Lea Schlenker: Böse Augen/Böse Gedichte

Ich wünsche mir einen Traum
der früher einmal stattfand
aus dem ich nie erwachte
der sich mit der Realität vermischte

Eine Realität
die mich an den Füssen packt
und an die Staubmäuse verfüttert

Eine Realität
die mich in der Vergangenheit leben liess
in der ich leider nur allzu oft
unaufmerksam war
und wo mir niemand zum Geburtstag gratuliert
weil ihr ihn alle vergessen habt

Meine Mutter trägt mich auf dem Arm
Ich schmolle
weil ich ahne
was das Leben für mich alles noch so im Ärmel hält
Bezwingerin der Staubmäuse des Lebens

Ich wünsche mir einen Traum
in dem böse Augen
böse Gedichte schreiben
netten Menschen
gute Dinge passieren
und reiche Menschen
ihre Polohemden abstreifen

Meine Mutter lädt alle ihre Schwestern zum Essen ein
und wir sind wie eine Familie
ich kann schreien und nichts bleibt mehr in der Brust stecken
kein neidischer Gedanke in meinen Adern

Ich tanze mit den Staubmäusen
und fresse
statt gefressen zu werden
Ich schmolle
denn ich weine nicht
Ich trauere nicht
Denn ich weiss wer ich bin
Merkur, Jupiter und Faszination Mond
Bezwingerin der Staubmäuse des Lebens

Wenn du genug
von Plattitüden hast
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Miriam Gil: Schwarze Wolken der Erinnerung

Hier ist keine Liebe – die Leichname der Engel tanzen auf den schwarzen Wolken der Erinnerung.
Sie rauchen Zigarre und wähnen sich ihren Männern nahe –
gefallene Tote auf den Hügeln des Krieges der Welt.

Schwarzer Dunst über den Schreien der Sehnsucht –
Kälte in den Federbetten der Knaben und quälende Angst in den Fratzen der Mädchen.
Am Horizont der Traurigkeit Blicke des Todes –
Raben verschwimmen im Dunkel der Nacht und legen ein Goldstück auf die Schiene der Vergänglichkeit.

Sie laben sich an einem faulen Apfel und erheben sich elegant in den Himmel der Brüder und verlorenen Väter.
Und Schwestern singen die Lieder der Liebe und fallen zu Boden der Leidenschaft in Umarmung mit Freunden und Seelen der auf Erden verweilenden Geister.
Frost in der Höhle der Schlange – unerträgliche Hitze in den Bergen der Diamantengräbern.

Stille bei den Liebenden. Sich Küssend und Wiegenden.

Stolze Frauen schreiten den Abgrund hinab – passen die Lanzen der Ungerechtigkeit ab und verschmelzen in ihrem hitzigen Traum mit dem in der blutbefleckten Abendsonne silbern-schimmerndem Meeresschaum.
Sich bekämpfende Völker erstarren vor der Schönheit der Jungfräulichkeit – legen die Waffen nieder und verfallen in besoffene gemeinsame Heiterkeit.

Stolz, Vorurteil und Eitelkeit ertrinken im Rausche der sanft auf dem Boden der Geschichte abgelegten Feigheit – Einigkeit über das Leben – nach Neuem streben.

Andreas Lugauer: Gschichtn ausm Nachbarlokal

Dieser Text erschien zuerst im tollen Textblog von Andreas Lugauer: „Salon du Fromage“

Das war’s, er hat genug, er erteilt ihnen Hausverbot, er betreibt schließlich kein Bierzelt. Er weiß nur noch nicht, wann und wie er es ihnen mitteilen soll. Am besten, wenn sie das nächste Mal anrufen, um zu reservieren. Freilich, gute Kunden hat er an ihnen gehabt, das kann er nicht leugnen. Sie langten stets ordentlich hin und waren beim Trinkgeld nie knauserig (und kein einziges Mal beglichen sie die Rechnung gemeinsam, immer zahlte jeder der Sechs für sich selbst, was fast das Doppelte an Trinkgeld bedeutete). Mit ihrem ausgeprägten Frohsinnsnaturell rheinischer Art und überdies mit ihrer merklichen Alkoholisierung nach den Bandproben fremdelte er, dessen Eltern aus China nach Deutschland immigriert waren, zwar allweil etwas, aber ihm ist bewußt, daß er sich darüber nun nicht zu beschweren braucht, wenn er ein Restaurant in Köln eröffnet.

