Frédéric Valin: Wohnen

Nachts um zwei ist wieder was los. Mein Zimmer grenzt an die Küche, und Tag und Nacht haben für Ilse nur noch marginale Bedeutung; häufig kriegt sie nachts um zwei Lust auf, sagen wir mal, eine heiße Milch. Blöderweise steht keine heiße Milch im Kühlschrank, man braucht einen Topf – den alten, verbeulten, blankgescheuerten am besten, in dem wird schon seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten die Milch heiß gemacht.

Dazu braucht es auch den Herd, ein altes Ding, das noch mit Gas betrieben wird, und der keinen Anzünder hat; man muss ihn mit dem Feuerzeug entflammen. Außerdem ist er widerspenstig, das Feuerzeug muss schon im richtigen Abstand zum Ventil gehalten werden, im richtigen Winkel sowieso, und das ist eben schwierig, wenn die Hände zittern und die Ungeduld wächst.

Es dauert nicht lang, bis Ilse das erste Mal ein enerviertes „Du Scheißding“ entfährt, und dann dauert es noch kürzer, bis sie es ein zweites Mal sagt. „Geh endlich an, Du Scheißding!“ An guten Tagen – an guten Nächten vielmehr – bleibt es dabei. Irgendwann klappt das alles schon, und am nächsten Morgen ist dann alles wie immer, bloß mit zwei drei Milchflecken auf dem Herd. In schlechten Stunden aber ist der erste Fluch nur der Riss im Damm, und es drängt immer mehr Gefühl und Frustration heraus, warum die Scheiße nicht so will, wie sie soll, warum eigentlich alles so gottverdammt schwer geworden ist, was zur Hölle das alles eigentlich noch soll.

Und wenn der Damm erstmal gerissen ist, dann bleibt es auch nicht bei der Scheißigkeit des Herdes, schließlich ist dieser Herd nicht die einzige Zumutung; nein, die Scheißtabletten, die nichts nutzen, fliegen dann in die Ecke, und bald wird ein Fluch zum Himmel geschickt – „Der liebe Gott, ja, wie kann der das machen, man muss ja blöde sein, um an einen Gott zu glauben, der ist ein Schwein, eine Dreckssau…“ Hier hält Ilse kurz inne. „Nein“, sagt sie dann, „Schweine sind nicht so, die Schweine können nichts dafür.“ Aber es ist nur eine kurze Unterbrechung, und es ist im Grunde egal, ob der Herd nicht funktioniert oder der Faden nicht durchs Nadelöhr will oder ein Brief, der wieder viel zu klein gedruckt ist, gekommen ist, obwohl sie eine Postkarte erwartet hat; schuld ist Deutschland, dieses Drecksland, das voller Nazis ist, immer schon war und immer so zivilisiert tut. „Wie kann ein Land sich zivilisiert nennen“, fragt sie, „und ich habe einen solchen Herd? Dieses Drecksland, diese Arschlöcher alle, meinen sie wären sonstwer!“ und mal ganz im Ernst: wer könnte da widersprechen. Ich nicht.

Daphne Elfenbein: Wohnen…

… ist ganz schön anstrengend, findet Daphne Elfenbein. Immer gibt es irgendwas zu putzen.

Nachdem Gastronomie, Museen und Wellness von Virus-Verordnungen vermiest sind, wird nicht mehr entspannt. Doch selbst fürs Nicht-Entspannen braucht man den passenden Sessel. Ach, Frau Elfenbein hat beim Putzen immer ganz philosophische Gedanken und eine Welle der Wonne wogt durch ihr Herz, als sie den Schmutzlappen im Schmutzwasser auswringt und nochmal über ihre Fußtapsen wischt. Ein blanker Boden – eine Wohltat! Sie wird sich einen Sessel kaufen!

Je länger das mit dem Zwangswohnen währt, um so sichtbarer wird der Schmutz. Frau Elfenbein hat den Dreck nie wahrgenommen, als sie noch in der weiten Welt vagabundierte. Jetzt wuchtet sie täglich Staubwedel, Wischlappen und Bohnerwachs gegen den stetig niedersinkenden Staub. Der kommt nicht aus dem Weltall, sondern wird abgeworfen von Haut und Haar, Hemd und Hose, Hausdecke und Handtuch… und einer haarigen Katze.

