Björn Bischoff: Mitternachtsschwarze Erde


»Niemand dringt hier durch
und gar mit der Botschaft eines Toten.
Du aber sitzt an deinem Fenster
und erträumst sie dir,
wenn der Abend kommt.«
(Eine kaiserliche Botschaft. Franz Kafka.)

In dem verstecktesten Winkel ihrer Zweizimmerwohnung, dort,
wo sich die durchgesessene Couchgarnitur in eine Ecke drückt,
sitzt Sunja und blättert durch einen Stapel alter Fotos, Briefe und
Postkarten, die ihre Familie ihr schickte und hinterließ,
Erinnerungen, die Sunja begraben hatte, weil sie ihr damals
fremd waren, und die nun wieder, exhumiert, auf ihrem Schoß
liegen, als der Wolf mit ihr spricht.
Sunja hält inne. Außer ihrem Atem hört sie nur den leichten
Regen, der gegen ihr Fenster klopft.
Sie schaut auf und sucht im Wohnzimmer nach der Stimme.
Doch da ist nichts, außer den alten Möbeln mit ihrem Geruch
nach Staub und Essig.
Stille.
Einbildung, denkt sie, Einbildung, wie so oft in diesen Räumen.
Sie will den Stapel weiter durchsehen, von dem obersten Foto
blickt ihre Mutter als junge Frau sie an, diese dürre Gestalt, der
sie nie ähnelte, nicht damals, nicht heute, daneben ein Baum, der
in dem Schwarzweiß des Bildes unscharf ist, aber vielleicht sieht
sie dort nur die Zeit auf dem Fotopapier wirken, denkt Sunja, auf
jeden Fall scheint es für sie so, als ob der Baum Federn statt
Früchte trüge. Mit dem Daumen strich sie bereits mehrmals über
die Stellen, nicht sicher, was sie damit bewirkt. (Nichts.)

Sie legt das Foto auf den Stapel neben sich, dreht es um, ihr sind
die Blicke der Toten unangenehm, und, über diesen Haufen an
Erinnerungen hinwegschreitend, steigt sie in das Revier des
Wolfs.

Sunja hält eine Postkarte in der Hand, eine billige Reproduktion
eines Gemäldes vom Anfang des 20. Jahrhunderts, so viel ist ihr
vom Studium der Kunstgeschichte geblieben, dass sie das
erkennt. Noch so eine Erinnerung, die Sunja vor langer Zeit
begrub. Auf der Karte das Rotkäppchen mit leuchtenden Wangen
und knubbeligen Fingern. Gehüllt in seinen Mantel, einen
verschlossenen Korb vor sich, füllt es fast die ganze Karte, hinter
sich nur der Wald, angedeutete Bäume, die Sunja kaum erkennt,
weil sie auch gar nicht hinschaut, nur Flecken im Hintergrund,
weil sie nur Augen für den Kopf hat, der da zu Füßen des
Rotkäppchens liegt.
Der Schädel, im Dunkel der Karte, in der letzten unteren Ecke,
halbverwest, die Ohren gespitzt, umrandet vom klumpigen Fell,
die Lefzen gebleckt, obwohl ja bereits tot, offensichtlich, denn der
Rest des Wolfs fehlt. Unter dem Kopf sammelt sich Blut, in der
Lache Flecken, die Sunja nicht genauer anschauen will. Maden
ziehen durch das Fell des Wolfkopfs, so viel sieht sie auf der Karte
noch, seine Augen bettelnd auf sie gerichtet. Und während Sunja
auf ihn starrt, nach Pinselstrichen sucht, blinzelt der Wolf mit
schweren Lidern.
Der Wolf erzählt Sunja, wie er einst nicht nur Kinder, sondern
ganze Dörfer verschlang, sein Maul weitaufgerissen, ein Hunger,
der kein Ende kannte, der vor der Sonne und dem Mond keinen
Halt machte, ein Vieh, das sich durch den Himmel und die Hölle
fraß, bevor es sich mit seinem fetten Bauch unter einen der
letzten Bäume legte, wo es im Schlaf ein Mädchen überraschte.
Ein Kind, das mit einem Stein den Bauch aufschlitzte, mit seinen
kalten Händen im Inneren wühlte und den Himmel und die

