Daphne Elfenbein: Daphne Elfenbeins Leichenschmaus

Trauerweiden sind nicht traurig. Sie haben lediglich ein Bündnis mit der Schwerkraft. Drum lassen sie ihre Zweige runter hängen, statt sie in den Himmel zu stemmen wie die anderen Bäume, die Pappeln zum Beispiel. Überdies können sie ihre Finger ins Wasser tupfen, wenn ihnen zu warm ist. Das ist ökonomisch, ökologisch und nachhaltig. Jawohl! 

Daphne Elfenbein findet, dass Trauerweiden zu Unrecht auf Friedhöfen herumstehen. Wenn es auf Friedhöfen keine Trauerweiden gäbe, vielleicht würden dann nicht so viele Hinterbliebene weinen an den offenen Gräbern, die im Totenmonat November besonders häufig weit auseinanderklaffen und Einblicke in furchtbare Abgründe bieten… die Möglichkeit, selbst zu sterben vielleicht…

Es ist nicht gesund, sich an der Trauer zu weiden. Und dann einen Baum auch noch Trauerweide zu schimpfen, weil man glaubt, er ließe den Kopf hängen, wie die Menschen es tun. Das stimmt einfach nicht.

Drum hat Daphne Elfenbein beschlossen, ihre eigene Beerdigung zu feiern. Damit sie noch zu Lebzeiten was davon hat. Schließlich möchte sie wissen, wer sich noch etwas aus ihr macht und wer an ihrem offenen Grab die Augen rollt und mit schiefem Grinsen murmelt: Na endlich hat sie rübergemacht, wurde auch Zeit…

Na warte, euch werde ich’s zeigen! Schwört Daphne Elfenbein, als sie ein Café betritt und es sich in einen schwarzen Sessel fläzt, um ihr Schreibzeug auszupacken. Nicht dass sie jetzt einen Beitrag für Eisenbart und Meisendraht schreiben würde, nein, sie zückt den Stift und schreibt in großen Lettern „GÄSTELISTE“ auf den leeren Papierbogen. 

Dann legt sie eine Pause ein und schlürft Grünen Tee. Dazu gibt es ein Quarkkeulchen. Mit dem Löffel sticht sie in die fettgebackene Zuckerhülle und reißt ein Fenster auf, durch das sie Zugriff zur Vanillecreme erhält. Diese wird nun ausgelöffelt und lange im Gaumen zerdrückt, bis alle Geschmacksknospen aufgewacht sind und die Creme gemächlich den Rachen hinunterfließt. 

Dabei fallen Daphne Elfenbein sämtliche Leute ein, die NICHT auf die Gästeliste kommen. Also muss sie noch gar nichts schreiben und kann das Quarkbällchen auslöffeln, bis nur noch eine krosse braune Hülle übrig ist die sie mit zwei Fingern aufhebt und reinbeißt….

Keine Elektroroller-Fahrer, Keine Impfgegner, Veganer, AfD-ler, Fanatiker, Besserwisser und Weltuntergangs-Propheten. Und keine… ja was…. Keine…. VERWANDTEN!! Ganz besonders die sind ausgeladen. Gestärkt von Grüntee und Quarkkeulchen erklärt Frau Elfenbein auch warum:

Mit Verwandten verbinden sie noch unerwünschte Reste von Bindung, die ihr Ableben am Ende doch noch zum Drama hochstilisieren könnten. Also keine Verwandten zum Abschied. Denen läuft man im Jenseits sowieso über den Weg…gezwungenermaßen…

Ja wer soll denn dann eingeladen werden? 

die Dame, die immer auf dem Leopoldplatz schläft, die Säuferin von nebenan, der kleine Inder, der für Lieferando in die Pedale tritt, die Oma, die auf dem Sterbebett noch Sprachkurse gibt, all diejenigen, die ihre selbst gemachten Tontöpfchen, Recyling Täschchen und Natur-Seifen auf dem Wochenmarkt verkaufen…alle, die sich ein Talent zum Fröhlichsein bewahrt haben. Auch Zufällige Passant*innen sind willkommen! Es gibt Englischen Teekuchen und Selleriesalat mit Speckwürfeln.

Am Totensonntag im November findet Daphne Elfenbeins Leichenschmaus statt. Motto: Wir taufen die Trauerweide um. 

Vorschläge bitte einreichen unter: daphneelfenbein@online.de

Vom Weinen wird gebeten, während der Veranstaltung Abstand zu nehmen. Spenden für die Beerdigungskosten sind willkommen.