Heftig pfeffert sie Wischlappen und Schürze in einen Winkel. Die Sache mit dem Sessel will ihr nicht aus dem Kopf. Mit Maske und Impf-App marschiert sie zum Möbelhaus. Soll doch die Katz die Staubmäuse jagen. Ein neuer Sessel muss her… Ein Sessel, der sich ergonomisch Frau Elfenbeins aristokratischem Hintern anpasst, dynamisch schwingend, hydraulisch verstellbar, leicht. Nur so wird Wohnen wieder zur Wohltat! Sonst ist Frau Elfenbein ja so anspruchslos wie ein Käsebrötchen. Doch die Pandemie fordert ihren Tribut. Wer sich anpasst, überlebt!

Zum Glück ist Shopping noch nicht infektiös, nachdem jeglicher Spaß virusverdächtig auf dem Altar des Infektionsschutzes geschlachtet wurde. Knirschend zerbröckelt eine gebrannte Mandel unter Daphne Elfenbeins dritten Zähnen, als sie in der Cafeteria sitzt und Prospekte studiert, während eine Putzfrau mit OP-Maske den Feudel über die Bodenfläche schwingt. Dann setzt sich ein maskierter Mann im Möbelhaus-Kostüm an Frau Elfenbeins Tisch und mit 1,5 m Abstand und einem Tablet entwerfen sie gemeinsam einen Fernsehsessel mit hellbraunem Lederbezug und Alugestell. Das Design wird dann gleich zum 3-D-Druck ins Depot gegeben. Frau Elfenbein freut sich schon, bald federleicht im Sessel zu wippen, dem Himmel entgegen, der unter der Zimmerdecke endet.

Erschöpft kehrt sie abends vom Einkaufen zurück und reißt sich die Maske vom Gesicht. Endlich wieder wohnen! Doch die von Ikea und co. beworbene Wohn-Wellness muss warten! Da ist noch die Wanne auszuwischen und Wäsche zu waschen. Doch was wird nicht alles auf morgen verschoben. Denn nun wird weitere zum Wohnen wichtige Ware im Web bestellt. Es fehlt noch so Vieles.

Wenigstens ist Wohnen nicht ansteckend. Pech hat, wer sein Heim mit anderen teilt, oder mit lebensmüdem Leichtsinn noch Kontakte pflegt. Der einst so geschätzte Mitmensch ist zur Infektionsgefahr mutiert! Geduckt gehen wir aneinander vorüber. Auch Augenkontakt weckt schon Argwohn. Sirenengeheul von früh bis spät, wenn sie die Todgeweihten abholen, oder Durchgedrehte aufsammeln. Der Rest hat sich beim Lüften den Tod geholt.

Frau Elfenbeins Nachbarn zum Beispiel: Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis die auch infiziert sind. Dauernd klingeln Leute bei denen an der Tür und sie grölen und lachen und reden laut durcheinander. Sie presst das Ohr an die Wand, einen Zettel mit der Nummer der Notfallrettung in der Hand: Husten und röcheln sie schon? Wetten, die sind morgen alle in Quarantäne? Sie dichtet schon mal die Türen ab…

Bei Kerzenschein und Kräutertee feiert Frau Elfenbein ihre unbefleckte Gesundheit und wartet auf Ware, entschlossen, zu den Überlebenden zu gehören, wenn das Virus die Menschheit dahingerafft hat. In Ihrem Schwingsessel träumend produziert sie post-pandemische Prognosen: Sie wird ihre Waren nur noch aus den Wohnungsauflösungen der Corona Opfer erwerben, denn Amazon hat keine Mitarbeiter mehr. Sie wird ihr Gemüse selbst anbauen, denn der Rosenkohl wächst nicht mehr bei Penny. Nur ihr aerodynamischer Sessel. Auf dem wird sie dann irgendwann, wenn alles geputzt ist und das Wohnen beginnen kann, tief durchatmen ….