Sollte das Hausverbot publik werden, weil es sich ja um Prominente handelt, und er deswegen schlechte Presse erhalten, so will er dies hinnehmen. Sollte er daraufhin den Zorn von Autochthonen auf sich ziehen, die ihn dann mit anonymen, schlecht leserlichen Briefen in seltsamer Privatorthographie auffordern würden, er, das »Scheißschlitzauge«, solle doch »wieder heimgehen« zu seinen »reisfressenden Brüdern und Schwestern«, von wo er hergekommen sei, so will er auch das ertragen – es wäre schließlich nicht das erste Mal. An einen von diesen Leuten erinnert er sich besonders gut: Denn dieser hatte sich nicht entblödet, ein Kuvert zu verwenden, auf dessen Rückseite die Absenderadresse aufgestempelt war. Dieser Drohbrief belustigte ihn damals mehr, denn daß er ihn als bedrohlich empfunden hätte, und so machte er sich einen Spaß, übersetzte ihn vollständig ins Mandarin, stempelte auf die Rück- und Vorderseite des Kuverts seine Adresse und warf den Brief beim Absender des Drohbriefs in den Briefkasten. Als er einen Tag später in seinem Briefkasten eine große Menge Kots undefinierbarer Abkunft fand, zeigte er den Haßbriefschreiber an. Was ihm denn einfiele, einfach bei wildfremden Menschen Briefe einzuschmeißen, die kein Mensch verstehen könne und womöglich Beleidigungen oder Drohungen enthielten, blafften ihn die Kommissarin und der Kommissar einander ins Wort fallend an – er brauche sich nicht zu wundern, wenn er selbst angezeigt werde, drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus, um sich dann die tigrig gescheckten Haare, deren brauner Ansatz mal wieder übertüncht gehörte, erneut streng zum Zopf zu flechten. Und daß der Drohbrief, den er angeblich selbst erhalten habe, wirklich von dem Beschuldigten stamme, sei ja wohl keineswegs gewiß – wer stempele schon auf das Kuvert eines Drohbriefs seine Adresse drauf? Und was den Kot anbelange, da müsse nicht zwangsläufig ein Zusammenhang herbeikonstruiert werden, das sei in Deutschland eben ein beliebter Kinderscherz. Selbstverständlich wolle ihm niemand unterstellen, er habe den Drohbrief, den er anzeigen wolle und der verdächtigerweise in Maschinenschrift verfaßt sei, selbst erstellt und bei sich eingeworfen, um den Beschuldigten zu verleumden, aber es könne sich durchaus auch um eine Fälschung von jemand anderem handeln. Der Beschuldigte sei schließlich Reporter beim Stadtanzeiger, worauf die zahlreichen Rechtschreibfehler des Drohbriefs ja wohl nicht schließen ließen. Es sei wohl für alle das Einfachste und Beste, wenn er die Sache auf sich bewenden ließe. »Lassen, lassen, lassen – was man sich nicht noch alles bieten lassen muß! Das ist arso die deutsche Porizei, mein Fleund und Herfel!«, schnauzte er die beiden an und verließ die Wache. Das ›l‹ und das ›r‹ vertauschte er im letzten Satz absichtlich.