Es freut sich auf euch: Eure Daphne Elfenbein

Margit Heumann: „Therapie: Keine“

Mit dem Fahrrad durch die Stadt und alles wie immer. Eine Sekunde später alles anders: Aufgestoßene Autotür, keine Chance zu reagieren, kopfüber auf die Gegenfahrbahn, ein harter Aufschlag, Auto über mir, Bewusstlosigkeit. Notoperation, künstliches Koma, Krankenhauswochen, Reha-Monate, Therapien.

Am Ende: Körperlich wieder hergestellt, chronische Apperzeptionsstörung im Bereich Lesefähigkeit, therapieresistent.

Die Liebe meines Lebens verloren: das Lesen. Für immer. Mit brennenden Augen starre ich auf die Zeilen, zermartere mir das Gehirn. Ich sehe die Zeichen, das müssen Buchstaben sein, aber sie sind mir fremd geworden, lassen sich nicht mehr definieren, nicht zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen. Bitter für mich Vielleser und Wortklauber. So bitter, doch nichts gegen das, was mir droht, wenn sich die Buchstaben nach und nach auf jeder Ebene verweigern.

Schon ist es soweit, dass sich meine Handschrift verabschiedet. Hat sie oder hat sie nicht? Noch gehorcht mir der Stift, malt Zeichen auf Papier, gehören sie zum Alphabet? Ich kann nicht kontrollieren, ob das Gekritzel Buchstaben sind, Sinn ergeben. Die Krakel bleiben bedeutungslos, buchstäblich nichts sagend. Wie kann ich schreiben, wo meine eigene Schrift für mich unlesbar ist?

Das Gehör kann mich nicht entschädigen. Hören ist Sprache, und Sprache sind Laut gewordene Buchstaben. Wem sie ihre Bedeutung nicht mehr erschließen, dem übermitteln sie keine Inhalte. Taubheit ergreift mich, und Stillschweigen rundherum, denn wozu, bitteschön, soll jemand mit einem Gehörlosen reden?

In Windeseile verliere ich folglich meine Sprache. Laute und Buchstaben kommen mir abhanden, lassen sich nicht mehr formen, geschweige denn mit Bedeutung versehen. Das Ende vom Lied ist Sprachlosigkeit, weil ich weder lesend noch schreibend noch hörend auftanken kann.

Mit dem Verlust der Sprache schwindet mein Denkvermögen. Keine Überlegung, keine Erkenntnis ohne Worte, alle Kopfarbeit basiert auf Buchstaben. Vielleicht, mit Glück, kann ich mich noch eine Weile in den alten, längst zu Ende gedachten Denkstrukturen tummeln. Neue Gedankengänge lassen sich nicht mehr bilden. Nur eine Frage der Zeit, wann ich das Nachdenken, das Vergleichen, das Kombinieren, das Hinterfragen und das Zweifeln verlerne. Nur eine Frage der Zeit, bis ich ohne Verstand bin.

Bleibt das Gefühl. Fühlen ist buchstabenfrei, sollte man meinen. Falsch gedacht: Nur in Worte gefasste Gefühle sind echte Gefühle. Reflexion unterscheidet den Menschen vom Tier. Ohne Reflexion vegetiere ich rein triebgesteuert dahin, nicht wissend, bin ich oder bin ich nicht. Schrecklicher Gedanke. Und doch: Wie ein Tier sein – welche Gnade wäre das! Denn mir schwant Fürchterliches: Eine dumpfe Ahnung von Denken, Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen wird bleiben, und diese dumpfe Ahnung von ehemaligem Menschsein wird mich in den Wahnsinn treiben. Therapie: Keine.

Lea Schlenker: Ich sammle Geister und Kleingeld

Comics Marken Kissenbezüge
Ich bin dieses Wesen 
das sammeln muss

Ich sammle die kaputten Aschenbecher
Die du zwischen deinen Umzugskartons in der Garage aufbewahrst
Ich sammle Geister aus Flaschen
Rosen aus Willkür
Kleingeld aus fremden Taschen
Dreissig Milliarden Tränen nur wegen eines Teddybären

Ich sammle Männer 
die mir das Schreiben beibringen könnten
Aber nicht wollen
Weil ich zu süss und zu klebrig bin
im Geiste aber bereits ihre Autoreifen aufgeschlitzt habe

Herdplatten Familienfeste Albträume
Ich bin dieses Wesen das schreien muss
Fear and Loathing aus dem Backofen
Lou Reed schreit Am-ph-ph-ph-ph-ph-ph-phetamines

Ich schreie Erinnerungen an Menschen die mit Anglizismen beten 
Verdränge Erinnerungen an schlecht beleuchtete Fussgängerstreifen
Schwarze Polos die blind in die Nacht starren
Bade in Erinnerungen an die süssen Popcornnächte
An die Champagnerküsse
An deine kalte Nasenspitze wenn du mich von der Arbeit abholst
Sammle Erinnerungen an weinende Eltern und das grosse Ganze

