Christine Wiesel: Kurzschluss

Du machst Schluss sagt die Morgenluft oder die Wienerluft,
die den Prater mit der wilden Maus
von Hader und Braunschlag zugleich betupft.

So hüpft die Luft langsam zum Autobahnbegrenzungsdutt und sagt matt:
ich habe Durst meine liebe Lust.

Bleib mir vom Hals du alte Musch,
hole mir jetzt einen anderen Duft.

Andreas Lugauer: Die Zerstörung der Martin Suter’schen Twitterlyrik

Wer einmal wirklich ~grauenvolle~ Lyrik lesen will, besuche den Twitter-Account des Schweizer Schriftstellers Martin Suter: twitter.com/martinsutercom. Suter, dem Publikum in erster Linie bekannt als Romancier, nicht aber als Lyriker, twittert dort ausschließlich und fast täglich Gedichte. Dies jedoch allem Anschein nach ohne besondere Qualitätsansprüche.

Nach ein wenig Durchgescrolle frage ich mich ernsthaft, ob Suter seine ›Gedichte‹ voller dichterischer Selbstüberzeugung twittert, oder ob ich einen oder gar mehrere Ironielayer nicht gette. Ein erstes Beispiel:

»Die US Präsidentenwahl
Hat der Welt den Nerv getötet.
Sogar der Mond ist vom Skandal
Deutlich sichtbar leicht errötet.«

Gemeint ist in diesem Gedicht vom 21. Januar 2019 der an diesem Datum aufgrund einer totalen Sonnenfinsternis rot erscheinende, sogenannte »Blutmond«. Dass der Mond mit dem Erröten fast genau zwei Jahre zu spät dran ist – Trump wurde am 20.01.2017 inauguriert – und dass sich seit Trumps Amtseinführung vier weitere Mondfinsternisse ergeben haben, ja mei, was soll’s, wenn’s uns halt grad so ein schönes Gedichtlein zum Twittern hergibt.

Zumal Suter ja jeden Mondschmarrn zu verarbeiten scheint, noch so einen, der monatlich auftritt wie etwa ein fast (!) voller Mond: Ich zitiere:

»Eine stille Winternacht,
Die Welt wie unbewohnt.
Und über diese Stille wacht
Ein fast voller Mond.«

Gehen wir einmal davon aus, dass es ihm ernst ist mit seinen ›Gedichten‹: Dann handelt sich nicht nur um Banalitäten ersten Ranges, die nur aufgrund der Reimwörter aneinandergeleimt werden können, sondern, was noch vorher wehtut, um Gedichte, die mindestens in jedem dritten Vers derart holpern, wie man es allerhöchstens Onkel Erwin bei Gelegenheitsgedichten zum Geburtstag oder ähnlichem nachsehen würde; zumindest dann, wenn man schon vier Bier getrunken hat. Ich zitiere Suter vom 19. Januar dieses Jahres:

»Ich bin auf einem weissen Berg.
So hoch liegt überall der Schnee,
Dass ich gar nicht darüber seh.
Bin wieder wie als Kind ein Zwerg.«

Martin Suter also, hoch oben aufm Berg, noch höher nur der Schnee, der ihn ringsum überragt, so dass er nicht mehr »darüber« sieht (der dritte Vers passt wieder nicht, quod erat demonstrandum). Wahrscheinlich hat ihm jemand eine Schneise durch die Schneemassen geschaufelt, durch die er jetzt durchlatscht. Weil wenn der Herr Dichter auf dem meterhoch eingeschneiten Berg umherwandeln will, soll er das natürlich tun können müssen. Wo kämen wir schließlich hin, wenn er, wie jeder andere Mensch auch, einfach vernünftigerweise im Tal bleiben müsste. Was, wenn ihm eine Winterwanderung wie diejenige Goethes auf den Brocken im Harz verwehrt bliebe, aus der immerhin dessen Gedicht »Harzreise im Winter« hervorging, das Goethes Dichterruhm ja wohl nunmal endgültig besiegelte? Nein, das kann niemand wollen, und deswegen schicken wir die Schneekatze hoch, metertiefe Schneisen zu pflügen. Und dass Suter sich darin dann fühlt nicht wie ein Halbgott, sondern wieder zwergenhaft wie ein Kind (richtig wäre hier: Kleinkind), damit muss er entweder selber klarkommen, oder er dreht selbst das noch ins Poetische rüber.
Anderntweets macht er sich manchmal Sorgen:

»Wenn wir uns bereits am Morgen
Schon auf den Abend freuen,
Mache ich mir manchmal Sorgen,
Dass wir es einst bereuen.
Denn viel länger wirkt das Leben,
Wenn wir von dem dazwischen,
Uns ein wenig Mühe geben,
Auch etwas zu erwischen.«

Von der grauenvoll stümperhaften Form abgesehen: Da macht er sich also manchmal, während er sich am Morgen so richtig schön auf den Abend freut, Sorgen, eben dies irgendwann mal zu bereuen. Freilich macht er sich dabei nicht immer Sorgen, oder hört gar einfach auf, sich am Morgen auf den Abend zu freuen. Denn so tief scheint die ›Erkenntnis‹ nicht zu rühren, dass das Leben »viel länger wirkt« (?!), wenn er sich den ganzen Tag über, von morgens bis abends, nur »ein wenig Mühe« gibt, »etwas« davon »zu erwischen«, dass es ihn beim Sich-Sorgen-Machen immer aus der Sorgenbahn trägt oder er es halt gleich ganz bleiben lässt und stattdessen versucht, was vom Leben – das sich verhuschelt-wuzelig zu entziehen scheint wie ein Eichhörnchen – zu erwischen.

Und worauf freut er sich eigentlich, unser Herr Dichter? Auf den Flug der Minerva etwa, die diesen laut Hegel bekanntlich erst abends startet? Ohne die Antwort apodiktisch vorwegnehmen zu wollen, stelle ich sachte zur Diskussion: Wohl kaum.
Jetzt mag natürlich jemand einwenden: »Freilich, hier mords rumkritisieren, aber selber wieder keinen geraden Vers zusammendichten können!« Dieser Vorwurf wäre zwar Quatsch, aber dennoch stehe ich nicht an, hier meine kleine Martin-Suter-Huldigung vorzutragen:

Lieber Martin Suter,
Hör bitte auf zu dichten,
Denn du bist kein Guter.
Es reicht halt nicht mit Reimen
Zeilen zusammenzuleimen.
Und von den Metren zum Beispiel
– Hier passt was mit Freistiel! –
Beherrscht du nicht mal die schlichten. [das reimt jetzt auf »dichten« im zweiten Vers!]
Drum sage bitte »auf Wiederschaun«,
Und produziere nicht mehr so einen Schaum.
Vielen Dank!
Dein Andreank

Pauline Füg: zwei morgen wach

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Seit der Sommer begonnen hatte, wohnten wir weiter draußen.
Vania trat in die Pedale, ich zögerte noch, wir sagten nichts.

Manchmal wichen wir ein paar Enten aus, ich legte mich immer falsch in die Kurve. Der Schotter wurde Schlamm und wir schlitterten durch engbezaunte Gassen, in denen sogar Dreirad fahren verboten war.

Mir fiel ein, dass man seine Kleidung im Dschungel nicht waschen soll, sie trocknet dann nicht mehr, wegen der Luftfeuchtigkeit, weißt du.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Jetzt waren wir schon so weit gekommen, raus aus den hohen Häusern, wir wohnten seit Wochen in einer seltsamen Art von Stille, aber ich war so wach und ich wollte so viel sehen und ich wusste nicht wo und wie.

Ich hatte schon geglaubt, die Zeit der Lampions war vorbei. Aber im einzigen ärmlichen Kastanienbaum hingen Lichter und ich konnte nicht wegsehen.

Ich konnte nicht wegsehen und suchte nach Fremden, die ebenso wach und irritiert waren wie ich.

Es wurde dunkel, die Belichtungszeit hatte sich verlängert.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Vania stieß mich an und ich schreckte auf, es erinnerte mich an unser Zucken beim Ton des Weckers, die Zeit, in der wir versucht hatten, uns einen Rhythmus anzugewöhnen, der uns bewerbungschreibentauglich und arbeitsmarktfähig machte.

Ich schloss beim Blinzeln das Lid länger als nötig und dachte daran, dass überall auf dem Mount Everest tote Bergsteiger lagen, an denen man vorbei muss auf dem Weg nach oben, die Ötzis von später, und man würde fast dankbar sein, dass es so teuer ist heutzutage, die Verunglückten zu bergen aus solcher Höhe. Aber das hat nichts mit irgendetwas zu tun, deswegen vergaß ich es die meiste Zeit.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

zwei nächte wach und kein dazwischen
wir sind ja anfangs noch gerannt
ich wollte wach, ich wollte weg sein
ich wollte weg und ging verlorn.