All solche Dinge, die auf das Hausverbot folgen könnten, erachtet er jedoch als geringere Übel im Vergleich zu den Unannehmlichkeiten, die sie ihm jedes Mal bereiten. Eine mögliche Aufregung wird sich schon wieder legen. Daß keine Gäste mehr kommen, fürchtet er nicht; er weiß um die Stammgäste, die nicht kommen, wenn sie wissen, daß sie kommen. Und er hat sich nun mal zum Hausverbot entschlossen, denn was zuviel ist, ist zuviel: Jedes Mal, wenn er sie, wie er dies bei jeder Bestellung zu tun pflegt, fragte, ob er ihnen als Vorspeise die Suppe mit den Teigtaschen servieren dürfe, stiegen sie auf ihre Stühle, begannen zu johlen und im 2/4-Takt zu klatschen und gröhlten wie aus einem Munde: »WENN NICHT JETZT, WAN TAN? WENN NICHT HIER, SAG MIR WO UND WANN!«

Martin Knepper: Karneval ist es

Karneval ist es; würdebefreit göbelt die üppige Nachbarin,
kaum dass sie aus dem Taxi getorkelt morgens um drei,
jene, die sonsten an Wuchs und Zucht gleichet den streng
geschnitt’nen Hortensien, welche vereinzelt sich heben
aus dem granitenen Garten. Speichelfäden rinnen herab
auf das schellenverziert samtene Kleid, und siehe nur da:
Itzund stürzt sie, es ergreifet zu spät den fleischigen Arm
der nicht minder angeschlagene narrenbekappte Gatte.

Und zu Boden sinken sie beide, Raubgut des Dionys‘,
wo schon die schillernde Lache vom festlichen Mahle
gelagert: Ein ums andere Mal steigen und fallen sie nun
wie die Gestade des Meeres. Es zieren die edlen Gewänder
blitzenden Gemmen gleich würflige Reste der Speise,
und es lallen die Münder, der weislichen Rede enthoben.
Endlich quert das besudelte Paar die schützende Pforte
schlummert nun traumlos dem nächsten Gelage entgegen.

Margit Heumann: Nostalgisches Rezept

Man nehme seine frühen Erlebnisse,
und bestreiche sie mit einer Krem
aus Subjektivität und Idealisierung.
Nach einer üppigen Verjährungsfrist
von mehreren Dekaden
staple man sie hübsch übereinander
und ziere nach Belieben
mit geriebener Übertreibung,
schiftelig geschnittenen Floskeln
oder feinblättrigem Pathos.
Vor dem Servieren bestreue man sie
mit reichlich Zucker
der verklärenden Erinnerung.
Guten Appetit.

Miriam Gil: Ein weißes Blatt Papier

Mehr brauch ich nicht. Will ich nicht. Mag ich nicht.

Bist Du bei mir.
Und siehst mich so seltsam an, dass ich es nicht erklären kann!
Erinnerst Du Dich noch?
Das Blatt Papier ist nicht mehr weiß –

Es strahlt und schimmert in den schönsten Farben.
Rosa, Gold – Azurblau und ein bisschen schwarz mit sattem Gelb.
Ich mach es gerne.
Deine Augen und schöne Musik berühren mich dabei zärtlich aus der Ferne.
Dunkle, blaue Tinte verschwimmt dabei langsam auf einem nassen Fleck.

Du bist schon lange nicht mehr da,
bist nicht mehr an meiner Seite.

Bist nun woanders.
Ganz weit weg.

NedGPT – Feuerzangenbowle und Nostalgie

Ich erinnere mich noch immer gerne an diesen einen Winterabend vor ein paar Jahren. Ich war damals mit ein paar Kommilitonen unterwegs, als wir auf einen Wintermarkt kamen. Dort angekommen, fiel mir sofort ein Stand auf, an dem es Feuerzangenbowle gab. Ich hatte das Getränk noch nie probiert, also beschloss ich, es auszuprobieren. Der erste Schluck war köstlich und so trank ich Runde um Runde, während die Nacht voranschritt und die Menschenmenge immer dünner wurde. Als wir schließlich nur noch zu dritt waren und ich kein Geld mehr hatte, lieh ich mir welches von meinen Freunden, um mir noch einen weiteren Becher Feuerzangenbowle zu gönnen.

In diesem Rauschzustand fiel mir ein, dass ich am nächsten Tag ein Bewerbungsgespräch bei einem Callcenter hatte. Ich machte mich also auf den Weg, um das Gespräch zu führen. Doch ich war immer noch betrunken und fand es schwierig, meinen Gedanken zu folgen, als ich von anderen Bewerbern umgeben war, die sich für denselben Job bewarben.

