wegbeamen
unnötig
in wärme lüfteln und
in wilden wolkenwelten
voller kumulus
wann immer wellen schlagen
liebend auf schaumkronen tanzen
auf himmelspferden gallopieren
im eigenen Kämmerchen
wohlwollend
auch zum selbst
das geistige lotterbett
nicht besudeln oder
maßstab
sein lassen
für blaue Stunden
wer weiß wo
Kategorie: Beiträge
Frédéric Valin: Wohnen
Nachts um zwei ist wieder was los. Mein Zimmer grenzt an die Küche, und Tag und Nacht haben für Ilse nur noch marginale Bedeutung; häufig kriegt sie nachts um zwei Lust auf, sagen wir mal, eine heiße Milch. Blöderweise steht keine heiße Milch im Kühlschrank, man braucht einen Topf – den alten, verbeulten, blankgescheuerten am besten, in dem wird schon seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten die Milch heiß gemacht.
Dazu braucht es auch den Herd, ein altes Ding, das noch mit Gas betrieben wird, und der keinen Anzünder hat; man muss ihn mit dem Feuerzeug entflammen. Außerdem ist er widerspenstig, das Feuerzeug muss schon im richtigen Abstand zum Ventil gehalten werden, im richtigen Winkel sowieso, und das ist eben schwierig, wenn die Hände zittern und die Ungeduld wächst.
Es dauert nicht lang, bis Ilse das erste Mal ein enerviertes „Du Scheißding“ entfährt, und dann dauert es noch kürzer, bis sie es ein zweites Mal sagt. „Geh endlich an, Du Scheißding!“ An guten Tagen – an guten Nächten vielmehr – bleibt es dabei. Irgendwann klappt das alles schon, und am nächsten Morgen ist dann alles wie immer, bloß mit zwei drei Milchflecken auf dem Herd. In schlechten Stunden aber ist der erste Fluch nur der Riss im Damm, und es drängt immer mehr Gefühl und Frustration heraus, warum die Scheiße nicht so will, wie sie soll, warum eigentlich alles so gottverdammt schwer geworden ist, was zur Hölle das alles eigentlich noch soll.
Und wenn der Damm erstmal gerissen ist, dann bleibt es auch nicht bei der Scheißigkeit des Herdes, schließlich ist dieser Herd nicht die einzige Zumutung; nein, die Scheißtabletten, die nichts nutzen, fliegen dann in die Ecke, und bald wird ein Fluch zum Himmel geschickt – „Der liebe Gott, ja, wie kann der das machen, man muss ja blöde sein, um an einen Gott zu glauben, der ist ein Schwein, eine Dreckssau…“ Hier hält Ilse kurz inne. „Nein“, sagt sie dann, „Schweine sind nicht so, die Schweine können nichts dafür.“ Aber es ist nur eine kurze Unterbrechung, und es ist im Grunde egal, ob der Herd nicht funktioniert oder der Faden nicht durchs Nadelöhr will oder ein Brief, der wieder viel zu klein gedruckt ist, gekommen ist, obwohl sie eine Postkarte erwartet hat; schuld ist Deutschland, dieses Drecksland, das voller Nazis ist, immer schon war und immer so zivilisiert tut. „Wie kann ein Land sich zivilisiert nennen“, fragt sie, „und ich habe einen solchen Herd? Dieses Drecksland, diese Arschlöcher alle, meinen sie wären sonstwer!“ und mal ganz im Ernst: wer könnte da widersprechen. Ich nicht.
Daphne Elfenbein: Wohnen…
… ist ganz schön anstrengend, findet Daphne Elfenbein. Immer gibt es irgendwas zu putzen.
Nachdem Gastronomie, Museen und Wellness von Virus-Verordnungen vermiest sind, wird nicht mehr entspannt. Doch selbst fürs Nicht-Entspannen braucht man den passenden Sessel. Ach, Frau Elfenbein hat beim Putzen immer ganz philosophische Gedanken und eine Welle der Wonne wogt durch ihr Herz, als sie den Schmutzlappen im Schmutzwasser auswringt und nochmal über ihre Fußtapsen wischt. Ein blanker Boden – eine Wohltat! Sie wird sich einen Sessel kaufen!
Je länger das mit dem Zwangswohnen währt, um so sichtbarer wird der Schmutz. Frau Elfenbein hat den Dreck nie wahrgenommen, als sie noch in der weiten Welt vagabundierte. Jetzt wuchtet sie täglich Staubwedel, Wischlappen und Bohnerwachs gegen den stetig niedersinkenden Staub. Der kommt nicht aus dem Weltall, sondern wird abgeworfen von Haut und Haar, Hemd und Hose, Hausdecke und Handtuch… und einer haarigen Katze.