Hölle, Nieren und Leber, Dörfer und Menschen, Gedärme und
Milz herausriss und auf die mitternachtsschwarze Erde unter
dem Baum legte. All das erzählt der Wolf, während aus dem
Regen vor Sunjas Wohnung ein kaum hörbares Nieseln wird.
Und dann äußert der Wolf seine Bitte.
Sunja hört genau zu. Jedes Wort. Jede Silbe. Alles, was aus dem
verrottenden Maul kommt. Zuerst versteht sie nicht. Der Wolf
würgt kurz und Sunja fragt sich, ob ihm eine Made über die
Zunge in die Kehle kroch, aber was will so ein Kopf schon allein
gegen eine Made machen? Dann erinnert sich Sunja.
Sie erinnert sich an Thomasz, den Austauschstudenten, den
Mann, mit dem sie zum ersten Mal schlief, bei dem sie zum ersten
Mal an die Liebe glaubte. Die langen Nächte, in denen sie bei
einer Flasche Bordeaux in ihrer Studentenwohnung
zusammensaßen, die Gespräche über Gott und die Welt und wie
sie beide so darüber sprachen, als ginge sie nichts etwas an. Wie
Thomasz erzählte und sich dabei mit dem Daumennagel
zwischen den Zähnen kratzte.

Sie erinnert sich an einen Sommernachmittag mit ihren Eltern in
einer großen Stadt, in der ihr die Möglichkeiten endlos schienen,
obwohl sie erst elf Jahre alt war. Sunja sah in diesen Straßen die
Menschen, die lebten wie in den Serien im Fernsehen, Freunde,
Liebhaber, lange Abende in Bars und Restaurants, während an
einer Ecke jemand in seinem Erbrochenen saß.
Sie erinnert sich an ein Weihnachtsgedicht, das sie als Kind an
Heiligabend aufsagte, an ihr Stottern, obwohl nur ihre Eltern im
Wohnzimmer hockten, ihre Gesichter direkt vor ihr, und wie sie
nach der Bescherung am Tisch saßen und ihre Mutter die Haut
von der gebratenen Gans aß, weil dies der beste Teil des Vogels
sei.
Sie erinnert sich an einen Popsong, in dem es um verpasste
Entschuldigungen und zu Staub zerfallende Knochen geht, den sie so oft auf der Rückbank im Honda ihrer Eltern hörte,
während sie in den Sommerhimmel schaute und glaubte, dass sie
der Unendlichkeit nie näherkäme.
Sie erinnert sich an den Ohrfeige ihres Vaters, als er sie mit einer
Zigarette in ihrem Zimmer erwischte, danach rauchte sie nie
wieder.
Sie erinnert sich an die Hände ihres Vaters.
Sie erinnert sich an die leeren Augen ihrer Mutter, als sie im
Pflegeheim neben deren Bett stand, darin der Körper, der sie als
Kind so oft hielt.
Sie erinnert sich an die Tränen, während sie in ihrem Bett mit der
weißen Bettwäsche in dem weißen Raum lag, ihre Arme
bandagiert.
Sie erinnert sich an die brüchige Stimme ihres Bruders auf dem
Anrufbeantworter, der ihr erzählte, dass mit ihrem Vater etwas
passiert sei und sie unbedingt zurückrufen solle.
»Und?«, fragt der Wolf, der nach dem Würgen wieder zu Luft
kommt, obwohl ihm ja die Lunge fehlt. Sunja taucht auf. Sie
blickt dem Wolf in die Augen. Ihr Atem geht schnell, sie spürt
ihren Herzschlag im ganzen Körper. Sie nickt.
»So soll es sein.«
Sunja sitzt in der Küche. Ihre rechte Hand hat sie auf das
Holzbrett gelegt, in der linken Hand hält sie das Küchenmesser,
das, mit dem sie sonst das Geflügel für ihr Essen schneidet, aber
jetzt holt sie Luft und setzt das Messer an ihrem Handgelenk an.
Sie spürt die Kälte an ihrem Handgelenk. Das Messer liegt auf
ihrer Haut, zwischen Muttermalen und ersten Altersflecken.
Dann drückt sie zu.