Ich wollte so viel nicht hören, ich wollte nichts hören von Sätzen, die ich nicht glauben konnte, weil sie von Fremden gesprochen wurden, die nur halb so irritiert und wach waren, wie ich.

Wir schliefen und am nächsten Morgen wusste ich, wir hatten von nichts geträumt.

Vania starrte auf die braune Fadentapete, sie sagte: „Ein Brief kam von der Stadt. Übernächste Woche müssen wir raus.“

Ich nickte.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und ich blieb doch an einem ort

zwei nächte wach und kein dazwischen
wir sind ja anfangs noch gerannt
ich wollte wach, du wolltest weg sein
du wolltest weg und gingst verlorn.
ich blieb und sah dir lange nach

in dem moment
verschwand die richtung
ich lag danach noch lange wach


Christine Wiesel: Auflösung in der Nacht

Kontaktlos verbringen wir die Zeit
Raum bleibt molekularlos
Galaktische Körper schwirren umher.
Blockaden im Kopf
das Herz im Asphalt
wird wortlos umverteilt


Sprecherin: Selina Früchtl

Frau Lärm: Ihr sagt

Ihr sagt,
das ist doch ganz einfach.
Die schaffen es nicht,
weil sie persönliche Probleme haben.
Da muss man einfach an sich arbeiten.
Alle haben schließlich die gleichen Chancen.
Die Plattformen sind da.
Die versuchen es nur nicht genug,
haben kein Herzblut investiert.
Es wäre schön, wenn das selbstverständlich wäre
und wir darüber nicht reden müssten.
Ihr sagt das,
weil euch nie Steine in den Weg gelegt worden sind,
weil ihr alle Privilegien, alle Unterstützung und
alle Macht habt, diese zu behalten.
Weil ihr nicht in andere Schuhe schlüpfen könnt.
Oder warum?

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen V – Der Kloß

Oh, güldengelbe Seele vom Potack,
aus Bulwens Leib geborenes Gezier,
von Erdenäpfeln bestgeratner Erb,
Die Götter lachten und es strahlte schier
der Himmel, als Bramburo dich gebar.
Schneeweiß liegst du auf unsern Tellern hier
wie Alabaster oder Marmor gleich.
Oh, feisteste der Speisen, sieh dich an!
Gibt es ein Ding auf Koches weiter Flur,
das Rundungen so reizvoll hat wie du?
Wie Meißners Porzellan, so schön und pur
liegst du wie Aphrodite in der Schal.
Noch nicht wie sie, oh unschenante Hur,
gehst schwanger du, mit Brot in deinem Leib.
Wir blicken deine Rundung an und nur
der Anstand hält uns fern, dass gierig wir
dich händisch in den Schlund uns stopfen rein.
Derweil saust uns das Blut aus Kopf und Hirn
und kindlich-reine Freude ins Gebein.
Du brandest unsre darbend Kehlen an,
die Lippen kräuseln sanft sich um das Dein.
Die Zunge, sorgenschwer benetzt dich gut,
der Zahn dringt ohn Erbarmen in dich ein
der eisge Speichel netzt dein weißes Fleisch.
Die Speiseröhr, die derbe, drückt dich klein.
Du wartest bis man Zutritt dir gewährt,
gemessnen Schrittes gehst du alls hinein.
Der Magen schließlich haucht dein Leben aus.
Du lässt es tapfer, ohne Kummer, zu
und schenkst dich her, du selbstlos nobler Schmaus.
Dein Opferwill bald größer als sichs ziemt:
„Oh, Heiland!“, rief so mancher schwärmend aus,
weil Leben und Erquickung du ihm gabst.
Augapf der Götter, schön bist du und gut.
Du schützest uns vor Pommesfritzens Harm.
Schon Omas von gebrechlichstem Gebein,
dich bargen unter ihrem weichen Arm.
Wes Vater mahnte nicht vor Schmerz durch Reis?
Wes Mutter schlug bei Nudeln nicht Alarm?
Oh, Kloß, du lieber, sakrosankter Glob,
Wir danken dir.
Vom Teller bis zum Darm.

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen I – Lied an die Leimfliegenfalle

Du Todesleimgespinst, wie filigran,
hängst du doch an der Küchendecke dran.
Als Pendel des Verderbens und der Qual,
dem flatternden Gefleuche ein Fanal,
drehst Du Dich in des Fensters engen Spalts
und wer Dich kennt, der weiß: schon bald verhallt’s,
der freudig schwirrend Mücken heitres Spiel.
Den argen Kleister intressiert nicht viel,
nicht Fliege oder Wespe oder Gnu,
ein Jedes führt er seinem Schöpfer zu
bis eine Fibonacci-Locke hängt,
ganz dicht an dicht mit Opfern vollgedrängt.
Vereinzelt zucken Beine von Getier.
Vivat! Oh Klebedings, wir danken Dir!