Heftig pfeffert sie Wischlappen und Schürze in einen Winkel. Die Sache mit dem Sessel will ihr nicht aus dem Kopf. Mit Maske und Impf-App marschiert sie zum Möbelhaus. Soll doch die Katz die Staubmäuse jagen. Ein neuer Sessel muss her… Ein Sessel, der sich ergonomisch Frau Elfenbeins aristokratischem Hintern anpasst, dynamisch schwingend, hydraulisch verstellbar, leicht. Nur so wird Wohnen wieder zur Wohltat! Sonst ist Frau Elfenbein ja so anspruchslos wie ein Käsebrötchen. Doch die Pandemie fordert ihren Tribut. Wer sich anpasst, überlebt!
Zum Glück ist Shopping noch nicht infektiös, nachdem jeglicher Spaß virusverdächtig auf dem Altar des Infektionsschutzes geschlachtet wurde. Knirschend zerbröckelt eine gebrannte Mandel unter Daphne Elfenbeins dritten Zähnen, als sie in der Cafeteria sitzt und Prospekte studiert, während eine Putzfrau mit OP-Maske den Feudel über die Bodenfläche schwingt. Dann setzt sich ein maskierter Mann im Möbelhaus-Kostüm an Frau Elfenbeins Tisch und mit 1,5 m Abstand und einem Tablet entwerfen sie gemeinsam einen Fernsehsessel mit hellbraunem Lederbezug und Alugestell. Das Design wird dann gleich zum 3-D-Druck ins Depot gegeben. Frau Elfenbein freut sich schon, bald federleicht im Sessel zu wippen, dem Himmel entgegen, der unter der Zimmerdecke endet.
Erschöpft kehrt sie abends vom Einkaufen zurück und reißt sich die Maske vom Gesicht. Endlich wieder wohnen! Doch die von Ikea und co. beworbene Wohn-Wellness muss warten! Da ist noch die Wanne auszuwischen und Wäsche zu waschen. Doch was wird nicht alles auf morgen verschoben. Denn nun wird weitere zum Wohnen wichtige Ware im Web bestellt. Es fehlt noch so Vieles.
Wenigstens ist Wohnen nicht ansteckend. Pech hat, wer sein Heim mit anderen teilt, oder mit lebensmüdem Leichtsinn noch Kontakte pflegt. Der einst so geschätzte Mitmensch ist zur Infektionsgefahr mutiert! Geduckt gehen wir aneinander vorüber. Auch Augenkontakt weckt schon Argwohn. Sirenengeheul von früh bis spät, wenn sie die Todgeweihten abholen, oder Durchgedrehte aufsammeln. Der Rest hat sich beim Lüften den Tod geholt.
Frau Elfenbeins Nachbarn zum Beispiel: Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis die auch infiziert sind. Dauernd klingeln Leute bei denen an der Tür und sie grölen und lachen und reden laut durcheinander. Sie presst das Ohr an die Wand, einen Zettel mit der Nummer der Notfallrettung in der Hand: Husten und röcheln sie schon? Wetten, die sind morgen alle in Quarantäne? Sie dichtet schon mal die Türen ab…
Bei Kerzenschein und Kräutertee feiert Frau Elfenbein ihre unbefleckte Gesundheit und wartet auf Ware, entschlossen, zu den Überlebenden zu gehören, wenn das Virus die Menschheit dahingerafft hat. In Ihrem Schwingsessel träumend produziert sie post-pandemische Prognosen: Sie wird ihre Waren nur noch aus den Wohnungsauflösungen der Corona Opfer erwerben, denn Amazon hat keine Mitarbeiter mehr. Sie wird ihr Gemüse selbst anbauen, denn der Rosenkohl wächst nicht mehr bei Penny. Nur ihr aerodynamischer Sessel. Auf dem wird sie dann irgendwann, wenn alles geputzt ist und das Wohnen beginnen kann, tief durchatmen ….