Eine Klinge gleitet leicht.
Eine Klinge bewegt sich vor und zurück.
Eine Klinge trifft Hartes.
Eine Klinge schneidet durch das Harte. Mehrere Versuche.
Eine Klinge trifft wieder Hartes.
Eine Klinge gleitet, schneidet, sägt
Umständlich, schwer, aber sie sägt.
Mehr Kraft.
Mehr Rot. (So viel Rot, denkt Sunja.)
Dann gleitet die Klinge noch einmal kurz.
Durch.
Sunja laufen der Fleischsaft und das Blut über Kinn und die

verbliebene Hand, die ihr abgetrenntes Gegenstück hält, das
kaum noch zu erkennen ist, weil Sunja hungrig ist.
Den rechten Stumpf hat Sunja in ein Küchenhandtuch gewickelt
und notdürftig mit einem Gürtel abgebunden. Ihr läuft kalter
Schweiß über die Stirn, sie kann sich kaum auf dem Küchenstuhl
halten. Neben ihr der Stapel mit Postkarten und Briefen.
Ihr Blick verschwimmt.
Sunja rutscht vom Tisch ab, fegt den Stapel mit Briefen, Fotos
und Postkarten um, sie kann den Erinnerungen nicht mehr
folgen, sie kann nicht tiefer gehen, auf dem Boden alles ein

Haufen, der sie nicht mehr kümmert, alles Dinge, die ihr so egal,
so nichtig erscheinen, wenn sie an das schwarze Loch denkt, das
in ihr tobt, sich ausbreitet und alles mit sich nimmt, alle
Erinnerungen, alle Weihnachtsbäume, alle Liebe, alles Stottern,
alle Knochen, all den Tod, alles ins Dunkel mit sich reißt.

Vor dem Küchenfenster schiebt sich die Sonne durch die Wolken
und legt einen rostfarbenen Schleier auf die Welt. Zwischen
ihrem Stöhnen und den Schmerzen ist Sunja, als würde etwas
nahe ihres linken Ohres schmatzen.

Miriam Gil: Monster

Ich glaube nicht an Monster.
Als Teenager war ich selbst eines.

Ich fürchte mich nicht vor Dämonen
Doch manchmal lähmen mich meine eigenen.

Ich fürchte mich nicht in der Dunkelheit.
Doch manchmal
Betrete ich die leere Wohnung alleine und spät
Kuck ich schnell unters Bett und in alle Räume
Bevor ich mich hinlege.

Ich fürchte mich nicht vor Drachen
Doch geh ich alleine auf dunklen Straßen
Blick ich mich um.

Die Zeit verfliegt
Heute werden die Kinder meiner Freunde schon langsam zu kleinen Monstern.

Könnt ich doch nur die Zeit zurückdrehen
Dann ward ich selbst auch noch einmal zu einem

Würd aber schon vieles anders machen.
Mich anders verhalten.

Was soll`s.

Carsten Stephan: November

Gelbgrün schwärt an graue Ufer Tang,
Kalte Regen sprühen in das Meer.
Möwen müde kreischend um sich her
Bringen Fischer ein den letzten Fang.

Mit dem Wind erstirbt der Männer Sang,
Ihre Schritte sind landeinwärts schwer.
Dann ist wieder alles menschenleer,
Nebel äsen fern am Kiefernhang.

Und den Wandrer fasst ein Schauder an,
Seine Glieder sind schon lang ertaubt,
In die Züge gräbt sich Elegie.

Treibholz schlägt ihm jählings an den Spann,
Kormorane stürzen auf sein Haupt,
Im Gerölle sinkt er in die Knie.

Miriam Gil: Das Monster Zeit

Das größte Monster unserer Zeit ist die Vergänglichkeit – man sieht die Menschen um sich herum älter werden.
Diejenigen, die für einen einst immer stark fangen an schwach zu werden.
Um sich selbst sorgt man sich noch am wenigsten
Denn man hat ja Zeit.
Es wird nie genug Zeit geben mit denen deren Zeit schwindet.
Menschliche Beziehungen sind
Erstmal
Etwas Unendliches.
Der menschliche Geist ist nicht auf Abschied programmiert.
Noch nicht.
Und in manchen ganz innigen Fällen
Nie.
Die Zeit heilt keine Wunden.
Gesichter verschwimmen
Gerüche verblassen.
Die Wunden sie heilen nicht.
Wie kann ein Universum sterben
Und eine Welt bleibt.
Das Monster Zeit.
Es ist das Unvorstellbare
Und doch ist es nahe.