Riela Dobby: Wohnen

Ich habe im Bad ein Fenster, dass rübergeht zu meinem kleinen Zimmer. Dort habe ich im Sommer immer das Außenfenster gekippt und lüfte nachts so, ohne dass sich eine Katze einklemmen kann. Abends beim Zähneputzen nehme ich wahr, dass im Zimmer nebenan etwas Großes rumflattert. Rasch schlage ich das Badfenster zu . Dass es sich um keinen Falter gehandelt haben kann, war mir bei der Größe sofort klar. Aber ich war müde und bin erstmal schlafen gegangen. Nach einem stärkenden Frühstück, musste ich mich der Situation stellen. Ich ging ins Zimmer. Es war nichts zu sehen. Aber überall lagen die kleinen Kackböllerchen rum. Also holte ich den Staubsauger und saugte. Plötzlich taucht dieses Monster auf und flattert über meinem Kopf herum. Ich schreie gellend auf, reiße ein Handtuch aus dem Wäschekorb und drehe es propellermäßig über meinem Kopf. Immer noch schreiend , kämpfe ich mich zur Türe und verlasse den Raum. Ich bin einer Ohnmacht nahe und am ganzen Körper läuft mit der Angstschweiß herunter. Mit letzter Kraft torkele ich auf meinen Sessel zu und lasse mich dort hineinfallen, bevor mir die Sinne schwinden. Als ich wieder halbwegs normal atmen kann, rufe ich bei meiner Tierärztin an und frage, was ich machen soll. Sie meint, ich müsse zurück ins Zimmer und das Fenster öffnen. Durch den Türschlitz sehe ich aber, dass dieses gefährliche Wesen immer noch wie blöde um die Lampe kreist. Für mich also keinerlei Option, mein Leben auf‘s Spiel zu setzen und dort einzutreten. Nach einer halben Stunde war die nachtaktive Häßliche wohl erschöpft und ich sah sie nicht mehr. Todesmutig und vor lauter Angst dem Wahnsinn nahe, schleiche ich – nun mit 2 Handtüchern bewaffnet- ins Zimmer. Ich pirsche mich ans Fenster heran, jeder Schweißtropfen, der zu Boden fällt, donnert in meinen Ohren. Endlich erreiche ich das Fenster und öffne es. Dabei entdecke ich dieses Untier am Boden und fange wieder zu schreien an, während ich es aus sicherer Entfernung mit dem Handtuch anfächere. Da erhebt sich das Geschöpf, breitet seine gewaltigen Flügel aus und …… fliegt erneut um mein Haupt herum. Die Hauswände im Hinterhof schicken mir meine gellenden Schreie als Echo zurück. Endlich entdeckt die wohl blinde Fledermaus das offene Fenster und entfleucht. Um mich selber etwas zu beruhigen, wiederhole ich mit zittriger Stimme, ja, schon fast einem Mantra gleich immer wieder den Satz:“ Ich habe es geschafft ! Ich habe es……!“ Ich wanke ins Badezimmer und spüle den Schweiß von meinem Gesicht. Dann beginne ich bei offener Türe das verunreinigte Zimmer zu saugen. Plötzlich verdunkelt sich der Raum und über mir kreisen zwei weitere, blutrünstige , hämisch dreinblickende Fleischfresser!!!!! Ich kreische in den höchsten Tönen und stolpere vor Panik fast erblindet in den Flur, gefolgt von der hungrigen Meute. Diese dreht nun mit regelmäßigem Flügelschlag eine Runde in meinem Schlafzimmer. Ich verschanze mich derweil im kleinen Flur vor der Toilette – wieder mit 2 Handtüchern bewaffnet. Mir ist klar , hier geht es schon längst darum, wer am Ende überleben wird! Es dauert nicht lange, da fliegt der Feind den Flur entlang, um meiner erneut habhaft zu werden! Mit lautem Gebrüll springe ich in den Gang, ein Handtuch propellert über meinem Kopf, um eine Landung auf demselbigen zu verhindern. Das andere drehe ich so schnell vor meinem Leib, dass ich fast abhebe. Nun treibe ich die speichelleckenden Biester zurück zum geöffnetem Fenster. Die Schallwellen meiner Schreie begleiten ihren Flug hinaus. Ich verlasse das ehemalige Kinderzimmer und schließe die Türe hinter mir. Vor Erschöpfung innerlich gelähmt, werfe ich mich auf mein Bett und verbleibe dort fast zwei Tage in einem Schockzustand. Wenn ich nun die Wohnung verlasse , spüre ich die stechenden Blicke meiner Nachbarn im Rücken. Sie überprüfen am Türspion, wann sie – vor mir sicher – ins Treppenhaus treten können.