Riela Dobby: Wohnen
Ich habe im Bad ein Fenster, dass rübergeht zu meinem kleinen Zimmer. Dort habe ich im Sommer immer das Außenfenster gekippt und lüfte nachts so, ohne dass sich eine Katze einklemmen kann. Abends beim Zähneputzen nehme ich wahr, dass im Zimmer nebenan etwas Großes rumflattert. Rasch schlage ich das Badfenster zu . Dass es sich um keinen Falter gehandelt haben kann, war mir bei der Größe sofort klar. Aber ich war müde und bin erstmal schlafen gegangen. Nach einem stärkenden Frühstück, musste ich mich der Situation stellen. Ich ging ins Zimmer. Es war nichts zu sehen. Aber überall lagen die kleinen Kackböllerchen rum. Also holte ich den Staubsauger und saugte. Plötzlich taucht dieses Monster auf und flattert über meinem Kopf herum. Ich schreie gellend auf, reiße ein Handtuch aus dem Wäschekorb und drehe es propellermäßig über meinem Kopf. Immer noch schreiend , kämpfe ich mich zur Türe und verlasse den Raum. Ich bin einer Ohnmacht nahe und am ganzen Körper läuft mit der Angstschweiß herunter. Mit letzter Kraft torkele ich auf meinen Sessel zu und lasse mich dort hineinfallen, bevor mir die Sinne schwinden. Als ich wieder halbwegs normal atmen kann, rufe ich bei meiner Tierärztin an und frage, was ich machen soll. Sie meint, ich müsse zurück ins Zimmer und das Fenster öffnen. Durch den Türschlitz sehe ich aber, dass dieses gefährliche Wesen immer noch wie blöde um die Lampe kreist. Für mich also keinerlei Option, mein Leben auf‘s Spiel zu setzen und dort einzutreten. Nach einer halben Stunde war die nachtaktive Häßliche wohl erschöpft und ich sah sie nicht mehr. Todesmutig und vor lauter Angst dem Wahnsinn nahe, schleiche ich – nun mit 2 Handtüchern bewaffnet- ins Zimmer. Ich pirsche mich ans Fenster heran, jeder Schweißtropfen, der zu Boden fällt, donnert in meinen Ohren. Endlich erreiche ich das Fenster und öffne es. Dabei entdecke ich dieses Untier am Boden und fange wieder zu schreien an, während ich es aus sicherer Entfernung mit dem Handtuch anfächere. Da erhebt sich das Geschöpf, breitet seine gewaltigen Flügel aus und …… fliegt erneut um mein Haupt herum. Die Hauswände im Hinterhof schicken mir meine gellenden Schreie als Echo zurück. Endlich entdeckt die wohl blinde Fledermaus das offene Fenster und entfleucht. Um mich selber etwas zu beruhigen, wiederhole ich mit zittriger Stimme, ja, schon fast einem Mantra gleich immer wieder den Satz:“ Ich habe es geschafft ! Ich habe es……!“ Ich wanke ins Badezimmer und spüle den Schweiß von meinem Gesicht. Dann beginne ich bei offener Türe das verunreinigte Zimmer zu saugen. Plötzlich verdunkelt sich der Raum und über mir kreisen zwei weitere, blutrünstige , hämisch dreinblickende Fleischfresser!!!!! Ich kreische in den höchsten Tönen und stolpere vor Panik fast erblindet in den Flur, gefolgt von der hungrigen Meute. Diese dreht nun mit regelmäßigem Flügelschlag eine Runde in meinem Schlafzimmer. Ich verschanze mich derweil im kleinen Flur vor der Toilette – wieder mit 2 Handtüchern bewaffnet. Mir ist klar , hier geht es schon längst darum, wer am Ende überleben wird! Es dauert nicht lange, da fliegt der Feind den Flur entlang, um meiner erneut habhaft zu werden! Mit lautem Gebrüll springe ich in den Gang, ein Handtuch propellert über meinem Kopf, um eine Landung auf demselbigen zu verhindern. Das andere drehe ich so schnell vor meinem Leib, dass ich fast abhebe. Nun treibe ich die speichelleckenden Biester zurück zum geöffnetem Fenster. Die Schallwellen meiner Schreie begleiten ihren Flug hinaus. Ich verlasse das ehemalige Kinderzimmer und schließe die Türe hinter mir. Vor Erschöpfung innerlich gelähmt, werfe ich mich auf mein Bett und verbleibe dort fast zwei Tage in einem Schockzustand. Wenn ich nun die Wohnung verlasse , spüre ich die stechenden Blicke meiner Nachbarn im Rücken. Sie überprüfen am Türspion, wann sie – vor mir sicher – ins Treppenhaus treten können.
Lea Schlenker: Aprikosenmänner
Ich lebe
Ich wohne in einem Kino
Lach nicht
Von Xanadu und Rosebud
Und wehende Blätter in lautloser Perfektion
Fülle ich meine Einkaufstaschen
Mit königsblauem Samt
Cinema
Für zwölf Franken
Und einer Videothek
In der ich alte Männer in verlorener Manier antraf
Hey ihr Aprikosenmänner
Jetzt kommt die Zeit
In der sich für euch alles ändert
Im Cinema
Meinem Zuhause
Nahm ich Platz auf staubigen Sitzen mit Butterflecken
Mein Vater war Ticketkontrolleur
Und meine Mutter das Stunt-Double von Grace Kelly
Immer nur Tee ist doch langweilig
Ich möchte ausnahmsweise mal Cherry Coke trinken
Und in Hollywood sein
Ich wurde geboren auf einer Filmrolle
Und werde auf meiner Schreibmaschine sterben
Mit Greenwood in den Ohren und dem Gedanken
Dass der Bundesrat hätte schneller reagieren können
Fuck 2021
Oder –
–
Oder wir heiraten
Tanzen auf dem Tisch
An den Schuhen matschige Bananen
Bis wir umfallen und uns das Genick brechen
Ich rufe an
Aus meinem Kino
Versprochen
Sobald ich einen Ort gefunden habe
An dem ich Empfang habe
Matt S. Bakausky: Heilbringender Müll
Meine Wohnung ist voller Müll.