Theobald Fuchs: Schwimmende Erinnerung

1, ein Tag im Sommer, die beiden Grazien – wie hießen sie nochmal? Ilka und Ingrid, Anja und Anette, Sabine und Sonja? -, zwei ganz unterschiedliche, frische Jungmädchen in schwarzen, nass glänzenden Badeanzügen, die eine noch flach wie ein Junge, die andere schon mit wogendem blonden Walkürebusen. So paddelten sie am Beckenrand, schauten hoch zu den horny boys, wohl wissend, dass sie Lichtjahre voraus waren in jedem Aspekt der Geschlechtlichkeit. Wie weiß doch ihre Haut war, damals, dass man meinen möchte, es habe in jenen Sommern die Sonne nie geschienen. Als wäre schon damals der Himmel über den nackten Leibern und den saftigen grünen Wiesen verdunkelt gewesen von den atomaren Wolken, deren Eintreffen wir tagtäglich aus dem Osten erwarteten, wo das Reich des Bösen unser Leben bedrohte. Als wären unsere Alpträume von der nuklearen Apokalypse nur Erinnerungen gewesen und wir hätten uns arrangiert mit allem, dem Tod, der Traurigkeit, den vergeblichen Mühen, indem wir uns außerhalb des Schwimmbades in schwarze Klamotten hüllten und uns heftig betranken so oft wir alle zusammen und ein jedes für sich einsam waren. Tanzend betranken, nie ohne die Bierflasche in der rechten Hand, mit der linken die Gitarren in den Lautsprechern dirigierend, ein Bein nach vorne, eines fest im Springerstiefel am Boden, so tanzten wir, vor und zurück, vor und zurück, jeder für sich. Und am folgenden lichtlosen Tag wieder die Begegnungen unter der nicht existierenden Sonne, am Schwimmerbecken, und auch unsere Badeklamotten waren schwarz, traumschwarze Hosen, Bikinis, Badeanzüge. Schlappen besaß noch niemand, nur die Handtücher – jeder ein anderes, ein persönliches Exemplar, und es gab keinen traurigeren Anblick als die auf die Wiese unregelmäßig hingeworfenen bunten Streifen Frottee, nichts zeigte mehr unsere absolute Hoffnungslosigkeit.

2, der Stern unseres Lebens war in rot auf eine Rakete gemalt, die vor Sonnenaufgang aus der unendlich-unerforschlichen Gegend heranflog, welche irgendwo hinter der Oberpfalz lag. Da wo sich die Amerikaner regelmäßig tage- oder wochenlang mit ihren Panzern und Kanonen austobten. Unser einziges Ziel war, die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bekommen. Endzeitschauder, nukleare Holocaust-Sehnsucht, Verliebtheitsmassensterben, Atomblitzlust, letzte Liebe im Hitzehagel. Ab ins Bad mit der Dauerkarte für die frischen Hormone. Wozu noch abwarten, dachten wir, wir fühlten uns doch eh schon so durchsichtig, als stünden wir in einer Strahlung, die uns an die Wand des Sanitärkomplexes projizierte. Der helle Tag hatte nicht die geringste Chance, das Dunkel aus unseren Köpfen zu vertreiben, aber unsere Herzen glühten, so wie das Wasser, die Luft, das Gras, die Vögel. Nichts ist trauriger als jung zu sein und schöner zugleich.