Die Führung begann und ich gab mein Bestes, um interessiert zu wirken. Doch meine Konzentration war beeinträchtigt und ich musste mich bemühen, dem Gespräch zu folgen. Schließlich wurde uns gezeigt, wie man Anrufe tätigt und ich war an der Reihe, meinen ersten Anruf zu tätigen.

Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl von Aufregung, als ich das Telefon abnahm. Ich gab mir Mühe, möglichst freundlich und höflich zu klingen, als ich nach der Meinung der Person über bestimmte Marken fragte. Nach einiger Zeit wurde mir jedoch schwindelig und ich musste mich zusammenreißen, um nicht ins Schwanken zu geraten. Als ich schließlich fertig war, wurde mir von einem Mitarbeiter der Firma auf die Schulter geklopft und ich erhielt ein Lob für meine Arbeit. Doch in dem Moment, als er mir sagte, dass er sich vorstellen könne, dass ich eine große Zukunft in diesem Unternehmen hätte, wurde mir plötzlich übel. Ich bat um eine Pause und rannte zum WC, wo ich mich übergeben musste.

Als ich zurückkehrte, bemerkte ich, dass der Mitarbeiter nicht mehr so begeistert war wie zuvor. Ich wurde nicht für den Job ausgewählt, aber ich denke oft an diese Nacht zurück und wie ich mich gefühlt habe, als ich die Feuerzangenbowle getrunken habe. Es war eine andere Zeit und ich werde sie immer in Erinnerung behalten.

Katrin Rauch: Bodenstudien und Bier

oder: Meine Wege führen nicht nach Rom und auch sonst nirgends hin. Sie führen zu Boden.

  • Boden gewinnen
    • Herzlichen Glückwunsch, du hast Boden gewonnen.
    • Zwei Quadratmeter sakrale Erde, zwanzigtausend Quadratzentimeter, zwei Millionen Quadratmillimeter.
    • Das sind scheiß viele Quadratmillimeter, die hast du dir redlich verdient.
    • Du hast Boden gewonnen, das große Los gezogen, den Jackpot geknackt, a maasn host ghobt, Fortuna war auf deiner Seite.
    • Oder hast du geschuftet dafür? Hast du dir für diese große Menge an Quadratmillimetern Boden den Hax’n ausgerissen?
    • Weißt du was? Wahrscheinlich beides.
    • Es ist immer beides.
    • Es ist immer ein bisschen Glück dabei.
    • Es ist immer eine ganze Menge Arbeit dabei.
    • Den Boden muss man sich auch immer ein bisschen verdienen.

  • den Boden unter den Füßen verlieren
    • Der Boden verliert meine Füße.
    • Ich verliere meine Füße, der Boden bleibt da.
    • Nicht der Boden unter mir, meine Füße gehen verloren.
    • Die Füße verlieren, den Boden verlieren, heißt den Keller verlieren, heißt das kompensatorische Fundament, das fundamentale Kompensatorium verloren gehen sehen, heißt nicht mehr liegen können, überhaupt gar nicht mehr liegen können, weder falsch noch im Bett und allerhöchstens im falschen Bett, heißt die Fötusstellung an den Nagel hängen, endlich erwachsen werden, endlich un-lustig werden, heißt das Gesicht wahren, heißt nicht mal mehr sich selbst eingestehen, wie dringend der Boden doch gebraucht wird, wie dringend die Fötusstellung gebraucht wird.
    • Den Boden verlieren heißt scheitern.

  • am Boden zerstört sein
    • Den Boden zerstören. Obviously.
    • Mit der Zerstörung am Boden sein.
    • Das Sein am Boden zerstören oder Es davor zerstören und am Boden wieder zusammensetzen, flicken.
    • Die Reihenfolge ist hierbei von besonderem Belang. Die Rolle des Bodens ist hierbei von besonderem Belang.
    • Den Keller zerstören, der Boden bleibt aber, der Boden bleibt.
    • Hoffentlich.
    • Der Boden schwebt ohne Keller. Der Boden schwebt.
    • Der Boden schwankt ohne Keller, der Boden schwankt.
    • Na toll. Jetzt hast du tatsächlich den Boden zerstört. Was tust du nun, wenn du am Boden zerstört bist? Jetzt hast du den Salat. Obviously.
    • One does not simply … zerstör‘ den Boden!