Ein Freund ist jemand, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Müll zu verwerten. Ich sitze mit Schal um den Kopf und einer Sonnenbrille vor den Augen, auf dem Bett und jammere. Der Freund macht sich Kaffee, ich mir Tee. Er spült ab.
Der Freund packt riesige Mülltüten. Er versucht mich zu motivieren, mitzumachen. Die anderen soll ich vergessen. Er fragt mich, was ich so denke und ich sage ihm, dass ich nur denke, wenn ich rede. Sonst ist mein Kopf leer. Wir bringen den Müll gemeinsam runter.
Die Mantras aus dem Handy waren nervtötend und wir haben sie ausgemacht. Aber manchmal ist die Stille und ein Gespräch besser ohne musikalische Begleitung.
Ich sehe meinen Freund im Müllcontainer stehen, so drückt er das Altpapier zusammen. Dann möchte er das Pfand zurückbringen. Ich weigere mich. Beklage mich, dass es mir dreckig geht, dass Licht mich blendet, dass ich voll fertig bin. Dann ist mir klar. Der gibt nicht auf.
Er meint, es würde helfen. Sich um sich zu kümmern, seine Wohnung aufzuräumen. Also muss ich wohl mit.
Im Supermarkt gibt es einen Automaten, er nimmt fast alle Flaschen an. Nur zwei große Glasflaschen bleiben übrig. Der Typ kennt mich besser als ich mich kenne, sucht mir ein Getränk aus und etwas zu essen für morgen früh. Mein Lieblingseistee vom Dönerverkäufer, Bananen, Brot, Fleischsalat und Zwiebelwurst. Bei der Zwiebelwurst frage ich ihn, ob er meinen Müll durchsucht hätte. Ich weiß es selbstverständlich besser. Er kennt mich. Nachdem alles bezahlt ist, bekommen wir sieben Euro, siebenundsiebzig Cent Rückgeld, eine Glückszahl aus der Welt des Casinos.
Die Querdenker Demo ist jetzt um die Ecke bei mir angekommen. Polizisten laufen vorbei. Der Meister hilft mir, den Querdenkern zu verzeihen, sodass sie mich in Frieden lassen. Sie schreien mit einer lauten Stimme, man sieht nur blaues Licht von der Polizei und die Stimme ist komplett unverständlich. Ich sage zum Meister, dass sie Lügen und deshalb unverständlich sind. Ich weiß natürlich besser, dass sie nicht zufällig hier sind.
Wieder zu Hause hat mir der Freund einen Sessel leer geräumt, auf dem ich sitze und ich erzählen ihm wie es mir geht. Ich fange an zu weinen. Sage, dass ich beim letzten Mal ganz alleine war und die ganze Welt gegen mich, jetzt hätte ich jedoch Freunde, die mich beschützen. Ich erzähle, dass zurzeit die Psychiatrien zu sind und deshalb die Verrückten draußen herumlaufen und hinter mir her wären. Ich weine. Er umarmt mich, ist für mich da. Ich weine noch mehr. Dann muss er los, weiter arbeiten.
Er empfiehlt mir schlafen zu gehen und längere Texte zu schreiben. Er erzählt Geschichten von jemanden, der eine Reinigungskraft hat und dass man sich gegenseitig helfen muss. Verabschiedung mit Bro-Faust.
Ich sitze vor der Schreibmaschine. Und vor mir steht der kopflose Buddha als Figur und davor ein kleines Mädchen im Kleid aus Plastik ohne Kopf.
Das hat der Meister für mich im Müll auf der Straße gefunden. Wir sprechen nicht darüber, wer wir sind, denn wir wissen es. Wir kennen das Verhältnis. Eine Hand wäscht die andere.
Auf der Handyhülle – beinahe schon entsorgt und vom Meister gerettet – steht „One Love“.
Michael Schmidt: Wuiser und Wohnen
So ein Philosoph hat mal gesagt: „Ich denke, also bin ich.“ Und das hat auch gestimmt, weil wie wir heute wissen, hat’s ihn tatsächlich gegeben, diesen Philosophen. Allerdings müsst man heut viel eher sagen: „Ich wohne, also bin ich.“ Weil ohne das Wohnen ist alles nichts. Zumindest nichts Gescheites. Und damit man heut überhaupt noch wohnen kann oder zum Wohnen kommt, gehört sich schon was dazu. Die Frau Drangsaler von drüben zum Beispiel, die hat aus ihrer Wohnung raus müssen, weil die einen Eigenbedarf gehabt haben. Der Bub von denen hat nämlich endlich sein Jura-Examen bestanden gehabt, ausgerechnet im Mietrecht, und hat deswegen unbedingt eine erste Kanzlei gebraucht, dort, wo die Drangsalerin drin gewohnt hat. Da hat sie wegziehen müssen. Wo sie hin ist, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich haben sie sie eh gleich ins Altenheim rein. Dass sich die das Wohnen anderweitig nicht mehr anfängt, hat sich eh ein jeder denken können.