3, kalte, feuchte Haut, der Geruch nach Chlor, die feinen, beinahe durchsichtigen Härchen auf dem Unterarm, die sich aufstellten, wenn der Wind einen kriegskalten Gruß aus dem Osten schickte. Doch wie war es umgekehrt? Wie dachten sie, die da im Wasser plantschten und die wir anhimmelten, ohne es zu zeigen, wodurch wir uns natürlich noch viel mehr offenbarten, denn unsere vorgespielte Selbstsicherheit und unsere aus dem Fernsehen übernommene Arroganz waren so leicht durchschaubar wie das blassblaue Wasser, durch das sich Linien und Kanten schlängelten, wenn die Schimmer heftig aus roten Mündern prustend ihre Bahnen zogen? Vielleicht war es ganz anders und umgekehrt, und wir waren die letzte Hoffnung der Jungmädchen? Was natürlich fast ebenso traurig gewesen wäre wie überhaupt keine Hoffnung zu haben. Ohne Zweifel: jeder von uns hätte es am Ende dann doch sein können, der Gefährte, die starke Schulter, der verlässliche Partner – wenn uns nur jemand einmal verraten hätte, dass auch wir dazu in der Lage waren, tatsächlich. Was wie Selbstliebe daherkam und mit durchgedrücktem Rücken unendlich lässig am Beckenrand schlenderte oder sich gegenseitig begleitet vom unvermeidbaren stimmbrüchigen Kreischen zwischen die fluchenden Schwimmer ins Wasser schubste, war alles andere als das. Wir waren freilich nur mit uns selbst beschäftigt, hatten nicht die geringste Idee, wie man sich in die Träume von Jungmädchen hineinverliebt, selbst wenn wir es gewollt hätten, um zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu sprechen. Oder die falschen unausgesprochen wieder hinunter zu schlucken, ein Mund voll Chlorwasser schmeckte widerlicher.

4, wir waren unfähig, das Gegenüber zu erkennen, aber das lag an der unbeschreiblichen Überlastung, die es bedeutete, hier und jetzt in dieser Gestalt unter dieser Sonne an diesem Becken bei diesen Jungmädchen in diesen schwarzen Badeanzügen mit diesen gelben Locken und jenen geschmeidigen Fingern zu stehen, mit denen ein paar elegante Tropfen Chlorwasser am Hals und im Nacken verrieben wurden, so dass die buschigen Haare in der Achselhöhle einen Blick nach draußen warfen und auf einen selbst deuteten. Es war nicht haargenau so, dass wir sie enttäuschten, und sie uns, aber nahe daran kam dieses Gefühl schon, das wir erst Jahre und Jahrzehnte später in uns entdeckten, wie eine hinter dem Sofa verlorene staubige Salzstange, das Relikt einer Geburtstagsparty vor 1000 Leben. Wie komisch: wir spürten nicht die Zeit, die verlief, keiner von uns könnte sagen, wie lange damals ein Sommer dauerte – drei Monaten, fünfzehn Monate, fünf Jahre, eine ganze Schulzeit lang –, wie viele Sommer an sich es waren, wie viele Stunden, Tage, Wochen wir am Beckenrand standen und mit den Jungmädchen Blicke tauschten, weil nichts, worüber wir sprechen wollten, sich in Worte fassen ließ, und abgelenkt von der eigenen Ungelenkigkeit flutschten uns die Gefühle aus den Händen wie Fische, die dem Fänger entwischen und wieder eintauchen in das Wasser ohne Tiefe, in dem alles versinkt, die jungen Sommer, die nassen straffen Körper, kühl und fest, unsere lächerlichen Tänze und Handtücher, die Zeit der vergessenen Hoffnung. Und wer weiß, vielleicht ist der letzte Schmerz, den wir empfinden werden, die Trauer darüber, dass am Ende die Welt doch nicht unterging. Wie schön wäre es doch gewesen, jung und kraftvoll und in schwarzen Klamotten in den Tod zu tanzen.

Miriam Gil: Das Monster und der Froschkönig

Am Wasser fühl ich mich wohl und frei und geborgen.
An Seen und Flüssen will ich sein.
Dort fühl ich mich wohl und sorgenfrei.

Naja was heißt schon ganz ohne Sorgen?!

An Brunnen bleib ich gerne stehen und betrachte die schimmernden Cent Stücke, welche Passanten in Hoffnung auf das große Glück im Wasser versenkten.

Ich mag es, wenn Wasserfälle platschen – in Matschpfützen und Regenwasser mit meinen Gummischuhen auf dem Weg zum Briefkasten patschen

Auch Tiere und Pflanzen am Wasser liebe ich sehr
Trauerweiden sind meine Lieblingsbäume sie streicheln mich mit ihren Ästen behutsam
Sitze ich an ihren Füßen und hab es gerade ganz unfassbar schwer.

