. Den eigenen hatte er verloren in jener denkwürdigen Pechsträhne letztes Jahr. Doch da war er noch ein blutiger Anfänger gewesen. Das würde er heute wettmachen… heute Abend… Und morgen hör ich auf damit! Susanne zuliebe! Eine Welle von Rechtschaffenheit und Wohlbehagen schwemmte sein schlechtes Gewissen weg. Alles wird gut. Die Ampel sprang auf grün. 

Der Wagen hielt vor dem Casino. Er hielt sein pochendes Herz, als die Türsteher ihren Stammkunden flüchtig nach Waffen abtasteten. Dann trat er ein in die Räume, die schon immer sein ureigenstes Element waren. Warmes Licht umfing ihn, Parfums und leichte Musik, da waren Frauen mit nackten Schultern und alte Damen mit kleinen weißen Hündchen auf dem Arm, Behandschuhte Schönheiten hielten lange spitze Zigaretten und befrackte Herren bedienten sich einer gewählten Sprache. Die Roulettescheiben klepperten wie die Uhrwerke Gottes. Die Croupiers murmelten Zauberformeln. Die Kronleuchter glänzten. HOME!! 

In der einen Hand hielt sie eine Rasierklinge, in der anderen Hand das Telefon. Auf ihrem Schoß lag ein Handtuch, in das Rotz und Wasser flossen. Am Telefon Christine, die beruhigend auf sie einsprach. Die Dialoge kennt man. Sie werden hier nicht wiederholt. Es wurde spät. Und ein paar Baileys halfen über den Schmerz hinweg. Am nächsten Morgen, an dem sie allein erwachte, sah Susanne ihrerseits wie eine Pennerin aus. Rot geschwollene Augen glotzten ihr aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Es war noch Aspirin da. Sie öffnete die Behördenpost der letzten Wochen und nahm all ihren Mut zusammen um hin zu schauen. Da war was von der Arbeitsagentur, vom Inkassobüro, von der Hausverwaltung…

Gegen 11 Uhr vormittags ging die Türglocke. Sie öffnete. Da stand ein Fremder, der einmal Frank gewesen war. Er grinste blöde aus übernächtigtem Gesicht und hatte ein albernes weißes Hündchen auf dem Arm. „Ich hab gewonnen!“ rief er und hielt ihr ein Bündel Geldscheine entgegen, die irgendwie falsch aussahen. Sie glotzte müde auf die Erscheinung und machte keine Anstalten, ihn hereinzulassen. „Spitz hat mir geholfen“, er deutete auf den Hund in seinem Arm und stellte einen Fuß in die Tür. Der Hund sprang runter und lief in die Wohnung, als gehöre sie ihm. Frank krähte künstlich fröhlich wie zu sich selbst: „erst hab ich Spitz gewonnen, dann hat Spitz gewonnen!“ Er drängte sich an ihr vorbei in die dunkle, unaufgeräumte Wohnung, die schon Jahre keinen Besuch mehr empfangen hatte. Sie folgte ihm schleppend in ihrem Bademantel. 

„Und heute Abend gehen wir wieder hin…, rief er aus dem Badezimmer, wo er den Wasserhahn aufdrehte, „Spitz und ich!“ Susanne holte den Koffer vom Schrank, packte als erstes ihre Weihnachtsdeko vom Küchentresen ein, und wählte die Nummer von Christine. Der Hund hockte vor der Badezimmertür.