Ein anderer Spruch, der geht so: „My Home is my Castle.“ „Mein Heim ist meine Burg“. Und auch das stimmt! Weil eine Burg muss man verteidigen, sonst wär sie ja keine, sondern bloß ein Haus oder eine Wohnung, je nachdem. Das gilt nicht bloß bei Leuten, die Eigenbedarf anmelden wie Hauseigentümer oder ihre Buben mit Staatsexamen. Wahrhaftig nicht! Derzeit kann man‘s ja wieder laufend in der Zeitung lesen, dass sie da eingebrochen haben oder dort. Und bei uns ja auch! Beim Professor Wuiser zum Beispiel waren schon mehrfach die Einbrecher drin. Letztes Mal auch wieder! In seine Zwölfquadratmeterwohnung, im sechsten Stock oben! Und haben – natürlich – schon wieder nichts Brauchbares gefunden. Nicht einmal im Kühlschrank! Da haben sie den halt einfach ausgestreckt und durch‘s Stiegenhaus runter. Das restliche Zeug haben sie ihm drin gelassen. Weil die Sperrmüllabfuhr sind sie halt auch wieder nicht, hat einer von ihnen noch gesagt. Haben sonst nichts brauchen können. Haben den Kühlschrank dann auf einen alten Peugeot rauf und sind davon. Die waren ganz schön fertig von der Schlepperei. Der eine hat zum anderen Einbrecher sogar noch gesagt, dass er glaubt, dass er sich dabei einen Bruch gehoben hat. Warum ich das nicht gemeldet hab? Ja, denken Sie vielleicht, ich interessiere mich für so was? Außerdem haben sie bei der Frau Nolpinger im Parterre auch noch geläutet, bevor sie wieder weg sind. Haben sogar mit ihr geredet und gesagt: „Also, wir waren ja schon in vielen Wohnungen! Aber das bei dem Professor Wuiser da oben schlägt doch glatt dem Fass den Boden aus! Ihr solltet einmal für den sammeln gehen! Auf Wiederschaun!“ Also, echt! Da könnt die Frau Nolpinger doch auch mal ein Wörtechn sagen, oder? Mich zumindest geht das nichts an. Mich geht überhaupt gar nichts was an! Oder wollen Sie, dass man mir nachsagt, ich spionier? Der Herr Wuiser hat doch eh nichts in dem Kühlschrank drin gehabt. Bis auf eine abgelaufene Packung Milch, eine H-Vollmilch. Und die war noch von 2011.“
Philip Krömer: Erbschuld
I Erbsache
Das Display zeigt die Nummer meiner Schwester, ich hebe mit Widerwillen ab. Ob ich mich um das HAUS kümmern könne. Nachdem sie doch bereits den Verkauf organisiere. Sie komme so bald nicht fort von ihrer Arbeit, die Anreise sei zu weit, schon zur Beerdigung hatte sie es nicht geschafft. Welche ebenfalls sie, aus der Ferne, in die Wege geleitet hatte. Nur beim Herablassen der beiden Särge bediente ich die Winde, warf eine Schippe Erde hinterher, für alles andere war gesorgt. Wenigstens konnte ich, als einziger der wenigen Trauergäste, ein paar Tränen weinen.
Unser ELTERNHAUS. In dem wir aufgewachsen waren. Oben am Hang. Das müsse jetzt weg.
In dem meine Eltern nach unserem Auszug alleine lebten, selten Besuch bekamen, am seltensten von meiner Schwester oder mir. Und wo sie vor wenigen Wochen kurz nacheinander starben. Als sie das Telefon nicht mehr abhoben, informierte ich den Notarzt, der dann auch die Toten fand. Man verstaute sie in ihren Särgen, ohne dass ich sie vorher noch einmal gesehen hätte. Der Bestatter riet davon ab, die Leichen hatten wohl schon einige Zeit unbemerkt gelegen.
In beiden Fällen ging man von natürlichen Todesursachen aus. Anzeichen für einen Suizid gab es keinen und auch die Verwahrlosung überstieg nicht das übliche Maß von, von ihren Mitmenschen abgesondert lebenden Greisen. Bei den so nah beieinanderliegenden Todeszeitpunkten musste es sich um Zufall handeln.
Also ob ich nun? Ja, ja, ja, ich würde mich um das HAUS kümmern.
II Erbgut
Unser ELTERNHAUS liegt am Wendehammer einer Sackgasse, vom Balkon aus, ich erinnere mich, überblickt man die ganze Stadt. Der Garten, aus dessen Wildnis noch das Gerüst unserer Holzschaukel ragt, fällt bis zum Grundstücksende hin steil ab, wo die Igel ihre Winternester bauten und der Kompost stank. Ich erinnere mich.