Frösche quaken und Mücken schwirren
Wie kann man sich in solch einer Umgebung schon richtig irren?
Das Wasser ist klar
Gedanken sind es auch

Ebenso wird die Welt unter Wasser ganz anders wahr:
Sirenen und Piraten
Fische bunt – groß – die sonderbarsten und schönsten verschiedenen Arten!

Doch quälen mich Monster und gar Dämonen
Will es erzählen und Niemand verschonen.
Erblick ich einen Abgrund er zieht mich an
Seh ich tiefes Wasser will ich reinspringen obwohl ich doch gar nicht gut schwimmen kann.

Will oft in meinem schwarzen Schatten verschwimmen der sich beim Schwimmen ganz unter mir auftut

Es gibt Piranhas in Seen also seid auf der Hut.

Das Monster bin ich und ja das ist ganz klar
Der Froschkönig spielt unten am Seegrund die Mundharmonika
Aus Langeweile und Trott spielt er immer das selbe traurige Lied

Die Muscheln sie speien Perlen und singen dazu folgendes Lied:

„All of your demons will wither away
Ecstasy comes and they cannot stay
You′ll understand when you come my way
Coz all of my demons have withered away

All of your demons will wither away
Ecstasy comes and they cannot stay
You’ll understand when you come my way
Coz all of my demons have withered away
All of my demons have withered away“

Ihr Dämonen verschwindet ich mag euch nicht mehr

Ich bin und bleibe stärker – ich bin euer Herr.

Liedtext Ausschnitt Fatboy Slim „Demons“ (ft. Macy Gray)

Jörg Hilse: Werwolf

Es hauste ein Werwolf
im Stadtwald bei Nied.
den drückte der Weltschmerz
ganz schwer aufs Gemüt.
Laut Heulen bei Mondschein wurd ihm zur Qual
Sein Rudelchef meinte
er wär nicht mehr normal .
Und Hausarzt Dr. Wolfssohn
sprach, Ab ins Spital.

Drin lernte der Werwolf
um zu genesen,
Statt immer Netflix zu glotzen
viel mehr zu lesen.
Und er entdeckte, man weiß nicht mehr wie,
Heinz Erhardts Gedichte als Lachtherapie.
Die Wirkung der Verse war kaum zu fassen.
Schnell wurde der Werwolf wieder entlassen.

Das Rudel staunte, Du bist ja fröhlich wie nie.
Wie hieß denn die Wundertherapie?
Und unser Werwolf grinste ganz breit.
Das war kein Wunder, bloß Achtsamkeit.

Carsten Stephan: Eichendorff auf Abwegen

Wenn Blüten stille träumen
Im sanften Mondenschein,
Kann ich nicht länger säumen,
Ich wetz das Messerlein.

Im Lenze muss ich reisen
Wohl jede Nacht aufs Neu.
Manch Lieb lauscht meinen Weisen,
Noch jede blieb mir treu.

Des Tages Sorgen schwinden,
Von Nachtigallen schallt’s.
Beglückt schneid ich in Rinden
Und in den zarten Hals.

Durch sternbeglänzte Auen
Zum steilen Fels hinan!
Von drunten Äuglein schauen
Mich endlich selig an.

Wird sich Aurora heben,
Summt goldengrün es just.
So pflanzt der Frühling Leben
In jede müde Brust.