  • auf den Boden der Wirklichkeit zurückkommen
    • Wirklich? Auf den Boden zurückkommen?
    • Ja, wirklich.
    • Ja, im Ernst.
    • Immer, auf den Boden zurückkommen.
    • Immer.
    • Zum zur Wirklichkeit zurückkommen, zum Tatsachen sammeln, zum Tatsachen zusammenkratzen, zum Wirklichkeiten vermengen.
    • Auf die Wirklichkeit des Bodens zurückkommen, um auf die Tatsachen zurückzukommen.
    • Um auf den eigentlichen Boden der Tatsachen zurückzukommen:
      • Du hast dir den Boden verdient.
      • Du hast den Boden verloren.
      • Du hast den Boden zerstört.
    • Das sind die Fakten. Das ist die Wirklichkeit. Was willst du aus ihr machen?

  • am Boden bleiben
    • Bleiben für den Boden.
    • Das Bleibende am Boden
    • ist zu dauerhaft, um weiterzuziehen.
    • Bleiben, nur wegen des Bodens.
    • Alles, nur nicht abheben.
    • Alles, nur nicht den Kopf verlieren, wenn schon der Boden fast verloren gegangen wäre.
    • Alles, nur nicht den Boden unter den Füßen verlieren.
    • Alles, nur nicht auf Anfang.
    • Alles, nur nicht die Flügel ausbreiten und abheben.
    • Alles, nur nicht abheben und in die Luft gehen.
    • Alles, nur nicht auf unfesten Boden.
    • Aber den festen Boden, den muss man sich halt auch immer ein bisschen verdienen.

  • etwas an den Boden hängen
    • Es am Boden aufhängen. Senkrecht.
    • Den Nagel an den Boden hängen. Waagerecht.
    • Den Senkel an die Waage hängen.
    • Den Senkel in die Waagschale legen.
    • Den Boden in die Waagschale legen.
    • Den Boden abwägen.
    • Den Boden messen.
    • Den Boden ermessen.
    • Den Boden vermessen.
    • Den Boden an den Nagel hängen.
    • Wirklich? Den Boden an den Nagel hängen?
    • Nein, nicht wirklich.
    • Einfach hängen… bleiben. Am Boden hängen bleiben.
    • Immer einfach am Boden hängen bleiben.

  • Was will der Boden uns nun wohl damit sagen?
    • Was will uns der Boden überhaupt sagen?
    • Was hat uns der Boden denn überhaupt noch zu sagen?
    • Will er uns für sich gewinnen?
    • Will er uns verlieren?
    • Will er uns zerstören?
    • Will er auf uns zurückkommen?
    • Will er bleiben?
    • Will er uns an den Nagel hängen?
    • Was kann der Boden überhaupt wollen?
    • Was können wir überhaupt vom Boden wollen?
    • Was können wir überhaupt vom Boden wollen können?
    • Was können wir uns überhaupt vom Boden erwarten?
    • Was erwartet der Boden von uns?

Anne D. Plau: Der Großsprecher

Der Personalchef betritt den Raum und alle Menschen beginnen zu nicken. Sie nicken wie braune Wackeldackel auf der Ablage eines Autos. 

„Meine lieben geschätzten Mitarbeiter!“

Wackel dackel da dum.

„Wir werden right now weiterführen!“

Wackel dackel. 

„Erneuerbare Interpretationstendenzen führen nach ganz vorn!“

Wackel dackel wackel.

„Die restriktive fakultative Verabfolgung lässt Probleme verblassen. Mit anderen Worten, das Konzept der wasserdichten Neuorientierung ist maximal erfolgreich.“

Der Sprecher scheint seinen Worten zu glauben. Und die Nickenden? Man hat ihnen eingeschärft, sie sollten sich zustimmend verhalten. 