Die Tür ist nur angelehnt, der Notarzt musste sie aufbrechen. Der Teppich im Flur ist voller Flecken, Altpapier stapelt sich in den Ecken, wo anfangen? Ich versuche den Lichtschalter und den Wasserhahn im Gästeklo. Strom und Wasser funktionieren noch. Das macht mir die Sache leichter, sollte ich hier bis in die Nacht beschäftigt sein. Und für die dunklen Ecken brauche ich auch keine Taschenlampe.
Meine Schwester hat längst einen interessierten Käufer für das Grundstück gefunden, das aufgrund seiner Lage inzwischen viel wert ist. Ihren Erbteil möchte sie anderweitig investieren. Auch ich habe nichts gegen ein bisschen Bargeld. Doch dafür muss zuerst das Haus weichen. Mit seinem feuchten Mauerwerk und dem morschen Dachstuhl ist es nurmehr ein Verkaufshindernis, eine Renovierung wäre viel zu teuer.
Der Abrissunternehmer, den meine Schwester schon für morgen engagiert hat, sagte mir im Vertrauen, wenn wir keine Lust hätten auszumisten, sollten wir alles Gerümpel einfach stehen lassen. Eigentlich müsse das getrennt entsorgt werden. Aber für einen Tausender extra nehme er das Risiko auf sich. Mit dem Bulldozer zusammengeschoben lande es mit Mauerwerk und Ziegeln in der Mulde für den Bauschutt. Wer könne dann noch zwischen Anrichte und Tragebalken unterscheiden? Elektrogeräte, Rohre und Leitungen entferne er vorher, das Material lasse sich weiterverwerten, die Einrichtung dagegen – die durchgesessenen Polstermöbel und Sperrholzregale mit den Büchergilde-Ausgaben – die sei die Mühe doch nicht wert …
Den Tausender werde ich von meiner Hälfte des Erlöses nehmen. Um das Ausräumen muss ich mich also nicht kümmern, lediglich ein paar Erinnerungsstücke auswählen und versteckte Wertgegenstände suchen.
III Erbmasse
Im Keller steht das Wasser knöchelhoch, eingesickert vermutlich aus einem geborstenen Rohr. Die Akten meines Vaters, seine Urkunden, sie sind alle verschimmelt. Auf der Couch im Wohnzimmer wurden ihre beiden Leichen gefunden. Obwohl ich eine Pause bräuchte, setze ich mich nicht. In der Küche herrscht Chaos, nur die Kaffeemaschine ist gut in Schuss. Und wo man seine Tasse hinstellen würde, bevor man den Kaffee durchlässt, steht auch eine.
Und der Kaffee darin. Ist noch warm.
Ohne eine Erklärung dafür finden zu wollen, treibe ich mich zur Eile an. Mit dem ausgestreckten Arm schiebe ich die Bücher von den Regalbrettern. Im Obergeschoss leere ich den Kleiderschrank meiner Eltern aus und schneide sogar mit einem Teppichmesser ihre Matratzen auf. Wertsachen finde ich keine.
In Mutters Malzimmer, meinem ehemaligen Kinderzimmer, das an das Schlafzimmer der Eltern grenzt, haben sie dafür mein altes Bett wieder aufgebaut. Ein nostalgischer Anfall auf ihre späten Tage? Die Bettpfosten sind bedeckt mit ausgeblichenen Stickern. Das Bett ist natürlich längst zu kurz für mich, meine Füße ragen über den Rahmen hinaus, aber Kopfkissen und Decke sind frisch bezogen. Sie riechen sogar noch nach Waschmittel. Beim Aufstehen stoße ich mir den Kopf am unter der Deckenlampe hängenden B52, der all die Jahre in einer Kiste auf dem Speicher verbrachte. Stundenlange Arbeit mit den filigranen Bauteilen und Klebstoff. Ich erinnere mich.
Und fahre herum. Im Flur bewegt sich etwas. Schritte lassen die Treppe knarren. Unten Stimmen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, eine Gameshow, wie Mutter sie mochte. Auch den Fernsehanschluss abzuklemmen, hat der Techniker bisher wohl nicht geschafft.
IV Erblast
In der Küche brennt Licht, wo ich es zuvor löschte. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Das Verhältnis von Kaffee zu Milch entspricht demjenigen, das mein Vater bevorzugte. Ich erinnere mich.
Ich texte meiner Schwester, dass sich jemand im Haus befinde, der seinen Kaffee genau wie Papa trinke. Obwohl es mittlerweile spät ist, schreibt sie mir sofort zurück: schon soweit, siehst du jetzt gesiter? du hast doch irhe leichen gesehn!!
Habe ich nicht. Ich half nicht einmal, ihre Särge zu tragen, drehte lediglich an der Winde, wobei nicht festzustellen war, ob die Särge schwer wogen. Die Übersetzung war zu groß. Oder ob sie leicht waren, wie leer.
Im ersten Stock rauscht die Klospülung.
Dann die Stimme. Was machst du denn noch auf, Bub? Komm, geh hoch ins Bett. Mama kommt gleich noch mal zu dir.
Ich stehe ohne zu atmen. Als ich doch wage, mich umzudrehen, ist dort niemand. Und träum was Schönes.