Lea Schlenker: Aprikosenmänner

Ich lebe
Ich wohne in einem Kino
Lach nicht
Von Xanadu und Rosebud
Und wehende Blätter in lautloser Perfektion
Fülle ich meine Einkaufstaschen 
Mit königsblauem Samt
Cinema
Für zwölf Franken
Und einer Videothek
In der ich alte Männer in verlorener Manier antraf
Hey ihr Aprikosenmänner
Jetzt kommt die Zeit
In der sich für euch alles ändert
Im Cinema
Meinem Zuhause
Nahm ich Platz auf staubigen Sitzen mit Butterflecken
Mein Vater war Ticketkontrolleur
Und meine Mutter das Stunt-Double von Grace Kelly
Immer nur Tee ist doch langweilig
Ich möchte ausnahmsweise mal Cherry Coke trinken
Und in Hollywood sein

Ich wurde geboren auf einer Filmrolle
Und werde auf meiner Schreibmaschine sterben
Mit Greenwood in den Ohren und dem Gedanken
Dass der Bundesrat hätte schneller reagieren können
Fuck 2021
Oder  – 

Oder wir heiraten
Tanzen auf dem Tisch
An den Schuhen matschige Bananen
Bis wir umfallen und uns das Genick brechen

Ich rufe an 
Aus meinem Kino
Versprochen
Sobald ich einen Ort gefunden habe
An dem ich Empfang habe

Katrin Rauch: Wir sterben alle irgendwann, die meisten von uns in Moskau.

Am 28. April 1993 stirbt die sowjetische Fliegerin und Offizierin Valentina Stepanovna Grizodubova in Moskau. Etwa zur selben Zeit hatten meine Eltern ungeschützt Sex. Wenn man einen Zeitraum von etwa zwei Wochen annimmt, in dem ich höchstwahrscheinlich gezeugt wurde, könnte ich alternativ zu Frau Grizodubova auch die Reinkarnation von Lucette Descaves sein – einer französischen Pianistin. Sie spielte 1932 unter Anleitung desselben das Dritte Klavierkonzert von Sergej Sergejevič Prokofjev, der auch in Moskau verstarb, aber fast genau 40 Jahre vor Grizodubova. Ob Grizodubova Descaves oder Prokofjev oder zumindest dessen Stück Peter und der Wolf ein Begriff war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, zumindest nicht mithilfe von Wikipedia als einziger Quelle. Es ist aber wahrscheinlich, denn Grizodubova absolvierte erst ein Klavierstudium ehe sie zu einer von drei Frauen wurde, denen als allererste in der sowjetischen Geschichte der Titel „Held [sic!] der Sowjetunion“ verliehen wurde. Wessen Reinkarnation ich noch sein könnte, ist Johannes Schäfers, wie Grizodubova auch am 28. April 1993 verstorben. Ich als Schäfers Reinkarnation wäre jedoch höchst unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sein Karmapunktekonto viel zu weit ins Minus geraten sein muss, um als privilegierter, weißer, mitteleuropäischer Nerd wiedergeboren zu werden. Aber – und jetzt wird es besonders interessant – auch Kim Jong-in, alias Kai, ein südkoreanischer Tänzer, Sänger und Schauspieler, könnte ebenfalls die Reinkarnation Grizodubovas, Descaves‘ oder Schäfers sein. Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen wollen würde. Und fest steht auch, dass ich seit drei Tagen kaum geschlafen habe. Woher das kommt, ist so unbekannt wie der Werdegang meiner Seele, oder wie auch immer man das nennt, was da ständig reinkarnieren muss, ehe es irgendwann ins Nirvana gelangt. Fest steht auch, dass Nirvana um meine Reinkarnation, aka Geburt, herum ihre letzten Konzerte gaben und Kurt Cobain Anfang April tot aufgefunden wurde. Ein Jahr zu spät, um seine Reinkarnation zu sein. So ein Pech aber auch. Oder sollte ich mich doch eher glücklich schätzen? Erstmal recherchieren, wie das jetzt noch schnell war. Überdosis und Selbstmord? Mord? Totschlag? Unfall? Das will man als Reinkarnation vielleicht doch nicht übernehmen. Erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Erstmal Packerlsuppe, erstmal Bier, erstmal Aspirin, erstmal in die Horizontale. Von Schlaf kann wieder keine Rede sein. Erstmal offenen Auges Nachtträumen. Erstmal offenen Auges dahin vegetieren. Morgen wieder Packerlsuppe.