Mein Gott ja 
Ich bin dieses Wesen das

Margret Bernreuther: Die 69.-€-Platte

„Du hast gerade 69€ für eine Platte ausgegeben? Also, nicht mal eine Platte, sondern eine Single, weil es geht ja nur um dieses eine Lied? Ich dachte, du musst ein bisschen auf dein Geld aufpassen? Wegen Corona, ich mein harte Zeiten. Was ist denn mit dem Lied? Spiel mal vor! Ja schick mir den Link! Also, ich weiß ja nicht, das ist jetzt finde ich kein Wocheneinkauf wert. Also. Da würde ich den Kindern doch vielleicht das nächste Mal lieber sowas wie neue Sandalen kaufen. Ich mein, der Sommer hat ja gerade erst angefangen. Und deine Stereoanlage ist doch eh voll im Arsch. Du kannst also noch nicht mal ordentlich aufdrehen daheim. Ja, schön wenn deine Nachbarn da nicht so traurig drüber sind. Ich kapier einfach nicht warum du das Lied nicht einfach streamst, du hast mir doch den Link geschickt. Also für mich ist das raus geschmissenes Geld. Ich würde das Ding zurückschicken. Ja sag mal, wie sieht das denn schon wieder aus. Du hast die noch keine 24 Stunden und dann sieht die Platte so aus. Also Mint kannst du knicken. Die wirst du noch nicht mal mehr als very good los. Warum willst du sie denn überhaupt nicht zurück schicken? Ja erzähl mal von deinem Plan. Deswegen hast du die Platte gekauft? Kann ich dir gleich sagen, klappt nicht. Das hat doch noch nie geklappt. Ich mein wäre ja was anderes, wenn du dir das Lied selber drauf schaffst und es auf der Bühne oder unter seinem Fenster performest. Das wäre ein Zeichen, aber so. Wie soll der das denn schnallen. Und dass du ihn meinst.
Du hast jetzt 69 Euro ausgegeben, weil du dir ernsthaft ausmalst das du bei der nächsten Gelegenheit das Lied auf den Plattenteller legst und wie durch Zauberhand weis der sofort ALLES?
Meine Güte bist du bescheuert. Und was machst du, wenn er nicht kommt? Immer einpacken?
Und dann weiß ich schon wie das Ding in ein paar Wochen aussieht. Wieso passt du denn eigentlich nicht besser auf deine Platten auf. Hier zum Beispiel, sowas ist echt traurig zu sehen.
Aber viel trauriger ist, das du immer denkst, dass es irgendjemanden interessiert.
Ja, sorry, das war jetzt hart. Aber du musst echt an dir arbeiten. Also wirklich an allem. Du kannst doch so nicht weiter machen. Machst du denn auch mal was für dich? Also, mal Yoga oder ein ausgiebiges Bad. Stimmt schon, Musik hören ist schon was für dich selber, aber nicht, wenn du die ganze Zeit drüber nachdenkst wie du andere damit beeindrucken kannst. Dann ist das ja wohl weniger, was du für dich machst. Wenn du Lieder für andere aussuchst.
Hast du halt nicht gelernt. Mal bei dir zu bleiben. Ich mach dir keinen Vorwurf. Ich sag nur, das ist mal, was du angehen solltest.“. 

Matt S. Bakausky: Leidenschaft

Stolz präsentierte ich ihr meine Sammlung. Sie war fasziniert und stellte Fragen zu den verschiedenen Exemplaren im Ordner. Sie war willig, an meiner Sammelleidenschaft teilzuhaben, schlug sogar vor, dass wir einen Ordner für gemeinsame Kinder anlegen könnten, sodass auch bei ihnen dieses Interesse geweckt werden würde. Ich war im siebten Himmel, mir war klar, dass ich diese Frau heiraten würde und dass ich ihre Zehennägel, so wie meine, Jahr für Jahr in einen Ordner abheften würde. Und nach 9 Monaten würden wir dann einen kleinen Ordner anlegen, für die Zehennägel unseres ersten Kindes. Eine finale Prüfung würde sie noch bestehen müssen. Beim Essen stellte ich süßen Senf und Ketchup auf den Tisch. Dazu hatte Weißwürste und Brezen zubereitet. Gespannt blickte ich zu ihr rüber, versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Doch dann sah ich rot und mein Traum vom Teilen meines Lebens mit dieser Frau verschwand. Nein, nein, nein, Tausendmal nein. Kein Ketchup zu Weißwürste. Ich verabschiedete mich, ohne mir etwas anmerken zu lassen von der Dame. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, blockierte ich ihre Nummer und installierte eine neue Dating-App.