Das Bett meiner Eltern ist aufgeschlagen, als bereite sich jemand auf die Nacht vor. Im Badezimmer gurgelt der Spülkasten. Die Zahnbürsten sind nass. In mein Kinderbett passe ich, als wäre ich nie daraus aufgestanden.
Haaaben Iiiwan Puschkin, Sekt und Wodka
Erst. So recht. In Stimmung dann gebracht,
Tanzt er Kasahatschok mit seiner Nina,
Biiis. Am Mooorgen. Dann der Tag erwacht, ja, ja, ja …
Mutter war immer eine gute Sängerin, ihr Repertoire jedoch war klein. Die Lieder, die sie uns zum Einschlafen vorsang, folgten, wie auf einem Musikalbum, stets einer festen Reihenfolge. Und wenn sie mit dem letzten Lied fertig war und wir schliefen immer noch nicht, begann sie wieder von vorn.
Mama? – Ein Glück, dass ihr uns nicht habt kremieren lassen. Papa hat sich da auch sehr gefreut drüber. – Mama, wie? – Ach, die neunzig Zentimeter zwischen Sargdeckel und Erdoberfläche! Wenn du nicht ganz malad bist, schaufelst du das doch in ein paar Stunden mit den Händen weg. –
Bis. Am Morgen. Dann.
V Der Tag erwacht
Pünktlich um acht Uhr kommen die Arbeiter, um die Kabel aus der Wand zu klopfen. Sie finden mich noch im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, die Beine angewinkelt, wartend, dass man mich zum Frühstück ruft. Mittags sollen schon die Bagger anrücken? Ich rufe meine Schwester an, doch sie lässt das Telefon klingeln. Ja, ja, ja.
David Telgin: Einraumwohnung
Wohnzimmer
Schlafzimmer
Miniküche
In einem Raum
Auf 16 qm
verteilt
Das Leben
Aber wo ist
noch Platz?
Katrin Rauch: Wir sterben alle irgendwann, die meisten von uns in Moskau.
Am 28. April 1993 stirbt die sowjetische Fliegerin und Offizierin Valentina Stepanovna Grizodubova in Moskau. Etwa zur selben Zeit hatten meine Eltern ungeschützt Sex. Wenn man einen Zeitraum von etwa zwei Wochen annimmt, in dem ich höchstwahrscheinlich gezeugt wurde, könnte ich alternativ zu Frau Grizodubova auch die Reinkarnation von Lucette Descaves sein – einer französischen Pianistin. Sie spielte 1932 unter Anleitung desselben das Dritte Klavierkonzert von Sergej Sergejevič Prokofjev, der auch in Moskau verstarb, aber fast genau 40 Jahre vor Grizodubova. Ob Grizodubova Descaves oder Prokofjev oder zumindest dessen Stück Peter und der Wolf ein Begriff war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, zumindest nicht mithilfe von Wikipedia als einziger Quelle. Es ist aber wahrscheinlich, denn Grizodubova absolvierte erst ein Klavierstudium ehe sie zu einer von drei Frauen wurde, denen als allererste in der sowjetischen Geschichte der Titel „Held [sic!] der Sowjetunion“ verliehen wurde. Wessen Reinkarnation ich noch sein könnte, ist Johannes Schäfers, wie Grizodubova auch am 28. April 1993 verstorben. Ich als Schäfers Reinkarnation wäre jedoch höchst unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sein Karmapunktekonto viel zu weit ins Minus geraten sein muss, um als privilegierter, weißer, mitteleuropäischer Nerd wiedergeboren zu werden. Aber – und jetzt wird es besonders interessant – auch Kim Jong-in, alias Kai, ein südkoreanischer Tänzer, Sänger und Schauspieler, könnte ebenfalls die Reinkarnation Grizodubovas, Descaves‘ oder Schäfers sein. Man wird es nicht erfahren.
Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen wollen würde. Und fest steht auch, dass ich seit drei Tagen kaum geschlafen habe. Woher das kommt, ist so unbekannt wie der Werdegang meiner Seele, oder wie auch immer man das nennt, was da ständig reinkarnieren muss, ehe es irgendwann ins Nirvana gelangt. Fest steht auch, dass Nirvana um meine Reinkarnation, aka Geburt, herum ihre letzten Konzerte gaben und Kurt Cobain Anfang April tot aufgefunden wurde. Ein Jahr zu spät, um seine Reinkarnation zu sein. So ein Pech aber auch. Oder sollte ich mich doch eher glücklich schätzen? Erstmal recherchieren, wie das jetzt noch schnell war. Überdosis und Selbstmord? Mord? Totschlag? Unfall? Das will man als Reinkarnation vielleicht doch nicht übernehmen. Erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Erstmal Packerlsuppe, erstmal Bier, erstmal Aspirin, erstmal in die Horizontale. Von Schlaf kann wieder keine Rede sein. Erstmal offenen Auges Nachtträumen. Erstmal offenen Auges dahin vegetieren. Morgen wieder Packerlsuppe.