Vierhundert Menschen suchen via Google monatlich nach „zeugungstag berechnen“. Dieses Monat bin ich einer davon. Der wahrscheinlichste Zeugungstermin zu meinem Geburtstag ist der 22. April 1993. Möglich ist der Zeitraum zwischen 8. April und 6. Mai. Wem ich also bisher noch gar keine Beachtung geschenkt habe, sind die Anfang-Mai-Gestorbenen. Das wäre zum einen Inge Stolten, quasi ein Gegenteil von Johannes Schäfer und damit karmapunktemäßig schon wahrscheinlicher. Auch interessant: Julio Gallo, Mitgründer des weltgrößten Weingutes, oder Pierre Bérégovoy, der einen Tag vor Gallo verstarb, durch eine Kugel, die er sich allem Anschein nach selbst in den Körper gejagt hat. Am Tag nach Gallo starb außerdem Robert De Niro; Senior natürlich. Aber, dass ich erst im Mai reinkarniert sein soll, ist grundsätzlich leider unwahrscheinlich. Leider aufgrund der folgenden Persönlichkeit: Ivy Benson, britische Bandleaderin und Gründerin der reinen Frauenband Ivy Benson and her Rhythm Girls. Das war 1939, ein Anagramm meines Zeugungsjahres, wohlgemerkt, wäre also passend. 1975 wurden in Großbritannien reine Frauenbands im übrigen verboten.

Mein Magen knurrt. Erstmal Fertigpizza. Erstmal Kekse, erstmal Cola, erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Da muss es doch irgendwo ein Zusammenhang geben. Da muss doch irgendwo eine Nähe bestehen. Sollen das alles wirklich einfach unzusammenhängende Zufälle sein? Wo ist die Verbindung von De Niro zu Grizodubova, was hat Schäfer mit Stolten zu tun? Welchen Schmetterlingseffekt hat Gallo ausgelöst, dass Bérégovoy zu dem Schluss kam, es sei eine gute Idee den Abzug zu ziehen? Mir will in meinem dunklen, vom Bildschirmlicht beleuchteten Kämmerchen kein Licht aufgehen. Wo hat das alles begonnen? Wer hat meine Reinkarnation zu verantworten? Bin ich etwa langsam am Durchdrehen? Bin ich überhaupt eine Reinkarnation und wenn nicht, was bin ich dann? Wann hab‘ ich eigentlich das letzte Mal länger als 3 Stunden geschlafen? Der Timer piepst, ach ja, die Pizza.

Im Wikipedia-Artikel klingt alles nach Suizid. Cobain soll sich selbst umgebracht haben. Natürlich. Abschiedsbrief, „It’s better to burn out than to fade away.“, davor schon Suizidversuch mit Beruhigungsmitteln, Heroinüberdosis, Kopfschuss aus dem eigenen Gewehr, ergibt Sinn. Interessant aber, wer seine Reinkarnation sein könnte. Die Leute sind heute 25 Jahre alt. Es sind zum größten Teil Fußballer*innen, Schauspieler*innen und Models, die mit 25 schon so viel erreicht haben, dass ihnen ein Wikipedia-Artikel zuteil wurde. Ich klappe den PC zu. Ich kann mit meinen Recherchen ja gar nicht alle potentiellen Reinkarnationen ausfindig machen. Was, wenn ich die Reinkarnation der alten Nachbarin meiner Eltern bin? Die hatte doch bestimmt keinen Wikipedia-Artikel. Ich resigniere. Das Internet, die Menschheit, sind mir eine Nummer zu groß, das mit der Reinkarnation ist mir zu überwältigend. Was, wenn Leute wie Bérégovoy und Cobain den Fluss der Dinge durcheinandergebracht haben und die Menschen gar nicht nach Plan reinkarnieren konnten. Was, wenn alle Mörder*innen, Krankheiten, Unfälle und andere unnatürliche Todesursachen den Plan durcheinanderbringen? Berechnen die Planmachenden das überhaupt mit ein, dass man nicht nur an Altersschwäche stirbt? Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen würde. Und fest steht auch, dass ich womöglich seit Monaten kaum geschlafen, kaum gegessen habe. Fest steht, dass nichts fest steht.

Durch die Jalousien fallen feine Streifen Licht ins Zimmer. Ich muss wieder daran denken, dass die so heißen, weil alte, weiße Männer eifersüchtig waren, dass Blicke auf ihre Angetrauten geworfen werden konnten. Ich muss wieder daran denken, dass es draußen auch noch eine Welt geben soll, jenseits der Wikipedia-Artikel, in der auch Menschen sterben und womöglich reinkarniert werden. Ich muss wieder an Grizodubova, Descaves und Prokofjev denken. Wir sterben alle irgendwann und nimmt man diese drei Menschen als Referenzgruppe, sterben die meisten von uns in Moskau.