Michael Schmidt: Wuiser und das Sammeln

„Wer Sachen sammelt, hat es in der Pandemie leichter gehabt. Meine Nachbarin zum Beispiel sammelt alte Bügeleisen. Ja, alte Bügeleisen! Die hat sie über die ganzen Jahre zusammengetragen und während dem Lockdown, da… ja, da hat sie… Naja, da wird sie sich den ganzen Haufen halt angeschaut haben. Da hat sie was zum Anschauen gehabt mit ihren Bügeleisen da. Zumindest ist ihr nicht langweilig geworden, während dem Lockdown, hat sie gesagt, weil sie ihre Bügeleisen hat. Und der Cousin von meinem Mann, der sammelt auch. Der sammelt alte Unterlagen über Baustellen von der Bahn. Damit er am Ende von seinem Leben der Bahn mal vorlegen kann, wo seine Lebtag lang all ihre Züge stecken geblieben sind, sagt er. Aber das spricht schon zwei andere Sachen an vom Sammeln: Erstens kann man davon fanatisch werden. Und dann noch die Geschichte mit dem Platz. Wo tut man die ganzen Dinge bloß hin? Ein Kollege von mir zum Beispiel. Bei dem waren wir einmal spontan in seiner Wohnung, weil wir ihn zum Geburtstag haben überraschen wollen. Und wie wir mit der Überraschung so reinkommen, tja, da waren wir selber ganz überrascht. Als wenn eine Bombe eingeschlagen hätt dort! Alles voll mit Bücher vollgestopft! Bis unter die Decke! Da muss sich schon der Boden durchgebogen haben in dem unten seine Bude rein. Und zwischen den Bergen von den Büchern hat er sich grad ein, zwei Weglein freigeschaufelt gehabt. Und wie wir mit der Überraschung zu ihm reintun, sitzt er ganz hinten in der Ecke – da hat er grad noch ein Tischlein eingezwickt gehabt – sitzt er ganz, ganz hinten in der Ecke unter einer Funzel und im Unterhemd und schneidet sich ein Brot runter, weil er ansonsten nichts mehr zum Beißen und zum Anziehen gehabt hat! Freilich, einen Anzug für die Arbeit hat er schon noch gehabt. Darum wären wir auch sonst nie draufgekommen, dass er so arm und so fanatisch ist und privat nichts anderes kennt wie das Sammeln von seinen Büchern da. Herrgott, was die Leut nicht alles sammeln! Der Professor Wuiser bei uns im Haus ja auch. Und der hat auch gesagt, dass ihm seine Sammlung die Pandemie erleichtert hat. Bloß WAS der sammelt, das weiß bis heute noch kein Mensch. Nur, dass er sich für seine Sammlung ein zweites Kellerabteil bei uns zugelegt hat. An der ersten Tür hat er ja ein Schild mit der Aufschrift „Geheimarchiv Wuiser – Professor und Akademiker in Rente“ hängen. Aber drin ist da nix. So viel wissen wir. Weiß das ganze Haus bei uns. Das ist nur eine Attrappe für die Einbrecher, und das weiß auch ein jeder. Nein, die eigentliche Sammlung vom Herrn Wuiser ist ja in seinem zweiten Kellerabteil drin. Und das muss riesig sein! Aber da hängt eben ein anderes Schild, mit der Aufschrift „Vorsicht Starkstrom“. Und dass das keine Attrappe ist, haben wir da gemerkt, wie es letztings bei uns wieder einen Einbrecher gegrillt hat. Schon den zweiten diesen Monat. Hat gar nicht schön ausgeschaut, das Ganze! Aber probieren tun sie’s halt allweil wieder, obwohl ich ihnen sogar einen Zettel ins Stiegenhaus gehängt hab: „Von Einbruch ist dringend abzusehen!“ Hilft aber nichts. Darum hat der Professor Wuiser auch den Starkstrom nochmal um eins hochgedreht. Sicherheitshalber halt. Aber mit seiner Sammlung, sagt er, ist er gut über die Pandemie gekommen. Was? Die Einbrecher? Ja, die nicht. Kann ich mir nicht vorstellen. Auf gar keinen Fall, bei der Rauchwolke. Und bei dem Gestank! Das hat bis zu uns in die Wohnung rauf gestunken. Sagen wir allweil noch zu unserem Enkel: Pass auf, wenn’s so derb stinkt, dann hat’s grad vom Professor Wuiser einen Einbrecher erwischt. Da brauchst dir nichts groß dabei denken.“