Vierhundert Menschen suchen via Google monatlich nach „zeugungstag berechnen“. Dieses Monat bin ich einer davon. Der wahrscheinlichste Zeugungstermin zu meinem Geburtstag ist der 22. April 1993. Möglich ist der Zeitraum zwischen 8. April und 6. Mai. Wem ich also bisher noch gar keine Beachtung geschenkt habe, sind die Anfang-Mai-Gestorbenen. Das wäre zum einen Inge Stolten, quasi ein Gegenteil von Johannes Schäfer und damit karmapunktemäßig schon wahrscheinlicher. Auch interessant: Julio Gallo, Mitgründer des weltgrößten Weingutes, oder Pierre Bérégovoy, der einen Tag vor Gallo verstarb, durch eine Kugel, die er sich allem Anschein nach selbst in den Körper gejagt hat. Am Tag nach Gallo starb außerdem Robert De Niro; Senior natürlich. Aber, dass ich erst im Mai reinkarniert sein soll, ist grundsätzlich leider unwahrscheinlich. Leider aufgrund der folgenden Persönlichkeit: Ivy Benson, britische Bandleaderin und Gründerin der reinen Frauenband Ivy Benson and her Rhythm Girls. Das war 1939, ein Anagramm meines Zeugungsjahres, wohlgemerkt, wäre also passend. 1975 wurden in Großbritannien reine Frauenbands im übrigen verboten.
Mein Magen knurrt. Erstmal Fertigpizza. Erstmal Kekse, erstmal Cola, erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Da muss es doch irgendwo ein Zusammenhang geben. Da muss doch irgendwo eine Nähe bestehen. Sollen das alles wirklich einfach unzusammenhängende Zufälle sein? Wo ist die Verbindung von De Niro zu Grizodubova, was hat Schäfer mit Stolten zu tun? Welchen Schmetterlingseffekt hat Gallo ausgelöst, dass Bérégovoy zu dem Schluss kam, es sei eine gute Idee den Abzug zu ziehen? Mir will in meinem dunklen, vom Bildschirmlicht beleuchteten Kämmerchen kein Licht aufgehen. Wo hat das alles begonnen? Wer hat meine Reinkarnation zu verantworten? Bin ich etwa langsam am Durchdrehen? Bin ich überhaupt eine Reinkarnation und wenn nicht, was bin ich dann? Wann hab‘ ich eigentlich das letzte Mal länger als 3 Stunden geschlafen? Der Timer piepst, ach ja, die Pizza.
Im Wikipedia-Artikel klingt alles nach Suizid. Cobain soll sich selbst umgebracht haben. Natürlich. Abschiedsbrief, „It’s better to burn out than to fade away.“, davor schon Suizidversuch mit Beruhigungsmitteln, Heroinüberdosis, Kopfschuss aus dem eigenen Gewehr, ergibt Sinn. Interessant aber, wer seine Reinkarnation sein könnte. Die Leute sind heute 25 Jahre alt. Es sind zum größten Teil Fußballer*innen, Schauspieler*innen und Models, die mit 25 schon so viel erreicht haben, dass ihnen ein Wikipedia-Artikel zuteil wurde. Ich klappe den PC zu. Ich kann mit meinen Recherchen ja gar nicht alle potentiellen Reinkarnationen ausfindig machen. Was, wenn ich die Reinkarnation der alten Nachbarin meiner Eltern bin? Die hatte doch bestimmt keinen Wikipedia-Artikel. Ich resigniere. Das Internet, die Menschheit, sind mir eine Nummer zu groß, das mit der Reinkarnation ist mir zu überwältigend. Was, wenn Leute wie Bérégovoy und Cobain den Fluss der Dinge durcheinandergebracht haben und die Menschen gar nicht nach Plan reinkarnieren konnten. Was, wenn alle Mörder*innen, Krankheiten, Unfälle und andere unnatürliche Todesursachen den Plan durcheinanderbringen? Berechnen die Planmachenden das überhaupt mit ein, dass man nicht nur an Altersschwäche stirbt? Man wird es nicht erfahren.
Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen würde. Und fest steht auch, dass ich womöglich seit Monaten kaum geschlafen, kaum gegessen habe. Fest steht, dass nichts fest steht.
Durch die Jalousien fallen feine Streifen Licht ins Zimmer. Ich muss wieder daran denken, dass die so heißen, weil alte, weiße Männer eifersüchtig waren, dass Blicke auf ihre Angetrauten geworfen werden konnten. Ich muss wieder daran denken, dass es draußen auch noch eine Welt geben soll, jenseits der Wikipedia-Artikel, in der auch Menschen sterben und womöglich reinkarniert werden. Ich muss wieder an Grizodubova, Descaves und Prokofjev denken. Wir sterben alle irgendwann und nimmt man diese drei Menschen als Referenzgruppe, sterben die meisten von uns in Moskau.