Daphne Elfenbein: Daphne Elfenbeins Leichenschmaus

Trauerweiden sind nicht traurig. Sie haben lediglich ein Bündnis mit der Schwerkraft. Drum lassen sie ihre Zweige runter hängen, statt sie in den Himmel zu stemmen wie die anderen Bäume, die Pappeln zum Beispiel. Überdies können sie ihre Finger ins Wasser tupfen, wenn ihnen zu warm ist. Das ist ökonomisch, ökologisch und nachhaltig. Jawohl! 

Daphne Elfenbein findet, dass Trauerweiden zu Unrecht auf Friedhöfen herumstehen. Wenn es auf Friedhöfen keine Trauerweiden gäbe, vielleicht würden dann nicht so viele Hinterbliebene weinen an den offenen Gräbern, die im Totenmonat November besonders häufig weit auseinanderklaffen und Einblicke in furchtbare Abgründe bieten… die Möglichkeit, selbst zu sterben vielleicht…

Es ist nicht gesund, sich an der Trauer zu weiden. Und dann einen Baum auch noch Trauerweide zu schimpfen, weil man glaubt, er ließe den Kopf hängen, wie die Menschen es tun. Das stimmt einfach nicht.

Drum hat Daphne Elfenbein beschlossen, ihre eigene Beerdigung zu feiern. Damit sie noch zu Lebzeiten was davon hat. Schließlich möchte sie wissen, wer sich noch etwas aus ihr macht und wer an ihrem offenen Grab die Augen rollt und mit schiefem Grinsen murmelt: Na endlich hat sie rübergemacht, wurde auch Zeit…

Na warte, euch werde ich’s zeigen! Schwört Daphne Elfenbein, als sie ein Café betritt und es sich in einen schwarzen Sessel fläzt, um ihr Schreibzeug auszupacken. Nicht dass sie jetzt einen Beitrag für Eisenbart und Meisendraht schreiben würde, nein, sie zückt den Stift und schreibt in großen Lettern „GÄSTELISTE“ auf den leeren Papierbogen. 

Dann legt sie eine Pause ein und schlürft Grünen Tee. Dazu gibt es ein Quarkkeulchen. Mit dem Löffel sticht sie in die fettgebackene Zuckerhülle und reißt ein Fenster auf, durch das sie Zugriff zur Vanillecreme erhält. Diese wird nun ausgelöffelt und lange im Gaumen zerdrückt, bis alle Geschmacksknospen aufgewacht sind und die Creme gemächlich den Rachen hinunterfließt. 

Dabei fallen Daphne Elfenbein sämtliche Leute ein, die NICHT auf die Gästeliste kommen. Also muss sie noch gar nichts schreiben und kann das Quarkbällchen auslöffeln, bis nur noch eine krosse braune Hülle übrig ist die sie mit zwei Fingern aufhebt und reinbeißt….

Keine Elektroroller-Fahrer, Keine Impfgegner, Veganer, AfD-ler, Fanatiker, Besserwisser und Weltuntergangs-Propheten. Und keine… ja was…. Keine…. VERWANDTEN!! Ganz besonders die sind ausgeladen. Gestärkt von Grüntee und Quarkkeulchen erklärt Frau Elfenbein auch warum:

Mit Verwandten verbinden sie noch unerwünschte Reste von Bindung, die ihr Ableben am Ende doch noch zum Drama hochstilisieren könnten. Also keine Verwandten zum Abschied. Denen läuft man im Jenseits sowieso über den Weg…gezwungenermaßen…

Ja wer soll denn dann eingeladen werden? 

die Dame, die immer auf dem Leopoldplatz schläft, die Säuferin von nebenan, der kleine Inder, der für Lieferando in die Pedale tritt, die Oma, die auf dem Sterbebett noch Sprachkurse gibt, all diejenigen, die ihre selbst gemachten Tontöpfchen, Recyling Täschchen und Natur-Seifen auf dem Wochenmarkt verkaufen…alle, die sich ein Talent zum Fröhlichsein bewahrt haben. Auch Zufällige Passant*innen sind willkommen! Es gibt Englischen Teekuchen und Selleriesalat mit Speckwürfeln.

Am Totensonntag im November findet Daphne Elfenbeins Leichenschmaus statt. Motto: Wir taufen die Trauerweide um. 

Vorschläge bitte einreichen unter: daphneelfenbein@online.de

Vom Weinen wird gebeten, während der Veranstaltung Abstand zu nehmen. Spenden für die Beerdigungskosten sind willkommen.

Es freut sich auf euch: Eure Daphne Elfenbein