Andii Weber: Frühlingssonntag an der Wertach

Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Du bist Frau und ich bin Mann
Oh Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Loch in den Rippen: Druckverband

Ein Sonntag am Fluß als der Herrgott noch schlief
Anarchie!
die Bäume so hoch und das Wasser so tief
Anarchie!
Es lag so ein komischer Duft in der Luft
Anarchie!
Du nahmst dir die Frucht, hast den Garten verflucht
Anarchie!
Das einzige, das uns je verboten war
Anarchie
der Garten, der Apfel, der Mittelfingah

Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Du bist Frau und ich bin Mann
Oh Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Loch in den Rippen: Druckverband

Sieh nicht hin,  ich bin errigiert
Anarchie
Doch um regeln hast du dich niemals geschert
Anarchie
Nach kurzem Erröten gestand ich mir ein
Anarchie
Das ganze wird unser Verderben sein
Anarchie
Wir erkannten uns mehrfach und lachten dabei
Anarchie
Die Freiheit war groß, der Sonntag war geil!

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen VI – Das Bier

Du köstliches Gepansch, oh, Gerstendunst,
Hältst fern von uns Verderben, Not und Pein.
Stehst gülden-braun im Glas, wie hingebrunst.
Du höchstes Gut der Welt und Sonnenschein.
Du prickelst, sprudelst, knallst wie ein Vulkan
Schmeckst herrlich auch Schnaps und Zigarett
Und brandest unsre kargen Kehlen an.
Du machst uns hunderttausend Sorgen wett.
Ergebenster Gefährt in bittrer Not
Und ewig unser allerbester Freund,
Wenn Finsternis ihn zu ersticken droht,
Hat jedermann noch stets von dir geträumt.
Wie Bernstein schmückst du unsres Tresens Kron.
Du funkelst wie der allerbraunste Stern.
Machst uns zu Helden, hebst uns auf den Thron.
Zefix, du Bierschatz, wir haben dich gern.
Was wärn wir ohne den umarmend Trost,
Den täglich du uns offenherzig leihst?
Weil du uns unsre Blödigkeit verzeihst,
Drum, Bier, auf dich, auf Ewigkeiten: Prost!

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen II – Ode an den Gartenzwerg (lang und kurz)

Lang:

Oh, der du da den Garten uns behütest,
Magnolien, die Gurken und den Kohl.
Wie häufig hat Frau Mieze hier geschmutzt,
die schauerliche Wachtel gar gebrütet
und dennoch hältst du Wache, brav und wohl
von dir wird jeglicher Gefahr getrutzt.
Am Rande der Rabatten ist dein Hafen,
mit klarem Aug und apfelroten Backen
bewachst du alle Früchte, wenn sie schlafen.
Für Bohnen und für hilflose Tomaten
den Kürbis gar, die adipöse Beer,
setzt du dich ein mit blutdürstigem Spaten.
Wie häufig kam Herr Teckel her, zu kacken
und ohrenwehend floh davon nunmehr?
Du hältst den Buckel hin für Rübe oder Blüte.
Als treuster deiner Freunde liegt voll Schwere
dein Bart, der deinen Wanst so sanft umdeckt
wie tausend wollne Decken bester Güte.
Hast Krieg getrotzt und Nachbars giftger Schere,
die alle Tage mordlustig er streckt.
Das Rot von reifen Kirschen schmückts Barett,
trotzt Regenwetter, Hunden oder Bären
und ist wie durch ein Wunder noch komplett.
Wenn, abgestraft vom Chefe heim wir kehren
und sehnen die Geborgenheit, die warme,
stehst freilich wieder du vor unsrer Tür.
Dann schließt du uns in deine kalten Arme
und küsst uns auf die Stirn, werweißwofür.
Stehst auch noch hundertzwanzig Jahre hier.
Oh, lieber Gartenzwerg, wir danken dir!
 

Kurz:

Ein Männlein steht vor meines Hauses Flor,
es trägt ein Mützlein, ganz aus rotem Gips,
es schwingt sein Säckchen, was wohl hat es vor?
Ich denk, es will mich töten mit 1 Schnips.