Philip Krömer: Gute Zeiten für Baba Jaga


Freitagabend, wenn andere noch im Berufsverkehr feststecken, stapft ihr Haus, unbehelligt von Ampeln und Staus, querfeldein bergan. Auf meterhohen Hühnerbeinen ist es unterwegs. Baba Jaga, die Hexe, wohnt hinten im Meilwald, weil die Bäume da so schön hoch wachsen, dass der Giebel ihres Hauses nie über die Wipfel spitzt, selbst wenn es aufrecht steht. Und weil es zwischen den Stämmen immer dämmert.
Dort im Halbdunkel geht ihr bisweilen ein unvorsichtiger Spaziergänger in die Falle. Der landet im Kochtopf, sie ist eine Hexe, was kann sie dafür? Seit sie in der Walpurgisnacht mit dem Leibhaftigen Unzucht trieb (Hand aufs Herz, ein schöner Mann ist das, den von der Bettkante zu stoßen, dazu hätte es größter Selbstbeherrschung bedurft) schmecken ihr weder Schäuferle noch Kloß. Mensch muss es sein. Und die Erlanger sind, weil entspannt und gepflegt (dieses Durchschnittseinkommen!), einfach am zartesten. Die kann sie nur empfehlen.
Wenn es dann aufs Wochenende zugeht, unternimmt sie einen ihrer Jagdausflüge den Burgberg hinauf. Sie pflanzt ihr wandelndes Haus oben in den Garten einer Villa. Dort steht es und leuchtet rot aus den Fenstern, bis der Villenbewohner, der vielleicht geerbt oder einen hochdotierten Posten innehat, um sich die Wohnlage leisten zu können (diese Quadratmeterpreise!), den Flackerschein bemerkt und nachsehen geht. Er nähert sich, einen Golfschläger als Prügel erhoben, der seltsamen Hütte. Hat seine Frau, während er im Büro war, flugs ein Gartenhaus aufstellen lassen? Sie monierte, dass sie eines bräuchten. Aber warum bloß hat sie sich für dieses Modell entschieden, das schon jetzt morsch aussieht?
Nun schwingt die Tür auf und, leger im Rahmen lehnend, erwartet ihn ein Schemen. „Wer da?“, ruft der Bewohner. Gegen das aus dem Inneren fallende Licht sind keine Details erkennbar. „Maria?“ Denn so heißt seine Angetraute. Eine Antwort bekommt er nicht. Dafür schlägt beim Nachbarn ein Hund an. Und der Mond scheint hell.
Maria hat auch gar nichts mit dem Häuschen zu schaffen, sie kommt selbst spät vom Pilates und findet keine Spur von ihrem Mann, obwohl sein Auto im Carport steht. „Heiner?“, ruft sie. Doch der Heiner schwimmt, sauber aufgebrochen, zerteilt und filetiert, in Baba Jagas Kochtopf. Die Brühe schwappt wild, während das Haus auf hohen Beinen den Hang wieder hinabsteigt und heimkehrt in den Meilwald.
Tags darauf schnappt sich die Hexe einen ausgebüxten Hund, den kocht sie mit, für die Würze. Oder einen Mountainbiker, der sportlicher aussieht, als er schmeckt. Selten, in besonders nebligen Nächten, befiehlt Baba Jaga ihrem Haus, bis runter in die Innenstadt zu wandern, der knackigen Studenten wegen, die fast alle hier unten wohnen und kaum einer am Berg (diese Mieten!).
Einer von ihnen macht sich etwa als letzter einer Gruppe Feierwütiger vor Trunkenheit stolpernd auf den Heimweg. Er sieht Baba Jagas Haus zwischen zwei Altbauten hocken, wo sich eigentlich eine Hinterhofeinfahrt befinden sollte. In diesem Viertel kennt er sich nicht so gut aus. Das Unerhörte der Situation entgeht ihm. Er glaubt, hinter den rot erleuchteten Fenstern erwarteten ihn weitere nächtliche Zecher, eine WG-Party vielleicht, zu der man auch ungeladen auftauchen kann. Seit dem folgenden Morgen wird er vermisst.
Ihre Nase ist warzenbesetzt, ihr Hut ist spitz. Ihre Kräfte sind ungeheuerlich, ihr Hunger ist schier unermesslich. Zwischendurch lässt sie ihr laufendes Haus auf einem Hänger platznehmen, spannt einen betagten Geländewagen davor und zieht es auf den Schlossplatz. Dort verkauft sie aus dem Fenster heraus Konserven. Ein Zauber verbirgt das Hexenhafte in ihrem Gesicht, damit niemand Verdacht schöpft. Der Hut hängt am Ständer. Auf den Dosen steht „Hausmacherwurst“ und „Frühstücksfleisch“ und „Leberaufstrich“. Darin ist aber ein Fußgänger, ein Hund, ein Mountainbiker, ein Student und der Heiner. Entbeint und gesotten. Für eine Baba Jaga allein ist die Ausbeute eh zu üppig, egal wie groß ihr Hunger ist.
Indem sie den Erlangern die eigenen Mitbürger zu Fraß vorsetzt, zeigt sie sich dem Leibhaftigen als fleißige Adeptin des Bösen, dem sie sich verschrieben hat. Und die Erlanger greifen gerne zu. Wo sie doch so zart sind, so unendlich zart.