„Sonst?“, hatte eine gefragt. 

Ihr Vorgesetzter wedelte mit einem amtlich aussehenden Papier mit Firmenkopf.

„Sonst?“, wagte sie zu erwidern.

„Abmahnung. Und die nächste Woche wieder. Und dann noch einmal. Und dann dürfen wir Sie kündigen.“

„Das geht doch gar nicht!“

„Dieses Vorgehen wurde von der Rechtsabteilung geprüft, hat ab sofort seine volle Gültigkeit. Hören Sie genau zu, sonst.“ 

Das „Sonst“ wuchs langsam heran. Es wurde im Dunklen gefüttert. Die Nachfragen verhalten langsam. 

Die Jungen, Ungebunden, Querulanten, Alleskönner und Spiegelsehenden verließen das Unternehmen. 

Die anderen nicken weiter. 

So könnte man meinen. 

So meinte es die Führung, die diesen Großsprecher auf die Bühne schickte, der nun die Hände erhob und lauthals verkündete: „Mitarbeiter, die Früchte unserer Arbeit subsummieren sich. Der glückliche Tag der Ernte rückt näher.“

„Sonst?“, fragte jemand.

„Sonst?“, ergänzte ein anderer.

Da dum.

AnneDP Parallelen mit der wirklichen Welt sind unbeabsichtigt, aber nicht zu vermeiden.

Lea Schlenker: Das ist doch mal ein schöner Kafka-Grusel!

Der am häufigsten verwendete Ansatz zur Bewertung nachhaltiger Finanzanlagen sind weltweit die ESG-Kriterien. Mit diesen Kriterien soll das breite Spektrum der Nachhaltigkeit möglichst detailliert in der Bewertung abgebildet werden können. Dabei werden keine einzelnen Finanzprodukte bewertet, sondern lediglich einzelne Firmen. Viele erwachsene Menschen konsumieren nicht bloss, nein, sie sparen und investieren ebenso. Viele erwachsene Menschen arbeiten ebenso in Unternehmen, für die die ESG-Kriterien eine gewisse Relevanz haben. also ein wichtiges Thema, wie es scheint. Elon Musk und Jordan Peterson können sie nicht leiden. Ich als Normalsterbliche bin aber nicht jeden Tag mit der Thematik beschäftigt. Daher war ich ein wenig erstaunt, als ich eines Nachts schweissgebadet im Hauptquartier des Finanzdienstleisters MSCI erwachte. Ich lag unter einem klassischen Büroschreibtisch, um mich herum standen Männer in grauen Anzügen. Sie waren kaum zu unterscheiden voneinander: weiss, dunkelblond, vermutlich aus gutem Hause, vermutlich nicht so politisch, ausser es geht um Obdachlose und Emanzen, denn irgendwo hört es ja auf. Was ich mit ihnen zu tun haben sollte, war mir schleierhaft, aber dennoch war ich nun hier, statt bei mir zuhause im Bett, wo ich schlafend in meinem Jurassic Park Shirt liegen sollte, im Mund noch der überzuckerte Beigeschmack des alkoholfreien Martinis. Bestimmt sollte ich nicht hier sein, bei all diesen selbsternannten Finanzmoguls (Mogulen?). Das ist doch mal ein schöner Kafka-Grusel! Aber wo ich doch schon mal hier war: was waren denn das genau für Herren, die Microsoft mit Triple A (!) bewertet haben? Und wer erklärt mir hier, wieso mein Geld jeden Tag an Wert verliert? Aber so weit kommt es gar nicht, der Tisch über mir bricht zusammen, alles wird schwarz. Im nächsten Moment liege ich wieder in meinem hellblau bezogenen Bett, umringt von Literatur und staubigen Bücherregalen. So schnell wieder einschlafen kann ich aber nicht. Ich stehe auf und suche im Regal nach Büchern zum Thema Inflation, Preiselastizität, Behavioral Finance, Finanzmarktpolitik oder ESG-Ratifizierungen. Leider nichts. Ich greife nach Der Prozess und verschwinde wieder unter der Bettdecke.